Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Das weitgehende Ende der militärischen Kampfhandlungen im mehr als einmonatigen Krieges der Kolonialmacht Israel gegen die Hisbollah und den Libanon insgesamt (bei gleichzeitiger Fortsetzung des intensivierten israelischen Staatsterrorismus gegen die Palästinenser im Gaza-Streifen und im Westjordanland) nutzte die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ zu einem am 15.8.2006 erschienenen, Interview mit dem Veteranen der israelischen radikalen Linken und Co-Direktor des (binationalen) Jerusalemer Alternative Information Center (AIC – www.alternativenews.org), Michael Warschawski. Darin geht es noch nicht um die konkreten politischen und militärischen Ergebnisse dieses Feldzuges, sondern um seine Sicht der Gesamtlage und der grundlegenden Entwicklungsrichtung. Wobei er u.a. zu einer Analyse der Hamas und Hisbollah gelangt, die vielen „Äquidistanz“-Strategen in der hiesigen Linken schwer im Magen liegen wird.
„In Israel findet eine Gegenreform statt“. Es spricht der israelische Intellektuelle Michael Warschawski.
Der Friede hat verloren. Ich erkläre Euch warum.
„Man scheint einer Umkehrung der Werte beizuwohnen: Das laizistische Lager stürzt sich in den Fanatismus und das religiöse tut alles, um keine konfessionellen Diskurse zu verbreiten.“ – „Israel ist eine Villa im Herzen des Dschungels“, sagte vor einigen Jahren <Ex-Avoda-Ministerpräsident> Ehud Barak. Und kann man mit dem Dschungel Beziehungen unterhalten? Das ist die Leitlinie der israelischen Politik.
GERALDINA COLOTTI
Wir erreichen den politischen Analytiker Michael Warschawski (57), einen der wichtigsten Vertreter der israelischen radikalen Linken, in Jerusalem.
Sie gehörten zu den ersten Israelis, die sich weigerten, außerhalb der Grenzen Militärdienst zu leisten und waren deshalb, während des Libanonkrieges von 1982 mehrmals im Gefängnis. Wie sieht Ihre Analyse heute aus?
„Man kann diesen Aggressionskrieg gegen den Libanon und auch das verbissene Vorgehen gegen die Palästinenser (insbesondere in Gaza) außerhalb des Kontextes des von den Neokonservativen in Washington erfundenen präventiven und permanenten Krieges im Weltmaßstab, den sich Tel Aviv zu eigen gemacht hat, nicht verstehen. Das Ziel lautet die nordamerikanische Hegemonie in der Region auf Kosten von Regimen wie Syrien und Iran und politischen Massenorganisationen wie Hamas und Hisbollah, die als terroristisch identifiziert werden, durchzusetzen. Dieser Krieg war aber auch ein Laboratorium in strategischer und taktischer Hinsicht und ein Experimentierfeld für Waffen, die Israel in den letzten Jahren von Washington erhalten hat. Auch unbekannten Waffen, wie wir u.a. durch ‚il manifesto‘ erfahren haben.“
`82 gab es in Israel eine starke Oppositionsbewegung gegen den Krieg. Wie sieht die Situation hingegen heute aus?
„Auch heute ist die Anti-Kriegs-Bewegung aktiv, stellt aber leider eine Minderheit dar. Es gelingt ihr nicht die Hegemonie auszuüben. Maximal mobilisiert sie 5-.6000 Leute. In ihrem Innern gibt es linke oder extrem linke Kräfte. Die Mehrheit ist jünger als 25. Das sind diejenigen, die im Laufe der letzten Jahre gegen die Besatzung mobilisiert wurden, die nicht an die Propaganda glaubten, der zufolge der Friedensprozeß aufgrund des ‚palästinensischen Terrorismus‘ gescheitert sei und die die von der Regierung verfolgte Strategie der Neokolonisierung begriffen haben. Das sind diejenigen, die sich gegen den Mauerbau wehrten, gegen die Repression in den besetzten Gebieten und die heute die Wirbelsäule der Anti-Kriegs-Bewegung bilden. Zwischen diesen Jugendlichen und meiner Generation, d.h. derjenigen, die gegen den Libanonkrieg von `82 opponiert hat, klafft allerdings eine generationenmäßige Lücke. Die Bewegung gegen den Krieg, der es gelungen war, sich `82 und auch `88 (während der ersten Intifada) Gehör zu verschaffen, unterstützt heute zum Großteil offiziell die Regierungspolitik. Sie tritt für das ein, was sie als einen Selbstverteidigungskrieg ansieht. Der Diskurs, dem zufolge es eine Bedrohung der Demokratie durch den islamischen Terrorismus gibt, ist mittlerweile Mehrheitsmeinung und hat jene große Opposition gegen den Krieg sowie ihre Wirksamkeit und Hegemoniefähigkeit in Israel zerstört. Heute sieht die Mehrheit der Gesellschaft in der Armee die letzte Verteidigung gegen Völkermord an den Juden. Einige der angesehensten Kampfeinheiten ähneln inzwischen Todesschwadronen, so wie sie auf die so genannten gezielten Tötungen spezialisiert sind, aber die Nachfrage nach einer Mitgliedschaft in ihnen ist sehr hoch.“
Warum hat die israelische Gesellschaft dem Frieden den Rücken zugekehrt? Ich richte hier eine Frage an sie, die in Ihren letzten Büchern „An der Grenze“ (herausgebracht von Città aperta), „Israel – Palästina“ (bei Sapere 2000 erschienen) und „Am Abgrund“ (bei Bollati Boringhieri)… immer wiederkehrt.
„Seit Jahren läuft in Israel eine massive Kampagne, um die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass der Frieden eine Illusion ist und man zum so genannten Geist von `48 zurückkehren muss. Eine echte Gegenreform auf allen Ebenen (der kulturellen, ideologischen, juristischen und institutionellen), die nach dem 11.September auf die Theorie des Clashs der Kulturen und die Rede vom Krieg gegen den Terror traf und sich diese einverleibt hat. Zu den geostrategischen Anliegen der Kontrolle des Territoriums und der fortschreitenden Annexion des gesamten historischen Palästinas kam ein weiteres Element hinzu: Seit dem 11.September denkt auch die übergroße Mehrheit der gemäßigten Linken (das was für Euch die Mitte-Linke ist), dass es eine von Barbaren bedrohte Zivilisation gibt und man sich dagegen verteidigen muss. Man glaubt der Vorposten der Zivilisation im Herzen der arabischen Welt zu sein, das letzte Bollwerk innerhalb der Barbarei. Das ist der Diskurs, der sich durchgesetzt hat.“
Und ist nicht auch in bestimmten Teilen des radikalen Islamismus ein spiegelbildliches Verhalten feststellbar?
„Damit bin ich nicht einverstanden. Ich verfolge das, was <Hisbollah-Generalsekretär> Nasrallah sagt, sehr aufmerksam und – genau wie andere Kommentatoren in Israel – stelle ich fest, dass seine Reden gelassen sind und sich durch großes Verantwortungsbewusstsein auszeichnen. Ganz das Gegenteil des Westens, der von sich behauptet das Bollwerk der Zivilisation zu sein und stattdessen eine fundamentalistische Rhetorik verströmt. Man scheint einer Umkehrung der Werte beizuwohnen: Das laizistische Lager stürzt sich in den Fanatismus und das religiöse tut – auch wenn es von einer anderen Konzeption ausgeht – alles, um keine konfessionellen Diskurse zu verbreiten.“
In Ihren Büchern sprechen Sie von einer Entmenschlichung der Palästinenser und der Araber durch Israel. Was meinen Sie damit?
„Mit dem 11. September trat eine Wende ein. Bis dahin wurden die Palästinenser als Feinde angesehen, mit denen man eine grundlegende Meinungsverschiedenheit <im Original: Divergenz> hatte, die vor allem auf dem Weg der Gewalt ausgetragen wurde. Man hielt es aber für möglich, diese Frage angehen und zu irgendwelchen konkreten Verhandlungen gelangen zu können. Die Übernahme des Diskurses der amerikanischen Neokonservativen hat Israel zu einer qualitativen Veränderung gedrängt. Aus Feinden, die sie waren, haben sich die Palästinenser in eine Bedrohung verwandelt. Und eine Bedrohung ist nicht mehr in einer konkreten Kontroverse und in einem konkreten Feind identifizierbar. Sie bedroht Einen und das genügt: Man muss sich dagegen verteidigen. ‚Israel ist eine Villa im Herzen des Dschungels‘, hat Ehud Barak vor einigen Jahren gesagt. Kann man mit dem Dschungel Beziehungen unterhalten? Dieser Diskurs beherrscht und leitet die israelische Politik und einen Großteil der öffentlichen Meinung.“
Braucht man nach dem Verschwinden der UdSSR ein neues Reich des Bösen?
„Es ist offensichtlich, dass mit dem Verschwinden des globalen Feindes, der die so genannte Freie Welt bedrohte (d.h. der UdSSR) und der Beendigung des Friedensprozesses mit den Palästinensern das Vakuum durch eine apokalyptische Bedrohung füllen musste. Nicht zufällig spricht man im Zusammenhang mit Al Qaeda von etwas Nebulösem, von einem immateriellen Monstrum. Ein Krieg also, den man niemals gewinnen kann, weil der Feind ein Gespenst ist, das nicht identifiziert werden kann. Nur, dass der Krieg real ist und konkrete Desaster anrichtet. Er löst sogar einen schwer zu kontrollierenden Mechanismus aus, der in der Lage ist aus sich selbst heraus die Bedrohung zu schaffen noch bevor diese präsent ist. In Israel überträgt sich dieser Mechanismus auf ein unbewusstes Kollektiv, das durch einen noch nicht lange zurückliegenden Genozid gekennzeichnet ist, weil seitdem gerade mal 60 Jahre vergangen sind und der jedes politische Problem schnell in eine existenzielle Bedrohung verwandelt. Es ist nämlich nicht rational zu glauben, dass irgendwelche Hisbollah-Raketen eine Militärmacht wie Israel wirklich beunruhigen können. Sie können höchstens zu einem gewissen Maß an Destabilisierung führen, bedrohen aber mit Sicherheit nicht die Existenz des jüdischen Volkes, wie der israelische Ministerpräsident <Ehud Olmert> behauptet hat. Diese Propaganda führt jedoch dazu, dass die Gegenwart und die Geschichte als ein immenses Pogrom gesehen werden und man deshalb niemals aufhören dürfe: eine endlose Kriegsdynamik. Wir stehen am Rande des Abgrunds. Davon bekommen wir gegenwärtig einen Vorgeschmack.“
Ihr Buch „Am Abgrund – Die Krise der israelischen Gesellschaft“ ist zwei deutschen Kommunisten gewidmet, die nach Israel übersiedelten, um dem Nazismus zu entkommen. Zwei antikolonialistischen Kämpfern. Warum ist jene Generation von Kommunisten in Israel gescheitert?
„Micha und Trude fanden – ein bisschen gegen ihren Willen – in Palästina Zuflucht und dachten, dass sie nach der Befreiung vom Nazifaschismus zurückkehren würden, sind dann aber geblieben. Von ihnen, die jeder Form von Tribalismus gegenüber wasserdicht waren, habe ich gelernt, dass der Internationalismus und das kommunistische Engagement eine Art und Weise ist, Weltbürger zu sein. Es waren Tausende Kommunisten, die sich vor `48 mit einer kolonialen Realität auseinandergesetzt haben, die ihnen wenig Raum ließ. Sie klammerten sich nicht an die jüdische Identität, waren aber keine Araber. Und die Araber identifizierten sie mit dem gegnerischen Lager. Das ist die perverse Logik der nationalen Konflikte. Du befindest Dich gegen Deinen Willen in den von den Arabern bombardierten Stadtteilen oder umgekehrt. Es bedarf einer großen Überzeugung, um die Bomben zu nehmen und zu sagen: Ich unterscheide mich davon.“
Sie denken so, leben aber weiter in Jerusalem. Warum?
„Jedes Lockerlassen wäre eine Tragödie für unsere Kinder. Die Kriegspolitik der führenden Leute in Israel führt zur Katastrophe und schlägt die Türen vor der Möglichkeit einer nationalen Koexistenz mit den Palästinensern zu. Wir sorgen dafür, dass die Araber uns hassen, weil Israel – obwohl es in einer arabischen Region lebt – die arabische Welt ablehnt. Man muss verrückt sein, um zu glauben, dass wir unsere Existenz in dieser Region gegen die arabische Welt durchsetzen können.“
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover