Vorbemerkung der LabourNet-Austria-Redaktion:
- Anlässlich der bürgerlichen Medienkampagne zu >30 Jahre Deutscher Herbst< über die „mordende“ RAF bzw. >Bewegung 2.Juni< veröffentlichen wir hier einen Text von Peter Tanas über Ulrike Meinhofs >Letzte Texte<, in dem er die Revolutionärin als Theoretikerin würdigt, sie und die RAF-Politik aber auch kritisiert. Peter Tanas war führendes Mitglied der deutschen trotzkistischen Gruppe >SPARTACUSBUND<, die im Deutschen Herbst der RAF-Gewalt die alltägliche Gewalt des Kapitalismus gegenüber stellte und damals mehr oder weniger vergeblich ein Schutz-und Trutzbündnis der deutschen Linken gegen die angewachsene staatliche Repression des >Deutschen Herbstes< zu bilden versuchte.
ZU DEN LETZTEN TEXTEN VON ULRIKE MEINHOF
Gut einen Monat nach ihrer Ermordung sind im Juni 1976 „Letzte Texte von Ulrike“ vom „Internationalen Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa“ herausgegeben worden. Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, daß dieses Buch eines der wichtigsten und bedeutsamsten der westdeutschen Linken seit dem 2. Weltkrieg ist.
Man wird Ulrike Meinhof am gerechtesten, wenn man die von ihr in diesen Dokumenten angeschnittene ‚Strategiediskussion‘ kritisch von unserer Seite aus aufnimmt. (Eine Besprechung von ‚Bommi‘ Baumanns „Wie alles anfing“, 1. Auflage, Trikont-Verlag, München 1975, wird folgen). Das folgende kann nur eine Leseanleitung sein.
‚Erfahrungen‘ kann man nicht leicht durch ‚Theorie‘ widerlegen. Trotzdem müssen wir endlich die politisch- programmatische Diskussion mit der RAF fortsetzen. Ulrike Meinhof bezeichnet das Feld, auf dem sie kämpfte, folgendermaßen: „postfaschistischer Staat, Konsumentenkultur, Metropolenchauvinismus Massenmanipulation durch die Medien, Psychologische Kriegsführung, Sozialdemokratie“ und zog die Schlußfolgerung im Sinne der RAF, „dass gegen die Repression, mit der wir es hier zu tun haben, Empörung keine Waffe ist“. (S. 7) Es ist leicht, die von der RAF entwickelte Strategie (s.auch: „nouveau fascisme nouvelle resistence en RAF“ Dokumente, Paris 1976, hrsg. Comite de soutien aux prisonniers de la RAF) als radikalisierte Konsequenz aus der Theorie der Studentenrevolte in den Jahren 1966-1970 abzutun:
Bevor wir antworten haben wir aber allen Grund zu ‚lernen‘, worauf die „existentielle Radikalität“ der RAF beruhte und wie die „kleinen bewaffneten illegalen Gruppen ihre Strategie gegen das US-Kapital und den imperialistischen Staat aus dem internationalen Zusammenhang der antiimperialistischen Befreiungskämpfe in dieser Phase der strategischen Defensive des Imperialismus bestimmen“. (S. 23)
BRD ALS FUNKTION DES US-IMPERIALISMUS
Der US-Imperialismus war und bleibt für die RAF der Hauptfeind Nr. 1. Die westdeutsche Geschichte und..Regierunfspolitik wird ausschließlich als „Funktion der Weltinnenpolitik der USA und d.h. als Funktion der Rolle der USA nach 45 als Weltpolizist“(S. 36) aufqefasst. Die BRD wird analog zu Südvietnam, Südkorea als Operationsbasis des US-Imperialismus und Staat mit „spezifischen Kolonialstatus im amerikanischen Staatensystem“ (S. 37) beschrieben. Eine relative Unabhängigkeit des westdeutschen Kapitalismus im europäischen Rahmen mit besonderer Einflußnahme auf Südeuropa und Afrika entwickelt sich demnach nicht, vielmehr: „daß ein Staat mit dem ökonomischen Potential der Bundesrepublik für die Dauer von nunmehr dreißig Jahren über keine eigene politische Direktionsgewalt verfügt, ist einer der Gründe, weshalb in diesem Staat eine radikale, politische Orientierung besonders schwer und, wir wir erfahren haben, überhaupt nur durch bewaffneten antiimperialistischen Kampf zu erobern ist.“ (S. 36f)
Wir halten die RAF-Analyse in diesem Punkt für falsch und gefährlich – gefährlich vor allem gegenüber dem französischen, englischen Imperialismus(s.S. 40f, 43f). Es ist aber nun entscheidend, daß die RAF den spezifischen Opportunismus des ‚Maoismus‘ nicht nur nicht nachvollzieht, vielmehr scharf bekämpft und aus dieser Theorie bisher keine opportunistischen Schlüsse gezogen hat. „Antiimperialistischer Kampf hier ist nicht und kann auch nicht sein: nationaler Befreiungskampf – seine historische Perspektive nicht: Sozialismus in einem Land.“ (S. 49)
Es bleibt hier ein Widerspruch und unaufgeklärter Rest in der RAF-Theorie, denn an anderer Stelle heißt es dagegen: „Es ist aber ganz natürlich und es scheint, daß die Erfahrungen der antikolonialen Revolutionen, z.B. die des algerischen Volkes, wie Fanon sie in die internationale Diskussion der revolutionären Linken vermittelt hat,- jedenfalls auf die Bundesrepublik aus ihrem spezifischen Kolonialstatus im amerikanischenStaatensystem übertragbar sind“. (S. 37)
Die Definition des Verhältnisses BRD-USA gehört bestimmt nicht zum originellsten Teil der RAF-Theorie. Was man jedoch schon sagen kann, ist, daß die RAF in der BRD „als counter-Staatsgründung der USA im Ost-Westkonflikt“ praktisch den ‚Hauptfeind im eigenen Land‘ bekämpft hat und äußerst scharfsichtig ist, was „die besondere Rolle der deutschen Sozialdemokratie für die amerikanische Strategie nach Vietnam“ (S. 39) angeht. (s.u.)
NEUER FASCHISMUS?
Fast alles, was Ulrike Meinhof über die ‚bürgerliche Repression‘ im letzten Jahrzehnt, angeführt von der Sozialdemokratie, schreibt, ist richtig und bedenkenswert. Aber aus dem Unverständnis der Weimarer SPD folgt der Schock der tief enttäuschten (Sozial-)Demokratie in den Jahren 1958 (Godesberg: Abwürgung der Anti-Atomtod-Bewegung insbesondere durch Brandt) und 1960 (Wehner leistet, auf die „Große Koalition“ zusteuernd, im Bundestag endlich offen das Bekenntnis der SPD zur NATO und ‚roll back‘)(s.S. 38-42) „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!“ Obwohl sie den Begriff des Verrats und die Geschichte der Sozialdemokratie an einigen Stellen durchaus problematisiert (z.B.S. 33f), gibt es gerade im Fragment zu den Beweisanträgen im Stammheimer Prozeß („Geschichte der BRD, alte Linke“) sehr schwache Passagen (bes.S. 40ff) die von den Enttäuschungen und Verletzungen durch die bürgerliche ‚Demokratie‘ Zeugnis ablegen, in die man einst solche Hoffnungen und Illusionen gesetzt hatte. Dies gehört zur Geschichte der gesamten westdeutschen ‚Neuen Linken‘.
Jetzt aber gilt: Faschismus sei „der exakte Begriff für den Charakter der Repression, die dich trifft, wenn du in diesem Staat anfängst, revolutionäre Politik zu machen.“ (S. 9) Die „institutionelle Strategie des neuen Faschismus“ werde durch die Sozialdemokratie verwirklicht: „Die sozialdemokratische Antwort (auf die Weltwirtschaftskrise, Anm.d.verf.) ist diesmal (!) ihr eigenes Faschismusprojekt ‚Innere Sicherheit’, die Integration der repressiven Staatsapparate in Westeuropa unter dem Kommando des Informationsmonopols, das das BKA (Bundeskriminalamt, d.Verf,) hat und die Integration der Apparate der inneren und äußeren Sicherheit im Rahmen der NATO, also unter dem Kommando des Pentagon.“ (S. 45)
Es geht nicht darum, die bürgerliche Repression zu verniedlichen, welche die Genossen der RAF in aller Härte getroffen hat, also etwa noch den Charakter der ‚Nato- und Staatspartei‘ SPD zu beschönigen. Man kann auch die Augen nicht davor verschließen, daß die von der RAF sog. ‚legale Linke‘ versagt hat, sich hat zersplittere lassen beim Widerstand gegen den Staatsapparat und „ihre bereits vollstreckte Internierung im Computer des BKA“ sich nicht bewußt gemacht hat: „wenn das BKA 394 Waffensammler in einer koordinierten Aktion schnappen kann, kann es natürlich auch die ganze legale Linke in einer Aktion in die Stadien abtransportieren.“ (S. 45) – eine geschwätzige und zerhackte Linke!
Aber der bisherige Bankrott der noch legalen BRD-Linken berechtigt nicht, unklar zu sehen und die verschiedenen Herrschaftsmethoden der Bourgeoisie (keine ist ein ‚kleineres Übel‘) alle in eines zu werfen.(s. unsere Klärung der Begriffe in: ‚Ergebnisse und Perspektiven“ Nr. 1/Jahrgang 1/November 1974, S. 125ff)
Die RAF hat eine ultralinke Einschätzung der Sozialdemokratie. Was soll der reformistische ‚Dauerbrenner‘ Strauß, was ‚Bonapartismus‘ …!
Die SPD ist doch schon Faschismus: „Innerhalb Westeuropas ist der Hauptfeind USA, die Bundesrepublik der Sozialdemokratie. Weil nur sie, aus ihrer Geschichte und ihrer Verfügung über die sozialdemokratische Internationale und ihrem Kontakt zu den Gewerkschaften über das Instrument des neuen Faschismus: verstaatlichte Gewerkschaften und Parteien, die noch (!) Basiskontakt haben, verfügt“.
Die RAF sieht die Sache aber auch einseitig – von der staatlichen und polizeitechnischen Seite her besteht eine gewisse Kontinuität zwischen ‚demokratischen, bonapartistischem und faschistischem Staatsapparat – Ulrike Meinhof nennt sein bürgerliches Wesen auch in den ‚Metropolen‘ ‚counterinsurgency‘ und die zuvorkommende Konterrevolution das eigentliche ‚Faschismusmodell‘ (S. 43)-, doch von der Seite der Klassen und Klassenkonstellationen her bestehen Brüche, die der Revolutionär auszunutzen hat. Ulrike Meinhof spricht vom ’neuen Faschismus‘, der sich schon durch die ‚bürgerliche Demokratie‘, sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften ‚verwirklichen‘ soll.
- Diese Fehleinschätzung hängt mit anderen methodischen Grundfehlern zusammen:
- das sozialdemokratische Faschismusmodell sei die „Organisationsform des Staates institutionell nach dem Muster der bürgerlichen Demokratie bei gleichzeitig ausgeschalteten kommunistischen Parteien, so daß der Block an der Macht immer nur der des US-Kapitals sein kann.“ (S. 43) Aber: die KPD ist nicht erst seit und wegen ihres Verbotes 1956 zur Bedeutungslosigkeit in der westdeutschen
- Arbeiterklasse verdammt; die SPD ist nicht nur Staatspolizei, sondern Polizei – getragen von ihrem politischen (!) Einfluß in der Arbeiterbewegung.
Die RAF hält die Frage: verstaatlichte sozialdemokratische Organisationen oder Zerschlagung dieser Organisationen und vollständige Atomisierung der Klasse im Faschismus schon deshalb für unwesentlich, weil sie in ihrem – berechtigten – Haß auf die revisionistische Linke, reformistischen Arbeiterorganisationen einen ‚objektiven‘ Klassenbegriff verneint, die Arbeiterklasse ‚an sich‘ nicht wahrnimmt. (s.u. S. 11-13)
Dies hat natürlich Konsequenzen für die Strategie der RAF: Herrscht bereits der Faschismus, ist die Arbeiterbewegung ‚total integriert‘ ins imperialistische System, dann müssen einerseits die Bedingungen des ‚illegalen Kampfes‘ vorwegenommen werden, und andererseits muß man die real stattfindenden Kämpfe der Arbeiter und Kleinbürger als ‚Volkskämpfe‘ schlechthin ’sich selbst überlässen’.Die ‚militärische Avantgarde’ (s.u.) will und kann diese ökonomischen und politischen Kämpfe, elementaren Bewegungen wie heroischen Aufbrüche nicht struktuieren, konzentrieren und zur Eroberung der politischen Macht führen.
Wir sind die letzten, die die besondere Bedeutung der Politik und des ’subjektiven Faktors‘ in der imperialistischen Epoche leugnen, die überzogene Analyse Ulrike Meinhofs wird aber im doppelten Sinne ‚verkehrt‘: „Das Neue, so auch das Neue an diesem Faschismus ist aber, daß es ihm nicht nur um die Herrschaftssicherung des Kapitals, Märkte und Konsolidierung geht, sondern um die Bildung eines Staatensystems,das sich als Staatensystem unabhängig (!) von seiner Basis und den Zwängen der Kapitalbewegung behaupten kann. Hier ist der Staat Subjekt (!) der Politik und er wird nicht mehr von konkurrierenden Kapitalfraktionen regiert, sondern er ist der unmittelbare Ausdruck des Kapitals, weil es unter der Hegemonie des US-Kapitals (!) keine ökonomische und so politische Autonomie von Kapitalien gegenüber dem US-Kapital gibt.“ (S. 46)
Die Reformisten, die ‚Neue Linke‘ und hier die RAF tun dem bürgerlichen Staat. – je auf ihre Weise – zuviel der Ehre an. Soviel kommt ihm nun doch nicht zu. Begreift die RAF sich sonst in der historischen Linie: Babeuf, Blanqui, Lenin (s.u.), so klingt dies eher anarchistisch.
DER KRIEG DES KAPITALS
Wo sie von Polizeimethoden, Prozessen, Pressehetze usw. berichten, wissen die RAF-Genossen, wovon sie reden. Hier werden ihre Aussagen sehr viel richtiger, weil Erfahrungen und Kämpfe dahinter stehen. Schließlich haben sie stellvertretend in den bürgerlichen Gefängnissen das durchgemacht, was der gesamten Linken (unter anderen Umständen) einmal vorgesehen ist!
Das imperialistische System hat seine Unterdrückungsmethoden derart perfektioniert, daß der Begriff der ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘ selbst,von dem Habermas noch so schwärmte, ausradiert ist. Appelle an die Öffentlichkeit – vor allem der Arbeiter und Unterdrückten -, wie sie noch Marx oder Trotzki machen konnten, sind unmöglich geworden. Ulrike Meinhof, die früher auf Analysen und Appelle angewiesen war, muß für den ‚Stammheimer Schau (Show-) Prozeß‘ feststellen, daß „hier im Grunde niemand ist, der auf das, was wir sagen, anders hört als mit der Sensation, dem Ohr des Spitzels oder des Marktes. Inhalte kann dieser Markt nicht aufnehmen, und wo es um unsere politische Vernichtung geht, nicht einmal Tatsachen. Hätte die bürgerliche Öffentlichkeit, die hier erlaubt ist oder beobachten läßt, noch eine Kontrollfunktion, wäre der Prozeß unmöglich.“ (S. 18) Die RAF-Mitglieder erfuhren, daß sie auf einem ‚total durchorganisierten Terrain‘ gekämpft hatten.
Die Isolation sollte die Gruppe in der Haft zerbrechen. Es wurde versucht, Ulrike Meinhof selbst zunächst in dem ’stillen Trakt‘ in Köln-Ossendörf dann mit dem stereotaktischen Eingriff zu „kretinisieren“ (S. 23). Die RAF-Aktivität wurde von der ‚psychologischen Kriegsführung‘ systematisch in der Negativ-Figur Andreas Baaders personalisiert. „Personalisierung zielt darauf, den revolutionären Ausnahmezustand als brutalen imperialistischen Alltag erscheinen zu lassen, um den latenten Hass der Massen auf den Staat, auf den staatlichen Parasitismus, die Parasitäre, nichts als surplus fressende Maschine der repressiven und ideologischen Staatsapparate aus Bundesanwaltschaft, Justiz, Polizei usw. auf die Guerilla umzulenken, sie zielt darauf, das Volk in dem Ausnahmezustand, in dem es lebt, davon abzuschrecken, ihn in den wirklichen Ausnahmezustand zu verwandeln.“ (S. 28)
Im niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz, welches alle Beamten und Angestellten im Staatsapparat zur Weitergabe der Informationen an den Verfassungsschutz dienstverpflichtet, sehen die RAF-Genossen eine weitere „institutionelle Strategie des neuen Faschismus, die die politische Justiz zu einem Arm der politischen Polizei macht, – gleichzeitiger Ausbau der Staatsschutzmaschine: BKA, im BKA die Abteilung Terror (‚T“) in Bonn, BGS, mobile Einsatzkommandös, Ausbau der Bereitschaftspolizei, Vereinheitlichung der Länderpolizeien, unter dem Kommando des BKA, Computerisierung und die neuen Repressionstechnologien, die die psychologische Kriegsführung anwendet.“ (S. 45)
Es wird der NATO-Militärapparat nachrichtendienstlich organisiert, der die Gesellschaft – öffentlicher Kontrolle entzogen – durchdringt.
STRATEGIE DER RAF
Weil alle menschlichen Beziehungen im Imperialismus vom Markt beherrscht sind und die Verstaatlichung der Gesellschaft durch die repressiven und ideologischen Apparate alles durchdringt, gibt es weder Zeit noch Ort, von denen man ausgehen könnte; für die RAF gibt es keine widerstandsfähigen Ansatzpunkte und dynamischen Tendenzen mehr in den ‚Metropolen‘, sondern nur die ‚Illegalität‘ der agressiven Guerillas, (S. 11) die die ‚Legalität‘ des ‚Volkskrieges‘ erkämpfen will.
Aus der Einschätzung der neuen Qualität des Imperialismus im Gegensatz zur Zeit Lenins und der Oktoberrevolution 1917 (s.u.), vor allem aus der ‚absoluten‘ Hegemonie des US-Imperialismus (Pentagon, CIA, NATO) ergibt sich für die RAF, daß „jeder Angriff auf die Präsenz des US-Kapitals hier unmittelbar mit dem imperialistischen Staat konfrontiert ist oder – was 72 in der Diskussion war – direkt mit dem US-Militär. In jedem Fall zwingen die Angriffe auf amerikanische Einrichtungen hier den Staat, sich als das zu zeigen, was er ist: Funktion des US-Kapitals und institutionelle Verschleierung des wirklichen Status der Bundesrepublik im amerikanischen Staatensystem: von den USA militärisch besetztes Gebiet.“ (S. 43) Die RAF folgert: Weil man den ‚militärisch-polizeilichen‘ Charakter der imperialistischen Ökonomik und Politik heute schnell (durch Bomben) ,sichtbar machen könnte, sei die ‚militärische Avantgarde‘ der Metropopolenguerilla (RAF, Brigate Rosso, United Peoples Liberation Army) zugleich auch ‚unmittelbar‘ die ‚politische‘ revolutionäre Vorhut. (S. 26, 49)
Diese „Mobilisierungslinie“ ist ‚illusionär‘: „aber wesentlich ist, daß diese Entlarvung der Sozialdemokratie durch den Angriff kleiner bewaffneter Gruppen es ihr unmöglich machen wird, Westeuropa als militärischen Machtblock für die Strategie des US-Kapitals zu organisieren (..)“ (S. 44) Lassen wir einmal beiseite, welches Konzept in Bezug auf Portugal 1975/76 erfolgreicher, effektiver ist: die ‚Propaganda der Tat‘ (‚Entlarvung der Sozialdemokratie‘ durch die Aktion der RAF) oder der Kampf in- und außerhalb der Bundeswehr/NATO gegen eine Natointervention in Portugal bzw. den Wirtschaftsboykott der EG bis zum 25.November 1975 – sie hatten absolut keinerlei ‚politische’ Methoden, um die verhängnisvolle Spaltung der portugiesichen Arbeiterbewegung im Sommer 1975 zu überwinden, um die zentristische ‚Arbeitervorhut’ rechtzeitig von der Vorherrschaft des MFA zu lösen usw. Richtig erkennend, da die Sozialdemokratie überall in Europa „den reaktionären Prozeß organisiert“ (S. 43), verfallen sie praktisch auf den absurden Versuch, den Einfluß der Sozialdemokratie in der deutschen wie portugiesischen Arbeiterbewegung dadurch brechen zu wollen, daß sie Schüsse auf Computer und Repräsentanten abgeben!
Die oben angegebene ‚Mobilisierungslinie‘ kann aber auch dem politischen ‚Opportunismus‘ Tür und Tor öffnen. Denn warum wird der gegenwärtig durch die Sozialdemokratie organisierte konterrevolutionäre Prozeß aufgehalten, „weil der Faschismus, hier sichtbar gemacht, notwendig alles,was es an politischen Ressentiment im Ausland (!) gegen die Bundesrepublik gibt – alter Antifaschismus und in allen Gruppen im Spektrum von der äußersten Linken bis in die Sozialdemokratien und in die nationalen Regierungen (!?) an Ressentiment gegen die Deutschen, den deutschen Imperialismus, Militarismus, ‚Hegemoniestreben gibt – gegen die BRD mobilisiert,und zwar auf,der Linie: Hauptfeind USA (…)“(S. 44)
Die militärische Operation auf der ersten „Demarkationslinie“ des „Nord-Süd-Konflikts“, an der „FRONT“ der „Befreiungskämpfe der dritten Welt“, „Weltproletariat-USA“ (S. 44) muß also den ‚klassenunspezifischen‘ Opportunismus gegenüber den ’nationalen Befreiungsbewegungen‘, der UdSSR oder gar den EG-‚Demokratien‘ . nicht ausschließen. (s.u. bes. die Maoisten) Allerdings gilt für die RAF unbedingt, daß sie alle Anstrengungen unternimmt, den Hauptkonflikt von der ersten auf die „zweite Demarkationslinie“ zu verlegen, d.h. „die Rückwirkungen der Befreiungskämpfe an der Peripherie des Systems auf die Metropolen zur Front zu entwickeln.“ Die.Die RAF begreift sich als Teil der internationalen „Avantgarde des Weltproletariats“, der als „Metropolenguerilla zu einem Teil der Befreiungskämpfe der dritten Welt wird“, indem er die „militärisch-politische Auseinandersetzung“ in den Metropolen selbst organisiert und fördert. (s.S. 44)
Es besteht Krieg an der „Demarkationslinie arm-reich“ zwischen dem Imperialismus und den (halb-)kolonialen Ländern, welche ihn durch die ‚Volksbefreiungsarmeen‘ führen; an der „zweiten Demarkationslinie innerhalb der Metropolen“ antzipiert, rekonstruiert und erwirkt die ‚Metropllenguerilla’ stellvertretend die internationale proletarische Politik und selbstständige Initiative der ‚Proletariar aller Länder’, ja, sie führt den Krieg in den ‚Metropolen’ – so ihr Selbstverständnis – „im Vorgriff massenhafter proletarischer Gegengewalt“. (S. 46f, 55f) Voraussetzung ihres Konzepts ist also, daß die Arbeiterklasse (‚für sich‘) nicht kämpft, also nicht wirklich existiert. (s.S. 3, 11fff, 21, 37f, 52, s.u.)
Die RAF beruft sich auf den Marx-Satz, daß ein Volk, das andere unterdrückt, sich nicht selbst emanzipieren kann. Also lautet der militärische Auftrag, „daß sie im Rahmen der Befreiungskämpfe der Völker der Dritten Welt, im solidarischen Kampf dem Imperialismus hier, von wo aus er seine Truppen, seine Waffen, seine Ausbilder, seine Technologie, seine Kommunikationssysteme, seinen Kulturfaschismus zur Unterdrückung und Ausbeutung der Völker der Dritten Welt exportiert, in den Rücken fallen kann. Das ist die strategische (!) Bestimmung des Metropolenguerilla im Hinterland des Imperialismus die Guerilla, den bewaffneten, antiimperialistischen Kampf, den Volkskrieg entfesseln, in einem langwierigen Prozeß.“ (S. 49, 48) In der Theorie Lenins, auf den die RAF sich wiederholt beruft (S. 14-17, 25, 30, 32, 53, s.u.), wird dagegen unterschieden zwischen dem antiimperialistischen Krieg der (halb-)kolonialen Länder und dem Kampf der Arbeiterklasse gegen den ‚Haupt-feind im eigenen Land‘ des Imperialismus.
Am brüchigsten wird die RAF-Theorie dort, wo sie aus dem ‚Dolchstoß‘ in den Rücken der imperialistischen Armeen, aus der ‚Propaganda der Tat‘ der Stadtguerilla den qualitativen Umschlag in die revolutionäre Gewalt der. ‚Massen‘ einfach folgert. Die eigene Überschätzung macht sie blind dafür, daß sie hier die falsche reformistische Theorie des ‚Vorwand-lieferns‘ um-gedreht akzeptieren und rechtfertigen.Marighela hatte ja bereits den Trugschluß gezogen, man müsse „die politische Situation des Landes in eine militärische (!!) verwandeln. Daraufhin wird die Unzufriedenheit alle Schichten ergreifen und die Militärs werden die einzig Verantwortlichen für alle Miß-griffe sein.“ Also: Je schlimmer, desto klarer die Verhältnisse für die Massen? Es müssen erst Militärdiktatur, Bonpartismus und Faschismus eintreten, bevor die Massen klar sehen? Es ist egal, wer sie aus ihrer Schläfrigkeit und ihren reformistischen, pazifistischen usw. Illusionen reißt: die Faschisten oder die Kommunisten? Diese ultralinke Theorie hat nicht zuletzt in Deutschland 1933 (damals die Theorie der KPD) bankrott gemacht.
So teilen wir die „Dialektik der Strategie“ der RAF keineswegs, „daß durch die Defensive, die Reaktion des Systems, die Eskalation der Konterrevolution (!)‚die Umwandlung des politischen Ausnahmezustandes in den militärischen Ausnahmezustand der Feind sich kenntlixh (!) macht, sichtbar – und so, durch seinen eigenen Terror, die Massen gegen sich aufbringt, die Widersprüche verschärft, den revolutionären Kampf zwingend macht.“ (S.57f) Unsere Aufgabe liegt im gegenteil gerade darin, das Eintreten des militärischen Ausnahmezustandes militant zu bekämnpfen und zu verhindern, weil sich mit seinem Eintritt die realen Kampfbedingungen der Arbeiterklasse entscheidend verschlechtern!
Für uns ist der Feind schon auf der sozio-ökonomischen und politischen Ebene „kenntlich“ und nicht erst auf der militärisch-technischen bekämpfbar. Aber hier stoßen wir wieder auf die alte Kontroverse (s.o.) inwieweit die imperialistische Gewalt nicht nur in Computersystemen und ‚Repräsentanten‘, ‚Charaktermasken‘ verkörpert ist, sondern vor allem in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, Verkehrsformen, in den sozialdemokratisch oder stalinistisch beschatteten Köpfen der Arbeiter, im Klassenverhalten des alten und neuen Kleinbürgertums usw.. Schlagt dem System einen Polizei- oder Bürokratenkopf ab, tausendköpfig läßt die Hydra Postenschieber und politische Polizisten nachwachsen …
Marx, auf den Ulrike Meinhof sich hier beruft, meinte nach 1848 etwas ganz anderes, wenn er schrieb, die Umsturzpartei könne erst in der Erzeugung ihres konterrevolutionären Gegners zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifen. Er meinte, daß durch den revolutionären politischen Kampf (bis zum Aufstand) der Arbeiterklasse erst deutlich wurde, wer ihr Verbündeter und wer ihr Feind war, daß sich die Klasse in diesem Sinne in einem Erfahrungs- und Lernprozeß konstituierte, und der revolutionäre Fortschritt sich nicht anders als in dieser Unerbittlichkeit Bahn brechen kann. Die RAF spricht jedoch davon, daß ihr Angriff in den ‚Metropolen‘ eine solche Reaktion des Kapitals (und seines Staates) veranlassen soll, daß es „so selbst die zweite Front entwickelt, die Polarisationsprozesse in Gang setzt durch die Verfolgung der Linken usw. (!), in denen die Guerilla als die Sache jedes einzelnen und aller (…) begriffen werden kann, und wir sagen: begriffen werden wird.“ (S. 44) Die Solidarität muß erzwungen werden, weil falsch die gesteigerte bürgerliche Repression als Reaktion allein auf die kämpfende Guerilla begriffen wird. Die „Polarisation“ politisch in Ganz zu setzen, ist ja gerade die Aufgabe der revolutionären Linken und muß von ihrer Initiative ausgehen.
Wir sind bestimmt nicht verdächtig, wie die Revisionisten sagen, die Guerillagewalt sei ‚gut und schön‘ für die Dritte Welt, nicht aber ‚übertragbar‘ auf die imperialistischen ‚Demokratien‘. Dahinter verbirgt sich – wie etwa bei Elmar Altvater – imperialistischer Chauvinismus (die Terrormethoden sind nichts für uns, aber gut für die da unten auf der südlichen Erdhalbkugel und die Beschönigung des ‚eigenen starken Staates‘, ja stärkeren imperialistischen Staates! Entweder sind diese Methoden in der ersten und der dritten Welt problematisch oder aber unter bestimmten Voraussetzungen ‚taktisch‘ möglich in Kolonien wie ‚Metropolen‘. Wir bestreiten aber die ‚Übertragung‘ von Marighelas Rezepten von einer anderen Seite her, die Ulrike Meinhof an anderer Stelle selbst deutlich anspricht. Die Guerillas Asiens, Afrikas und Lateinamerikas (z.B. Ho Tschi-minh, Fanon, Che Guevara und Marighela) gingen immer davon aus, dass die ‚Massen’ des unterdrückten Volkes undbewußt und latent nationalrevolutionär waren und zum Handeln bereit, während Ulrike Meinhof die ‚Legitimation’ der ‚Metropolenguerilla’ ja gerade aus der Passivität und Integration der ‚Massen’ im imperialistischen Staat herleitet. Hier kann man auch nicht mehr vom Volk sprechen, man muß immer von Klassen und Schichten ausgehen, um Revolution und Konterrevolution zu bestimmen.“Die Massen bewaffnen – das macht immer noch am ehesten das Kapital: die Bullen und das Militär und die Rechtsradikalen. Also bevor Du (Hanna Krabbe, Anm.d.Verf.) auf die westdeutschen Massen abfährst und überhaupt ‚die Massen‘, denk nach, wie es wirklich hier ist – so schrieb Ho 1922 in der L’Humanite: ‚Die Masse ist grundsätzlich zu Rebellion bereit, aber vollständig unwissend, sie will sich befreien, aber sie weiß nicht, wie sie das anfangen soll. Das ist nicht unsere Situation.“ (S.8) Angesichts dieser deutlichen Einschätzung wirkt die Hoffnung der RAF auf den plötzlichen Umschlag (s.o.) noch selbstmörderischer, als sie schon ist.
„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen.“ (Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, These VIII)
„Personalisierung zielt darauf , den revolutionären Ausnahmezustand als brutalen imperialistischen Alltag erscheinen zu lassen. (…) Sie zielt darauf, das Volk, in dem Ausnahmezustand, in dem es lebt, davon abzuschrecken, ihn in den wirklichen Ausnahmezustand, den Ausnahmezustand für sich zu verwandeln.“ (Briefe von Ulrike Meinhof, S. 27f)
KLASSEN- UND THEORIEBEGRIFF DER RAF
Ulrike Meinhof entwickelt in einem Brief an die Gefangenen in Hamburg vom 13.4. sehr deutlich ihren Klassenbegriff, indem sie gegen das (für sie revisionistische) Gerede vom ‚Klassenstandpunkt‘, den man einnehmen müsse, polemisiert. Sie sagt: „Es gibt die Klassenlage: Proletariat, Proletarisierung, Deklassierung, Erniedrigung, Beleidigung, Enteignung, Unfreiheit, Armut.“ (S11) Den ‚Klassenstandpunkt‘ hält sie für einen toten Katechismus und ein starres Podest, für eine reine Hilf- und Rechtfertigungskonstruktion: „Er behauptet die Ableitung der Politik der Klasse aus der Ökonomie – und das ist falsch. Die Politik der Klasse ist Resultat ihrer Auseinandersetzung mit der Politik des Kapitals“ (S. 12) Der Klassenstandpunkt sei ein „Hurra-Standpunkt“ der „weißen Linken“, insbesondere der Stalinisten und Maoisten, wohingegen die RAF „auf Wirkung aus sei“: „Im Verhältnis zu dem Ziel gibt es keinen Standpunkt, sondern nur Bewegung, den Kampf, das Verhältnis zu sein – wie du sagst – heißt doch kämpfen.“ (S. 11) Die ‚weißen Linken‘, eingeschlossen die Sowjetunion können für Ulrike Meinhof nicht Vorkämpfer, nur Verbündete im Befreiungskampf sein: „Der Protagonist hat keinen Standpunkt – er hat ein Ziel. Aber der ‚Klassenstandpunkt‘ ist schon immer ein Knüppel – die Behauptung und Oktroyierung vermittels eines Parteiapparates (!) eines Begriffs von Realität, der mit der erfahrenen und erfahrbaren Wirklichkeit nicht übereinstimmt – er behauptet nämlich eine Kampfpositlon ohne Klassenkampf – wie du sagst: ‚von der aus‘ erst noch gehandelt werden soll, nicht schon gehandelt wird.“ (S.12)
Über die notwendige Kritik am Revisionismus hinaus revidiert die RAF jedoch den Marxismus selbst, und zwar in Richtung der Anarchosyndikalisten und Anarchisten. Ihre Analyse vollzieht sich in folgendem Dreischritt 1) Sie geht nicht mehr wie der Marxismus von einer Spannung, Ungleichzeitigkeit, Differenz zwischen der ‚Klasse an sich‘, wie sie in der Produktionssphäre der Gesellschaft verankert ist (objektiver Klassenbegriff), und der ‚Klasse für sich’, wie sie praktisch tätig ist, kämpft, sich ihre historischen und revolutionären Aufgaben vermittels der Partei zum Bewußtsein bringt (subjektiver Klassenbegriff)), aus, sondern anerkennt allein die kämpfende ‚Klasse für sich’ . Entweder sie führt ihren internationalen Krieg, oder die Arbeiterklasse ist nicht, existiert nicht. 2. Im alten und neuen Faschismus ist die Arbeiterklasse der metropolen zerstört, vom Imperialismus vereinnahmt worden, so die RAF. Es ist klar, dass die RAF, wenn sie die Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Klassenbegriff aufgibt, den Unterschied zwischen imperialistischer NS-Herrschaft und imperialistischer SPD/FDP-Herrschaft nicht erfassen und definieren kann! Ob die Arbeiterklasse durch den Faschismus objektiv zerschlagen und atomisiert wird, oder ob sie vor allem durch die Sozialdemokratie polizeilich unterdrückt und ‚demokratisch‘ entwaffnet, willenlos, bewußtlos, kampflos, ehrlos gemacht wird – in der Nacht des ’neuen Faschismus‘ erscheinen alle herrschaftlichen Elemente des bürgerlichen Systems als „eine reaktionäre Masse“ (Lasalle), die man mit gleichen Mitteln zu bekämpfen hat, (ja, die Bekämpfung der ‚alten Faschisten‘ auf der Straße läßt den ’neuen Faschismus‘ – ‚Sozialfaschismus‘? – an der Staatsmacht nur aus dem Schußfeld geraten …).
3) Aus der totalen Integrierung der Arbeiterklasse in das imperialistische System, aus dem historischenVersagen ihrer traditionellen Kampf- und Organisationsformen (s.u) folgt die RAF, dass den Befreiungsbewegungen in den (halb-)kolonialen Ländern im Bündnis mit den neuartigen Gguerilla-Avantgarden der Metropolen, die besondere Rolle im Prozess der Weltrevolution zukommt! „Wir gehen eben nicht von einem, egal welchem Klassenstandpunkt aus, sondern vom Klassenkampf als dem Prinzip aller Geschichte und von Klassenkrieg, als der Realität, in der sich proletarische Politik realisiert,und – wie wir rausgekriegt haben: nur im und durch den Krieg – der Standpunkt der Klasse kann nur die Bewegung der Klasse im Klassenkrieg sein, das bewaffnet kämpfende Weltproletariat, real seine Avantgarden, die Befreiungsbewegungen- (…) – also Bewegung, Interaktion, Kommunikation, Koordination, Zusammenkämpfen- Strategie (S. 12f)
Überzeugend der existentielle Radikalismus, mit dem Ulrike Meinhof Satre zitiert: „Damit es überhaupt Bewußtsein und Kampf gibt, muß sich jemand schlagen.“ (S. 29) Richtig auch, wenn sie die 2. Feuerbachthese von Marx (1845/46) gegen den revisionistischen Dogmatismus ins Feld führt: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nicht-Wirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ (S. 26) Der Streit über die Wirklichkeit oder Nicht-Wirklichkeit des Proletariats ist jedoch keine scholastische Frage; für die RAF fällt schließlich unter den (subjektiven) Begriff des „Weltproletariats“ alles, was sich „bewegt“, d.h. sich dem Imperialismus in irgendeiner militanten Form widersetzt!
Falsch und verhängnisvoll ist, wenn die RAF mit dem objektiven Klassenbegriff zugleich das marxistische Verständnis von ‚wissenschaftlichem‘ Programm/Theorie über Bord werfen muß. Denn Klasseninteresse, Klassenbewußtsein, Klassenprogramm sind im Sinne des Marxismus Antworten auf die ‚objektiven‘ Klassenstrukturen und antagonismen der bürgerlich-imperialistischen Gesellschaft; die „Bewegung“ der Arbeiter geht nur insofern in das Programm ein, als sie in der Erfahrung der Klasse objektiv geworden ist: dass die Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat zerbrechen und aufheben muss, wurde zum Programm erst nach den Erfahrungen der Pariser Kommune 1871; politischer Massenstreik und Räteherrschaft sind Programm der revolutionären Arbeiterbewegung.seit der ersten russischen Revolution 1905 usw..
Die ‚Bewegung‘ (Dynamik, Mobilität und Willen) ist nicht alles, sie allein kann kein Kampfprogramm der Arbeiterklasse begründen. Weder führen ‚Massenkämpfe’ direkt zum Programm, noch „wird die revolutionäre Aktion immer – egal wie vermittelt – von den Massen richtig verstanden.“ (S. 27) Ulrike Meinhof definiert die revolutionäre Theorie richtig als Handlungsanweisung zum und Waffe im Kampf. Aber sie verfällt in ihrer Kritik des bürgerlichen und revisionistischen Theorieverständnisses einer ‚falschen Unmittelbarkeit‘: „(…) wir haben revolutionäre Theorie immer bezogen auf klar umrissene Probleme der Praxis des Kampfs aus der Illegalität. Theorie, die keinen Bezug zur Praxis (!) hat, also die uns nicht unsere Lage erklärt und die Möglichkeit zeigt, sie zu verändern, hat uns nie interessiert. Also die Sorte von Theorie, die die psychologische Kriegsführung meint, wenn sie Mahler und mich (Ulrike) zu Theoretikern der RAF hochstilisiert hat, also Kolumnismus oder das entfremdete (!) herumfabulieren mit dem marxschen Begriffsapparat in der ihn zum Dogma verfälschenden Rezeption der ML – aus Gründen der Rechthaberei, wie Mahler das in seiner Schrift ‚Der bewaffnete Kampf in Westeuropa‘ gemacht. Die theoretischen Schriften der RAF waren Zeitungen, denen es darum ging, einzelne davon zu überzeugen, dass und warumk es richtig ist; die Stadtguerilla zu unterstützen. Wir haben sie als Waffe bestimmt, weil Waffe alles ist, wasdem bewaffneten Kampf aus der Illegalität nützt.“ (S.26). Die RAF bezieht die revolutionäre Theorie unmittelbar auf die kämpferische Praxis und diese wiederum ist beschränkt auf die Unterstützung der Stadtguerilla. Das erschwert ihr auch eine angemessene Einschätzung der revolutionären Triebkräfte und linken Tendenzen innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Totalität. Indem die RAF die Linke, welche nicht die Stadtguerilla politisch unterstützt, als ‚weiße Linke’ ansieht, reproduziert sie ihrerseits das Motto der Reformisten und Revisionisten, die bestenfalls sagen: „Wir haben nichts mit Euch zu tun. Das geht uns nichts an.“ Eine politische Korrektur wird fast unmöglich gemacht.
Würde Ulrike Meinhof die wortreichen Glasperlenspiele der ‚marxistischen’ Professoren und Assistenzprofessoren, die sich politisch im Dunstkreis der Sozialdemokratie oder des Stalinismus bewegen, kritisieren, so müsste man ihr recht geben. Aber mit ihrer unmittelbaren Reduktion der Theorie auf die (Guerilla) Praxis gibt sie im Grunde auch den Revolutionären von 1848 und den Handwerkerkommunisten gegen Marx recht, der sich nach Abschluß der revolutionären Krise 1847-52 für zwei Jahrzehnte in die Statistiken und-Folianten der Londoner Bibliothek sowie in politisch-ideologische Debatten vergrub – um „Das Kapital“ schreiben zu können. Wie hat Marx geflucht, die Schwielen, die er sich beim langen Sitzen geholt habe, möchten der Bourgeoisie einmal zum Ruin gereichen! Und dieser Fluch ist nur deshalb teilweise in Erfüllung gegangen, weil Marx und Engels sich in gewisser Weise von der realen Arbeiterbewegung ihrer Zeit entfernten, um sie schließlich kritisch vorwärts treiben zu können (s. Überwindung des Proudhonismus, Blanquismus, Bakunismus, Lassalleanismus, Chartismus …).
Eine schwerwiegende Frage an die RAF schließt sich an: Gibt es im Konzept der RAF keinen Platz für die ungelösten Fragen des Marxismus, für die Probleme, die die Geschichte des ‚offiziellen‘ Marxismus nicht gelöst, für die ,Hoffnungen und Versprechungen, die er nicht eingelöst und für die Erniedrigungen unserer Vorkämpfer, die er nicht gerächt hat? Die RAF bekommt die neu-artigen Phänomene des Imperialismus theoretisch und praktisch nicht in den Griff (z.B. die Ausbreitung des Kleinbürgertums auf Kosten der ‚produktiven‘ Arbeiter; sozialdemokratische Arbeiterbürokratie im imperialistischen Staat – Sowjetbürokratie im ‚Sozialismus in einem Land‘). Der Charakter der national-revolutionären Befreiungsbewegungen und die Entstehung von bürokratisch-deformierten Arbeiterstaaten ohne die Führungsrolle des Proletariats nach dem 2. Weltkrieg werden ihr erst gar nicht zum ‚Problem‘ einer marxistischen Theorie. Während die Linke, die sich auf den Marxismus beruft, zum dritten Mal – nach der Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg und dem Stalinismus in den dreißiger Jahren – an den neuen Problemen der imperialistischen Wirklichkeit zu zerbrechen droht, überläßt sich die RAF einem Theorieverständnis, das sie zum Gefangenen der ‚Bewegung’ des bloßen Meinens und augenblicklichen Denkens, Fühlens der ‚Massen’ machen muss – übrigens im Widerspruch zu ihrer vorgestellten Avantgardefunktion (s.u.) (s.S. 55)
Bereits 1844/45 formuliert der junge Marx einen der Ausgangspunkte des revolutionären Marxismus: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist, und was es diesem Sieg gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (in ‚Die Heilige Familie’, Frühschriften, hrg. von S.Landshut, Stuttgart 1964, S.319) Trotzki definiert genau in diesem Sinne die Aufgabe des wissenschaftlichen Programms der revolutionären Partei im Jahre 1938: „In erster Linie ein klares aufrichtiges Bild der objektiven Lage geben, der historischen Aufgaben, die dieser Lage entspringen – unabhängig davon (!), ob die Arbeiter heute reif dafür sind oder nicht. Unsere Aufgaben hängen nicht von der Mentalität der Arbeiter ab. Die Aufgabe ist, die Mentalität der Arbeiter zu entwickeln.“ (in:“Diskussionen über das ‚Übergangsprogramm“‚vom 19.5.1938, in ‚Schriften zum Programm‘ Essen 1973, S.58)
In der Tradition der ‚Kritischen Theorie‘ (Frankfurter Schule) und der Studentenbewegung (SDS) bezeichnet Ulrike Meinhof als „die Form der Proletarisierung der Klasse in den Metropolen: die Vereinzelung durch die Totalität der Entfremdung (!!) in der vollständig vergesellschafteten Produktion. Die Vereinzelung ist die Bedingung für Manipulation.“ (S. 3) Für die RAF gehört wesentlich zur „objektiven Lage“, „tatsächlichen Situation des Proletariats, der Massenin den Metropolen“, von der man auszugehen hat, „daß das Volk durch alle Schichten und von allen Seiten im Griff und unter der Kontrolle des Systems ist.“ (S.52) Die RAF leitet die Notwendigkeit der Befreiung nicht bloß vom entfremdeten Bewußtsein des Proletariats her (was sie den Opportunisten vorwirft) , sondern aus der „Tatsache der Entfremdung“, die in den imperialistischen Metropolen total sei. Dementsprechend lautet ihre Antwort: „Freiheit gegen diesen Apparat ist nur in seiner vollständigen Negation, d.h. im Angriff gegen den Apparat möglich, im kämpfenden Kollektiv, das die Guerilla wird, werden muss, wenn sie Strategie werden sill, also siegen.“(S. 3)
Darüberhinais bemüht sich Ulrike Meinhof auch auch zu zeigen, „wie die Einkreisung und vollständige Integration (!) der traditionellen Klassenorganisationen des Proletariats in die Politik des Kapitals in der Bundesrepublik historisch bedingt ist.“ (S.21) Die deutsche Geschichte bietet für sie reichlich Anlass, sich als Kommunist zu schämen: „denn das – die Geschichte der deutschen, des deutschen Monopolkapitals, der deutschen Sozialdemokratie, der gewerkschaften -, zwei imperialistische Weltkriege und 12 Jahre Faschismus nicht verhinmdert zu haben, nich einmal relevant dagegen gekämpft zu haben, ist die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung – ist einfach eine Tatsache, um die man beim Versuch, hier historische Identität für die Guerilla zu konstituieren, nicht herum kommt.“ (S. 37) Die Stadtguerilla muß in der BRD ‚das ganz Andere‘ sein, weil nicht nur Sozialdemokraten und Stalinisten als proletarische Führungen versagt und kapituliert haben, vielmehr das Versagen der deutschen Arbeiterklasse vor ihren historischen Aufgaben eine ‚materielle’ Tatsache geworden sei. In er westdeutschen Rekonstruktionsphase ist das Proletariat für Ulrike, Meinhof als politischer Faktor ausgeschaltet und zur reinen „Manövrier-Masse“ geworden (S. 38). Es sind also die Scham über die deutsche Arbeiterbewegung, die Enttäuschung über die II. Internationale und die stalinisierte III.Internationale (s.u.) sowie der tiefe Pessismus
in die Arbeiterklasse der „Metropolen, welche die RAF-dahin geführt haben, die real stattfindenden ‚Volksbefreiungskriege‘ der unterdrückten Nationen unkritisch zu verherrlichen und allein die dort entwickelten Kampfformen für sich zu akzeptieren (siehe vor allem Marighelas ‚Stadtguerilla’). Die RAF setzt den ‚Third-Worldism‘ (die ‚Dritte-Welt-Euphorie‘) der Studentenrevolte der 60er Jahre heute ungebrochen fort, allerdings mit härteren Konsequenzen für sich selbst.
Die RAF beansprucht – gegenüber den Reformisten und Revisionisten -, das imperialistische System ‚international’ aufzubrechen, entsprechend der und gegen die Entwicklung des Kapitals „die internationale politische Rekonstruktion des Proletariats“ in Angriff zu nehmen. Allerdings versteht sie unter Internationalismus immer die solidarische und kämpferische Verbindung zwischen den nationalrevolutionären Befreiungskämpfen und der Metropolenguerilla. „Guerilla in den Metropolen ist er bewußte Ausdruck, die Interpretation, der bewußte subjektive Versuch, diese Rekonstruktion in und aus ihrer internationalen Dimension zu vermitteln.“ (S. 21f) Nach ihrem Selbstverständnis betreibt die RAF in diesem Rahmen eine Praxis, die „dem Volk (!) seine Würde wiedergibt, den Kämpfen, Revolutionen, Aufständen, Niederlagen und Revolten der Vergangenheit wieder Sinn – dem Volk das Bewußtsein seiner Geschichte wieder ermöglicht, weil alle Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist, weil ein Volk, das die Dimension revolutionärer Klassenkämpfe verloren hat, im Zustand der Geschichtslosigkeit zu leben gezwungen ist, seines Selbstbewußtseins d.h. seiner Würde beraubt ist.“ (S. 55f) Das Ziel revolutionärer Politik (in der BRD) ist richtig angegeben. Ulrike Meinhof kommt hier Walter Benjamins Kritik am Evolutionismus und Fortschrittsdenken der Sozialdemokratie sehr nahe, wie sie in den „Geschichtsphilosophischen Thesen“ (1938/39) entworfen ist. Zitiert sei nur die These XII: „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende (!) Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt. Dieses Bewußtsein, das für kurze Zeit im ‚Spartacus‘ noch einmal zur Geltung gekommen ist, war der Sozialdemokratie von jeher anstößig. Im Lauf von drei Jahrzehnten gelang es ihr, den Namen eines Blanqui (!) fast auszulöschen, dessen Erzklang das vorige Jahrhundert erschüttert hat. Sie gefiel sich darin, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.“(in:’Illuminationen; Frankfurt/Main 1961, S. 275) Ebenso stellt Trotzki in seiner Kritik des Nihilismus der Boheme dar, wie die Bolschewiki in den „Traditionen der Revolutionen“ lebten, so daß am Tag ihrer eigenen Revolution diese „die Verkörperung der für uns gewohnten, innerlich verarbeitenden Tradition war. Aus der Welt, die wir theoretisch negierten und praktisch unterwühlten, traten wir in eine Welt, die wir uns bereits zu eigen gemacht hatten als Tradition- und als Vorahnung.“ (in: Literatur und Revolution, Wien 1924, S. 63f) Sowohl das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, als auch, im revolutionären Bruch Leid und Unterdrückung der Vorkämpfer zu rächen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigen. Von dieser ‚Wiedergutmachung‘ der Geschichte ist bei Lenin und Trotzki wiederholt die Rede.
Es ist kein Zweifel, daß Ulrike Meinhofs Absicht, den unterdrückten Massen – sie spricht meist vom „Volk“ – wieder historische Identität und Würde zu geben, sich in diese revolutionäre Tradition einreiht. Es ist aber falsch, wenn sie meint, die Aktionen der RAF seien im „Volk“ in genau diesem Sinne verstanden worden und würden deshalb von der Bourgeoisie so hart verfolgt: „Das war das Schockierende an unserer Aktion für den imperialistischen Staat: dass die RAF im Bewußsein des Volkes begriffen wurde als das, was sie ist: die Praxis, die Sache, die sich logisch und dialektisch aus den bestehenden Verhältnissen ergibt – die Praxis, die als Ausdruck der wirklichen verhältnisse, als Ausdruck der einzigen realen Möglichkeit, sie zu verändern, umzustürzen, dem Volke seine Würde wiedergibt (…).“(S.55) „was die herrschende Klasse an uns hasst, ist, daß die Revolutionen trotz hundert Jahren Repression, Faschismus, Antikommunismus imperialistischer Kriege, Völkermord wieder ihren Kopf erhebt,“ (S. 56) Genau in diesem Sinne begreift die RAF sich als ‚Avantgarde‘ und genau diesen Anspruch bestreiten wir: „Es ist eine Funktion, die das Volk (!) der Guerilla in seinem eigenen Bewußtsein, im Prozeß seines eigenen Aufwachens, der Wiederentdeckung seiner eigenen Rolle in der Geschichte gibt (!), indem es in der Aktion der Guerilla sich selbst erkennt (!), die Notwendigkeit ‚an sich‘, das System zu vernichten, als Notwendigkeit ‚für sich‘ erkennt – durch die Aktion der Guerilla, die sie bereits zur Notwendigkeit für sich gemacht hat.“ (S. 57) Ulrike Meinhof will mit dieser Argumentation die Kritik der Opportunisten, die RAF sei eine ’selbsternannte Avantgarde‘ zurückweisen. Das Zuviel an Hegelei und Konstruktion kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein logischer Widerspruch in der Argumentation vorliegt: Wie kann das total integrierte „Volk“, das die Stadtguerilla als ‚ganz andere’ Avantgarde der Metropolen ja begründet hat (s.o), anders als in der Metaphsik dieselbe Guerilla sozusagen ‚beauftragen’ mit ihrer besonderen Funktion? Es ist ja gerade nicht so, dass das „Volk“ in der BRD „die Notwendigkeit ‚an sich’, das System zu vernichten“, in sich trägt.
KRITIK DER SOZIALDEMOKRATIE
Dadurch, daß sie militant die unterdrückten Nationen vertritt, erkennt Ulrike Meinhof besonders deutlich in der Kolonialfrage, wie sehr die Verbrechen der heutigen Sozialdemokratie mit dem Opportunismus der II. Internationale bereits vor 1914 zusammenhängen: „Wenn Brandt heute über die sozialistische Internationale das konterrevolutionäre Projekt der Sozialdemokratie – ihr Entwicklungsprojekt als Projekt der Unterwerfung der Staaten des US-Staatensystems unter das Entwicklungsmodell des US-Kapitals, Kapitalinvestionen um den Preis der Aufgabe nationaler Souveränität, d.h. konkret im Fall Griechenland, Türkei, Spanien, Portugal Bindung an die NATO, im Fall Jugoslawien Annäherung an die NATO – organisiert, ist daran zu erinnern, daß diese Partei ihre Wurzeln in der zweiten Internationale hat, deren Votum in der Kolonialfrage eindeutig und immer rassistisch, chauvinistisch, immer das Votum für die imperialistische Ausbeutung, gegen die Befreiung der Völker der dritten Internationale war.“ (S. 15f) Dem Entwicklungsmodell der Sozialdemokratie – „Wirtschaftshilfe plus counterguerilla“ -,“das die Konterrevolution organisiert“, stellt sie positiv Lenins Parteinahme tür die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt entgegen
Einen zweiten wesentlichen Grundpfeiler des Opportunismus sieht sie im Pazifismus, der wiederum Bolschewismus und Sozialdemokratie trennte. „In der Oktoberrevolution kulminierte die Arbeitermacht, der Lenin durch die Partei aus den Klassenkämpfen von .1905 Kohärenz, Dichte, Kontinuität gegeben hatte – vor allen Dingen (!) durch seine präzisen Einschätzungen der Funktion des Krieges für die Entwicklung der Insurrektion; während in Deutschland die Sozialdemokraten ja nicht nur 1914 den Kriegskrediten zugestimmt hatten, sondern auch auf der Zimmerwalder Konferenz die Parole der ‚Entwaffnung‘ – also Pazifismus zu Arbeiterpolitik erklärt hatten, und – was sicher entscheidend ist für den Gebrauch der Organisationen des Proletariats für das Kapital nach dem 1. Weltkrieg – es waren während des Krieges die Gewerkschaften, die in den Betrieben die Ausbeutung der Arbeitskraft für den Krieg, also kriegswirtschaftlich organisierten.“ (S. 32)
Seit der Oktoberrevolution 1917 sei kapitalistische Politik ‚Reaktion‘ und „Antizipation der Katastrophe, um sie zu verhindern“ (Brandt). Deshalb hält Ulrike Meinhof es für falsch, „bei der Politik der Sozialdemokratie nach 1918 – also nach Beseitigung der Monarchie als einzigem Resultat der Rätebewegung – von Verrat zu sprechen. Darum ging es nicht. Die Sozialdemokratie war vom Moment der Oktoberrevolution an (!) das Instrilmpnt des Kapitals auf der Ebene des Staates und vermittels der Gewerkschaften auf der Ebene des Proletariats (!), den Antikommunismus zu organisieren und durch die Entpolitisierung der Klassenkämpfe diese zu einem Moment der Entwicklung des Kapitals zu machen.“ (S. 33 f) Sie sieht die SPD dann im Zusammenhang mit Roosevelts ‚New Deal‘ Anfang der dreißiger Jahre. Gemeinsame Hauptkennzeichen sind demnach (S 33/34):
„Taylorismus als Methode der Spaltung des Proletariats in der vergesellschafteten Produktion“; Krisenbewältigung des ‚New Deal‘ als „Faschismus auf der Ebene der Ökonomie;‘ sozialdemokratische Organisation des Proletariats in Gestalt der Verstaatlichung der ökonomischen Kämpfe, der Institutionalisierung des Widerspruchs und der Antizipation der Klassenkämpfe durch Sozialpolitik, um sie zu entpolitisieren; sozialdemokratische „Strukturierung der Gesellschaft durch den Staat, durch die Herstellung eines dichten Netzes von Regierungsstellen in der Gesellschaft“; „Verstaatlichung der Gesellschaft als das antikommunistische Modell: schließlich „Konsumentenkultur – also durch das Fließband möglich gewordene Massenproduktion von Konsumgütern, vermittelt an die Arbeiter durch höhere Löhne um den Preis der Intensivierung der Arbeit.“
Ulrike Meinhof sieht eine Kontinuität von Bismarcks ‚Sozialgesetzgebung‘ (als Methode der Entmachtung der Sozialdemokratie) über die ‚innere Pazifizierung‘ des Proletariats nach dem 1. Weltkrieg durch die SPD zum antikommunistischen „Planstaat“, wie er nach 1945 durch das US-Kapital mithilfe der eingekauften SPD und DGB (Böckler) konstituiert wurde (S. 33). Nach der Durchsetzung der Linie Kurt Schumachers in der SPD-Führung hatte die Sozialdemokratie „die alte Rolle von 1918, Bollwerk gegen den Einfluß von Kommunisten und gegen jeden Ansatz von Arbeiterautonomie zu sein, jetzt finanziert vom US-Kapital, wieder übernommen“ (S. 39). Wie die BRD rein als ‚Kolonie‘ des US-Systems begriffen wird, als „counter-Staatsgründung im Ost-West-Konflikt“, so wird die SPD in ihrer besonderen Marionettenfunktion für die US-Strategie nach 1945 dargestellt, vor allem nach dem Vietnamkrieg. Allerdings sieht Ulrike Meinhof, wie überhaupt die ‚Neue Linke‘, einen qualitativen Unterschied zwischen der Sozialdemokratie der Weimarer und der Bonner Republik, eine neue Steigerung ihrer konterrevolutionären Qualität. Das ist falsch. Überhaupt fällt auf, dass die Weimarer Sozialdemokratie überhaupt nicht analysiert wird, also auch nicht deren damalige Beziehung zum US-Imperialismus (siehe z.B. Leo Trotzki „Europa und Amerika“, Berlin 1926) ! „aus der besonderen Infamie (!) dieser Partei, erstens sowieso die revisionistische Partei des Proletariats zu sein und als solche der Agent des Kapitals im Proletariat schon immer, jetzt aber (!) selbst unmittelbar dirigiert von den Richtlinien von Clay in Berlin, des CIA, des Pentagon usw.“ (S. 39f)
Für die von Ulrike Meinhof selbst erlebte Zeit nach 1945 hat sie eher eine weltweite Verschwörertheorie als einen wirklichen umfassenden Begriff von der Sozialdemokratie, ihrer besonderen Funktion und Macht. Sehr scharf und richtig sieht sie die ‚NATO-Partei’, den Repressionsaspekt. Das Verhältnis der Arbeiter und Kleinbürger zur SPD wird kaum erfaßt. In ihrem Fragment zu den Beweisanträgen in Stuttgart-Stammheim „Geschichte der BRD, alte Linke“ gehört der Versucht zu beweisen, „daß die politische Direktionsgewalt dieses Staates nie an seine verfassungsmäßigen (!) Organe übergegangen ist,“ (S. 40) und daß in der BRD „die Verfassung eines US-Marionettenregimes“ herrscht (S. 38)‘, zum Schwächsten, was sie überhaupt geschrieben hat (siehe insgesamt S. 38-45).
Wenn sie über „Kanzlerdemokratie, durch Länderföderalismus in seiner Kompetenz eingeschränktes Parlament (!)“ usw. schreibt (S. 40) und sogar behauptet: „Diese Politik (der Rekonstruktions- und Restaurationsperiode nach dem 2. Weltkrieg unter dem Adenauer-Regime, Anm.d.Verf.) stand auch nie zur Disposition, über sie ist nicht (!) in Wahlen abgestimmt, sondern in Washington entschieden worden“ (S.38), dann schimmert nicht nur die gute alte ‚Moral’ der enttäuschten (Sozial-)Demokraten hindurch – es wird darüber hinaus deutlich, wie hilflos die RAF der tatsache gegenübersteht, dass dieses System sich über Wahlen und Sozialdemokratie von zeit zu Zeit der Loyalität der mehrheit der Bevölkerung und der Arbeiterklasse versichern konnte! Was soll das heißen: Dies sei keine richtige (bürgerliche) Demokratie? Es gibt gar keine!
Ihre Beteiligung an den Ostermärschen und an der Anti-Atomtod-Bewegung Ende der fünfziger Jahre machten Ulrike Meinhof andererseits äußerst sensibel gegenüber der Demagogie und ‚Integrationskraft‘ der Sozialdemokratie. Ihre Wut über die Art und Weise, wie die SPD alle außerparlamentarischen Oppositionen abwürgte und aufgesogen hat, trifft die Sache haargenau: „Immerhin hat die alte Linke Brandt kennengelernt, als er 1958 in seiner Eigenschaft als eine – wie alle Berliner Bürgermeister – unmittelbar vom CIA dirigierte Maske durch die westberliner Betriebe zog und sich mit maßloser, antikommunistischer Hetze an die Spitze der Unruhe in den Betrieben wegen des Bonner Projekts der Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen stellte – um sie zu usurpieren, abzuwürgen und antikommunistisch zu wenden.“ (S. 38) Anti-Atomtod-Bewegung, IG-Metall-Opposition und SDS gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968, APO…alle führen zu dem einen Fazit: „So ist zu verstehen, daß sich keine Oppositionsbewegung in der BRD in der Zeit bis zur Studentenrevolte auch nur bis zu einem Reflex im Parlament durchkämpfen konnte – weil alle Oppositionsbewegungen von der Sozialdemokratie usurpiert und abgewürgt worden sind.“ (S. 39)
Die äußere Beziehung der SPD zur NATO wird exakt beschrieben: „Der Prozeß der SPD bzw. der Anpassung ihrer offiziellen politischen Linie an die offizielle amerikanische Außenpolitik, so an die CDU, ist der Prozeß ihrer Tätigkeit, oppositionelle Bewegungen, die es bis etwa 1960 noch gab – gegen Remilitarisierung, Faschisten im Staatsapparat, gegen die Integration der BRD in die NATO, gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen – zu zerstören, bis Wehner 1960, auf die große Koalition zusteuernd, das Bekenntnis der Sozialdemokratie zur NATO, zur Westintegration der BRD, zu den Zielen von Adenauers Ost-Politik – roll-back – offen ausgesprochen hat, was nur das Signal für die amerikanische Außenpolitik war, daß die Sozialdemokratie ihren Nachkriegsauftrag ausgeführt hatte: die legale Opposition in der BRD aufgesaugt und zerstört zu haben.“ (S. 40) Das innere Verhältnis der Arbeiter und revoltierenden Studenten zur Sozialdemokratie jedoch bleibt im Dunkeln. Die einzige Erklärung: „Wenn man in einem Wort sagen will, wodurch sich die Sozialdemokratie0 schließlich für das US-Kapital qualifiziert hat, muß man sagen: durch Demagogie.“ (S. 42) Hat man alleine diese ‚Erklärung‘, dann bleibt wohl nichts anderes mehr: man muß als Oppositioneller zur Bombe greifen. Andere Kampfmethoden und -felder geraten nicht in den Blickwinkel. ,
Unsere Kritik an der Theorie des ’neuen Faschismus‘ hat bereits gezeigt, daß trotz vieler richtiger Züge die RAF insgesamt eine ultralinke Einschätzung der Sozialdemokratie vertritt, die auch in bedenkliche Nähe zur KPD-Theorie aus der ‚dritten Periode‘ (1928-1933/34) gerät (‚Sozialfaschismus‘). „Innerhalb Westeuropas ist der Hauptfeind (!) USA, die Bundesrepublik der Sozialdemokratie (!!) – weil nur sie aus ihrer Geschichte und ihrer Verfügung über die sozialdemokratische Internationale und ihrem Kontakt (!) zu den Gewerkschaften über das Instrumentarium des neuen Faschismus: verstaatlichte Gewerkschaften und Parteien, die noch Basiskontakt haben, verfügt.“ (S. 43) Eine allgemeine Tendenz der imperialistischen Epoche wird bereits als faschistisch qualifiziert (siehe Leo Trotzki), „Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Verfalls“, 1940) Gerade weil sie sich auf die Arbeiter stützen kann, wird die Sozialdemokratie für die Ultralinken zum Hauptfeind. Unsere Kritik an dieser verhängnisvollen Einschatzung ist oft vorgebracht worden.
KRITIK AM MOSKAUER UND PEKINGER STALINISMUS
In den Briefen Ulrike Meinhofs finden sich nur wenige Bemerkungen über die Sowjetunion. Das sowjetische Entwicklungsmodell wird als problematisch im Inneren bezeichnet: „Aufbau der Schwerindustrie/Ungleichzeitigkeit“. (S. 17,) Der ‚Sozialismus in einem Land‘ wird zurückgewiesen und vor allem unter dem Aspekt angesprochen, daß die Sowjetunion mit dieser Ideologie seit 1924) ihre weltrevolutionäre Avantgarderolle aufgegeben habe. Die sowjetische Außenpolitik behaupte nur noch, vom ‚Standpunkt des Weltproletariats‘ auszugehen; das Akkumulationsmodell der Sowjetunion sei nur „als sozialistisch behauptet“. „Es ist der Standpunkt – die Apalogie – des Sozialismus in einem Land und das heißt: eine Ideologie der Herrschaftssicherung einer Diktatur, die sich genau nicht offensiv aus dem Gegensatz zum Imperialismus, sondern defensiv aus den Zwängen der Einkreisung bestimmt hat – du kannst sagen, die sowjetische Politik nach innen und außen war historisch notwendig – ihre Verabsolutierung als Klassenstandpunkt kannst du nicht übernehmen.“ (S. 11)
Die letzten beiden Sätze deuten schon an, daß die RAF für einen gewissen Opportunismus gegenüber der Sowjetunion offen ist. So wird auch nicht erklärt, wer seine Diktatur durch die Ideologie vom ‚Sozialismus in einem Land‘ absicherte. Ebenfalls wird immer noch eine direkte Kontinuität zwischen der Komintern Lenins/Trotzkis und den ‚Kommunistischen Parteien‘ unter Stalin behauptet: „Die dritte Internationale hat die kommunistischen Parteien als Operatoren des bewaffneten Kampfes, schließlich der Bauernrevolution in China und Indochina orgganisiert. Die kommunistischen Parteien Koreas und Indonesiens sind im Schutz der KI dazu gekommen, die antikoloniale Revolution zu organisieren, während die kommunistischen Parteien Lateinanie rikas als Produkte eurozentrischer Intellektueller die lateinamerikanische Basis, die Bevölkerung nicht erreicht haben. Die dritte Internationale – das ist das Wesentliche – war anti-weiß, so daß, wenn man sich heute fragt, woher die Sowjetunion ihr Prestige in der Dritten Welt – außer daß sie es natürlich aus den Waffenlieferungen an die Befreiungsbewegungen hat – nimmt, das die geschichtliche Linie ist, an die sie anknüpfen kann und anknüpft.“ (S. 16f) Weil die Sowjetunion häufig nationale Befreiungsbewegungen materiell unterstützt hat, wird sie irgendwie als – wenn auch defensiv – fortschrittlich eingeschätzt. Art, Umfang und Grenzen dieser Hilfe sowie ihr Stellenwert für die Kreml-Bürokratie werden nicht weiter untersucht. Dass diese ‚Hilfe’ in etlichen politischen konterrevolutionären Bemühungen bestanden hat, wird nicht gesehen. Dass Stalinmismus Klassenkollaboration, Reformismus, Volksfrontpolitik usw. bedeutet, kommt nicht in den Griff. Schließlich bleibt eine Perspektive für die bürokratzisch deformierten unerwähnt.
Im Grunde wird entschieden nur der Komplex ‚Sozialismus in einem Land/friedliche Koexistenz‘ – ähnlich wie bei Che Guevara – zurückgewiesen, dieser aber deutlich: „Antiimperialistischer Kampf hier ist nicht und kann auch nicht sein: Nationaler Befreiungskampf (vgl.jedoch S.37, Anm.d.Verf.) – seine Perspektive nicht: Sozialismus in einem Land. Der transnationalen Organisation des Kapitals, den weltumspannenden Militärbündnissen des US-Imperialismus, der Kooperation von Polizei und Geheimdiensten, der internationalen Organisation der herrschenden Eliten im Machtbereich des US-Imperialismus – entspricht auf unserer Seite, der Seite des Proletariats der revolutionären Klassenkämpfe, der Befreiungsvölker der Dritten Welt, der Stadtguerilla in den Metropolen des Imperialismus: der proletarische Internationalismus.“ (S. 49)
Besteht bei der RAF noch eine gewisse Sympathie für das ‚Mutterland der proletarischen Revolution‘, so wird dagegen der Maoismus heftig zurückgewiesen. Was sie insbesondere kritisiert, sind die Maoisten in der Bundesrepublik (s.u.) und Chinas Außenpolitik. Dabei hält sie Chinas Außenpolitik weder für leninistisch noch stalinistisch, denn: „In der Kolonialfrage war Stalin Leninist bis ultralinks.“ Und sie plant eine „Kritik an der ML“, in welcher sie die „Identität von Antikommunismus und ihrer (der Maoisten, Anmerk. d.Verf.) Politik gegen den Sozialimperialismus analysieren will.“(S.15) . Sie ist der Ansicht, dass die Maoisten (die „Ferkel“) sich zu Unrecht auf Stalin beriefen (S.15)! Natürlich lehnt sie die maoistische Version der ‚Vaterlandsverteidigung’ in imperialistischen Ländern (der ‚zweiten Zone’) ab. Während die Sowjetunion die „Unterdrückung des bewaffneten Kampfes“ zugesprochen wird, wird China dahingehend kritisiert, dass es „die unabhängigen Staaten in der Bord-Süd-Front neutralisiert und so für die Politik des Imperialismus wirksam wird“ (S. 17). Der chinesische Anspruch, die Völker der ‚Dritten Welt‘ gegen die beiden Supermächte USA und UdSSR zu führen ‚bzw. gegen die UdSSR als ‚Hauptfeind Nr. 1‘ und die USA), wird im ganzen richtig entlarvt: „Der chinesische Versuch Anfang der 6Oiger Jahre, den Sino-sowjetischen Konflikt als Konflikt zwischen weißem Kommunismus und dem Kommunismus der schwarzen, gelben, roten usw. Bevölkerung in Lateinamerika, Afrika und Asien zu entwickeln, war, muß man im Rückblick sagen, der Versuch, die starke Tradition der dritten Internationale für China zu usurpieren, um sie abzuwürgen – insofern die chinesische Außenpolitik genau nicht die farbigen Befreiungsbewegungen gegen den-Imperialismus organisiert, sondern neutralisiert (!) bis hin zur Unterstützung reaktionärer Regimes (!!) wie das von Frau Bandaranaike auf Ceylon (Sri Lanka) gegen die Befreiungsbewegungen, die von der reaktion ‚Guevaristen’ genannt werden, für deren vernichtung, wozu sie Frau Bandaranaike die counter-guerilla-Ausrüstungen – Hubschrauber uws. – geliefert hat.“ (S. 17) Sicherlich hat die chinesische Außenpolitik vor allem der 70er Jahre der ‚Neuen Linken‘ viele maoistische Illusionen und reaktionäre Utopien genommen; aber einen Versuch, diese Kritik der chinesischen Außenpolitik auf die Innenpolitik auszuweiten, macht sie nicht. Es bestehen ja in der ‚Neuen Linken’ immer noch illusionäre Fehleinschätzungen der ‚Kulturrevolution’.
Noch gravierender aber ist, dass Ulrike Meinhof bzw. die RAF ihre Kritik an Chinas Haltung gegenüber dem Aufstand der JVP in Sri Lanka vom April 1971 nicht verbindet mit einer Kritik der Moskau-orientierten KP, die sich zusammen mit Frau Bandaranaikes SLFP und der LSSP in ewiner Volksfrontregierung befand befand, welche den Aufstand der Aufstand der Jugend blutig niederschlug! (siehe das ausführliche Interview mit Edmund Samarakoddy, in: Grußße ‚Solidarity’,“Aufstand in Ceylon“, Hamnurg 1974). Weder stößt Ulrike Meinhof überhaupt auf die Problematik der Volksfrontpolitik, noch erkennt sie die Einheitlichkeit der stalinistischen Schweinereien – trotz der verschiedenen Interessenlagen der Kreml – und der Pekinger Bürokratie – in Klassenkollaboration Etappentheorie usw.
URSPRUNG UND SELBSTVERSTÄNDNIS DER RAF
Wie schon gezeigt, besteht ja als Voraussetzung der RAF das Eingeständnis, daß die Geschichte der(traditionellen)Linken in der BRD die Geschichte ihrer Niederlagen ist (S. 37) „Die Geschichte der alten Linken in der Bundesrepublik ist die Geschichte ihrer Instrumentalisierung und Entnervung durch die kommunistische Partei, als einem Anhängsel der DDR, und ihrer Korruption durch die Sozialdemokratie, ihrer Symbolfiguren oder besser – Masken: Heinemann und Brandt.“ (S. 38)
Die RAF sieht sich nun ganz in der theoretischen wie praktischen Tradition der ‚Neuen Linken‘ als der einzigen radikalen Oppositionsbewegung, die drohte, die Grenzen des pralamentarischen Systems und der sozialdemokratischen Integration zu durchbrechen. Dabei weist sie die Einschätzung der Studentenrevolte und der RAF als (klein-)bürgerlich zurück als eine Waffe des“verwissenschaftlichten Antikommunismus“ der psychologischen Kriegsführung: „(…) wie es zu den Verzerrungen der Tatsachen durch die psychologische Kriegsführung gehört, die RAF sei eine Gruppe aus Typen und Tanten der oberen Mittelklasse mit bürgerlicher Sozialisation, wenn schon Soziologie, ist dazu mal zu sagen, daß die Hälfte von uns aus proletarischen Verhältnissen kommt – Volksschule, Lehre, Fabrik, Heim, Gefängnis. Die Behauptung negiert, und sicher auch aus Ignoranz, daß mit der dritten reelen Subsumtion Anfang der 60iger Jahre massenhaft Proletarisierungs- und Deklassierungsprozesse stattgefunden haben – im Prozeß der Vermassung und Technokratisierung der Universitäten, der Konzentration der Medien usw., die die innere Ursache der Mobilisierung an den Universitäten (!) ab 1966 waren. Ihre äußere Ursache war der amerikanische Krieg in Vietnam.Und sie versucht die Tatsache wegzulügen, daß alle Kämpfer in der RAF in den Basisprojekten der neuen Linken seit Ostern 1968 gelernt und gearbeitet haben. Der Kampf selbst proletarisiert (!?) die Kämpfer. Besitzlosigkeit (…) das ist sicher kein soziologischer Proletariatsbegriff. Der interessiert uns auch nicht. Proletariat ist kein Begriff aus der Abstammungslehre der Faschisten – er bezeichnet ein Verhältnis, das Verhältnis der Guerilla zum Volk – bezeichnet das Verhältnis des Proletariats zum imperialistischen Staat, definiert als Todfeindschaft, als antagonistisch als Klassenkrieg, Proletariat ist ein Kampfbegriff.“ (S. 28f) Es ist aber nicht bürgerliche Soziologie, sondern Marxismus, streng zu unterscheiden zwischen Proletarisierungs- und Deklassierungstendenzen (s. Absinken von kleinbürgerlichen Elementen z.T. unter das Niveau der Arbeiterklasse;strukturell Arbeitslose usw.) im Imperialismusfund zwar nicht aus moralischen Gründen. ‚Proletariat‘ ist nicht alles, was gesellschaftlich absinkt, sich in bedürfnislosen Kollektiven findet und sich kämpferisch dem System widersetzt; Proletariat ist nicht schon der Arme, sondern derjenige, der ein bestimmtes Produktionsverhältnis eingeht (s. Verkauf und Reproduktion der Ware Arbeitskraft, Lohnabhängigkeit sowie Erzeugung von Mehrwert und Waren) und diese Tatsache mit vielen anderen sich im Klassenkampf ins Bewußtsein zu heben in der Lage ist! Wir treffen hier wiederum auf eine Einschränkung des Klassenbegriffs im subjektiven und voluntaristischen Sinne (s.o.). Völlig richtig ist jedoch, daß sowohl Teile der APO ab Ostern 1968 wie die späteren Mitglieder der RAF ‚mit der Arbeiterklasse zu tun‘ hatten: Lehrlingsgruppen, Heimfürsorgezöglinge, Strafgefangene u.a. schlossen sich der Revolte an und wurden organisiert, z.B. von Andreas Baader und Ulrike Meinhof (siehe auch Bommi Baumann, ‚Wie alles anfing“, 1.Auflage, München 1975, Trikont-Verlag).
Für Ulrike Meinhof hat zum Scheitern der radikalen politischen Orientierung vor allem geführt, daß „ein Staat mit dem ökonomischen Potential der Bundesrepublik für die Dauer von nunmehr dreißig Jahren über keine eigene politische Direktionsgewalt verfügt“ (S. 36). Also muß man den Kampf der traditionellen Linken durch den „bewaffneten anti-imperialistischen (!!) Kampf“ gegen das US-BRD-Kartell bzw. die Verbindung NATO-CIA-SPD ersetzen: (S. 37) In dieser Richtung kritisiert sie auch die maoistischen Gruppierungen, die am Ende der Studentenrevolte stark wurden: „1969 waren es die ML, KSV und AO-Gruppen, die mit dem ‚Klassenstandpunkt‘ die politische Bewegung an den Universitäten entpolitisiert haben, indem sie eine Politik als richtig behauptet haben, der kein Student mehr emotional (!!) folgen konnte – es war ’ne Liquidationsposition gegen die antiimperialistische Protestbewegung, und ich denke, das ist der Horror an den Begriff (Klassenstandpunkt) und seinem Inhalt, daß er die emotionale Identifizierung proletarischer Politik als Möglichkeit ausschaltet – er ist ein Katechismus.“ (S. 12) Das ist eine sehr merkwürdige Erklärung für das Abebben der Studentenrevolte in der sozialdemokratischen bzw. subkulturellen Sackgasse. Trotz ihrer historischen Verdienste, die tiefe Perspektivlosigkeit dieser Revolte wird gar nicht begriffen. Daß diejenigen, die nicht kapitulierten, die sich nicht verkrümmelten, Karriere in und außerhalb der SPD machten, in ihrer großen Zahl (es war die Mehrheit einer Minderheit der früheren APO) zu den Mao-Stalinisten gingen, hat Ursachen im Versagen der VS-Internationale, aber auch darin, daß die Maoisten sich wie die APO an die „Dritte Welt“, an China und Korea, Albanien und Vietnam anlehnten! Hier liegt durchaus eine Kontinuität, die Ulrike Meinhof nicht sieht.
Interessant ist ihr Kriterium, die politische Brisanz der Studentenrevolte habe in ihrer extremen Subjektivität gelegen. Dieses Kriterium taucht öfter auf, wo die emotionale Kollektivität der Guerilla der toten Dogmatik und weißen Leere der ‚Parteien‘ gegenübergestellt wird.“Was die Reflektion der großen antiimperialistischen Mobilisierung in den Metropolen 1966/67 gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam betrifft, so läßt sich einfach nicht abstreiten, daß die legale Linke sie vermarktet, konsumiert, in ihrer Erinnerung zum Objekt ihrer Euphorien gemacht hat, aber genau nie die Anstrengung unternommen hat, zum Begriff dessen zu kommen, was wirklich gelaufen ist, woher die Studentenbewegung ihre Explosivkraft nahm, die politische Relevanz ihrer Subjektivität (!!) usw.“ (S. 37)
Die RAF will nun dort einsetzen und mit anderen Mitteln, aber der gleichen existentiellen Radikalität und subjektiv-revolutionären Ehrlichkeit weitermachen, wo die Studentenrevolte aufhörte und versagte bzw. zerstört wurde! Hauptziel bleibt der „antiimperialistische Befreiungskampf“ in Verbindung mit der ‚Dritten Welt‘ gegen die imperialistische Metropolis-Gesellschaft. Sie ist also nicht nur ein Teil der Linken und deren Geschichte in der BRD. Sie ist auch ein Reflex auf das Versagen der ‚traditionellen Linken‘, ihre Immobilität, Zerstrittenheit, z.T. dogmatische Hohlheit, auf Ökonomismus, Reformismus und Sektierertum. Insofern sind wir alle mit verantwortlich für das, was durch und mit der RAF bzw. Bewegung ‚2. Juni‘ geschehen ist – die Reformisten, die es nicht wahrhaben wollen, am meisten!! Die RAF wird auch nur dann von unserem besseren Weg überzeugt werden können, wenn wir Trotzkisten an politischer Dynamik und Offensive gewinnen, die gegründet sind auf ein wissenschaftliches Kampfprogramm.
Der Mensch ist frei geboren, und überall ist er in Ketten.“ (Jean-Jaques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag / 1762, 1.Satz)
Einer der Hauptvorwürfe Ulrike Meinhofs an die ‚traditionelle‘ oder ‚alte Linke‘ ist deren Nationalborniertheit bzw. fehlender Internationalismus. „Der nationalstaatlichen Fiktion; an die sich die revisionistischen Gruppen mit ihrer Organisationsform klammern, entspricht ihr Legalitätsfetischismus, ihr Pazifismus, ihr Massenopportunismus, Nicht daß die Mitglieder dieser Gruppen aus dem Kleinbürgertum kommen, werfen wir ihnen vor, sondern, daß sie in ihrer Politik und Organisationsstruktur (!) die Ideologie des Kleinbürgertums reproduzieren, dem seit je der Internationalismus des Proletariats fremd ist, das sich – und das kann seiner Klassenlage und seinen Reproduktionsbedingungen nach nicht anders ein – schon immer komplementär zur nationalen Bourgeoisie, zur herrschenden Klasse im Staat organisiert.“ (S. 50) Diese Passage ist immerhin eine große Herausforderung an die Trotzkisten, die Bekenner der IV. Internationale, die sich augenscheinlich in der BRD nicht ausreichend bemerkbar gemacht haben. Richtig ist, daß die Stalinisten und Zentristen aller Art es aufgegeben haben, ein internationales Programm zu rekonstruieren, eine internationale Strategie durch eine internationale Organisation zu realisieren. Und all dies beansprucht die Metropolenguerilla im Zusammenhang mit den Kämpfen der „Dritten Welt“. (s.o.)
Aus ihrem Internationalismus-Verständnis und der marxistischen Einsicht, daß der ‚Hauptfeind im eigenen Land steht‘, folgt für die RAF konsequent die scharfe Kritik am „Legalitätsfetischismus“ und „Pazifismus“ der weißen Linken: „Wie ist es möglich, daß sich ein KBW-Linker eher in Portugal, indem er dort in einer landwirtschaftlichen Kommune arbeitet, erschießen läßt bzw. in Lebensgefahr begibt, als hier aus der Illegalität gegen das System, das inzwischen auch in Portugal wieder auf Arbeiter schießen kann, zu kämpfen – nach dem, was in Chile mit der Präzision eines Uhrwerkes gelaufen und abgelaufen ist?“ (S. 16) Die Frage ist in der Tat berechtigt. Ulrike Meinhof stellt nicht den ehrlichen Einsatzwillen der(meisten)Linken in Frage. Sie fragt vielmehr: Was haben die für politisch-ideologische Fesseln, daß sie in der Bundesrepublik – als einer imperialistischen Hochburg – nicht mit derselben Militanz zu kämpfen bereit sind, die sie für Vietnam oder in Portugal einsetzen! Was sie also der ‚alten Linken‘ vorwirft, ist, daß sie ihren Hauptfeind – das imperialistische Nervenzentrum BRD – nicht oder nicht mit den adäquaten Mitteln bekämpft. Allein dieser Kampf könne nach Ulrike Meinhof auch den Vietnamesen oder Portugiesen helfen …
Wieder ist die Antwort der RAF nur halb richtig. Denn sie trägt genau nichts bei zur Beantwortung etwa folgender Fragen, die die internationale Arbeiterklasse dringend angehen: Welches ist der politische Charakter der FNL? Wie sind die bürokratischen Deformationen des in Vietnam entstandenen ‚Arbeiterstaates‘ zu erklären und zu beseitigen? Wie konnte man die Unterordnung der portugiesischen Revolutionäre unter die MFA verhindern, oder die verhängnisvolle Spaltung KP/SP überwinden? Welches sind die Fehler und Lehren aus den portugiesischen Novembererreignissen 1975? Was besagte ‚Poder Popular‘ in Chile 1973 und was bedeutet sie im Portugal der Jahre 1974/75? usw. usf. Der ‚proletarische Internationalismus‘ besteht eben nicht allein darin, einen Computer in Wiesbaden oder Frankfurt anzugreifen oder eine Kampagne in der BRD „NATO – Hände weg von Portugal! NATO raus aus Portugal!“ zu organisieren, sondern ebenso in der Rekonstruktion eines internationalen Kampfprogramms durch die Intervention in die Brennpunkte des internationalen Klassenkampfes!
Trotz alledem hat Ulrike Meinhof einen wunden Punkt der ‚legalen‘ Linken in der BRD getroffen, einen Teil von deren politischen Bankrott sichtbar gemacht: „In den Zusammenhang (der institutionellen Strategie des’neuen Faschismus‘, Anm.d.Verf.) gehört natürlich die von der legalen Linken überhaupt nicht begriffene Tatsache ihrer bereits vollstreckten Internierung im Computer des BKA (!), ihrer selbst samt Bekannten- und Freundeskreis, sowie die Adreßbücher, die bei der ‚Aktion Winterreise‘ beschlagnahmt wurden und alle anderen Informationen, die sie seit 1966/67 spätestens systematisch sammeln, reichen. Wobei schon klar ist: wenn das BKA 394 Waffensammler in einer koordinierten Aktion schnappen kann, kann es natürlich auch die ganze legale Linke in einer Aktion in die Stadien abtransportieren.“ (S.45) Das ist voll und ganz zutreffend. Die geschwätzige und zerhackte bundesrepublikanische Linke hat auf die massiven Herausforderungen des bürgerlichen Staates – vor allem nach 1971/72 – völlig unangemessen reagiert. Die nicht oder nur minimal geführten programmatischen Diskussionen können überhaupt keine Entschuldigung dafür sein, daß man keine einheitliche ‚Rote-Hilfe-Organisation‘, keine Schutz- und Trutzbündnisse usw. aufgebaut hat. In den Schlägereien und Verleumdungen, die die Sekten sich untereinander geliefert haben, wird das abgekapselte Sektierertum deutlich, das unfähig ist zu den einfachsten Aktionseinheiten – nicht jedoch (wie die Linksreformisten und Zentristen meinen) in der scharf geführten politischen Kontroverse, die notwendig ist.
Einen weiteren töneren Fuß der ‚revisionistischen Linken‘ sieht Ulrike Meinhof in dem, was sie „Massenopportunismus“ nennt. Dies ist vielleicht die wichtigste Kritik und Ulrike Meinhof führt ins Feld, was Lenin 1916 „gegen das Kolonial- und Renegatenschwein Kautsky“ geschrieben hat: „Es liegt kein Grund vor, ernsthaft anzunehmen, daß im Kapitalismus die Mehrheit der Proletarier in Organisationen zusammengefaßt werden könnte. Zweitens – und das ist die Hauptsache – handelt es sich nicht so sehr um die Mitgliederzahl der Organisation, als vielmehr um die reale objektive Bedeutung ihrer Politik: vertritt diese Politik die Massen, dient sie den Massen, d.h. der Befreiung der Massen vom Kapitalismus oder vertritt sie die Interessen der Minderheit, ihre Versöhnung mit dem Kapitalismus? – Wir können nicht und niemand kann genau ausrechnen, welcher Teil des Proletariats den Sozialchauvinisten und Opportunisten folgt und folgen wird, das wird erst der Kampf zeigen (!!), das wird endgültig die sozialistische Revolution entscheiden, aber es ist unsere Pflicht, wenn wir Sozialisten bleiben wollen, tiefer, zu den untersten Massen zu den wirklichen Massen zu gehen, darin liegt die ganze Bedeutung des Kampfes gegen den Opportunismus und der ganze Inhalt dieses Kampfes.“ (S.53) Das ist in der Tat das A & O des Bolschewismus, man braucht dem hier nicht viel hinzuzufügen.
Im gleichem Sinne schrieb Trotzki 1938 im „Übergangsprogramm“:
„Alle opportunistischen Organisationen konzentrieren ihrer Natur nach ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die oberen Schichten der Arbeiterklasse und ignorieren demzufolge die Jugend genauso wie die werktätigen Frauen. Nun versetzt aber die Epoche des kapitalistischen Zerfalls der Frau die härtesten Schläge – als Arbeiterin wie als Hausfrau. Die Sektionen der IV. Internationale müssen bei den unterdrücktesten Schichten der Arbeiterklasse und demnach bei den werktätigen Frauen Unterstützung suchen. Sie werden dort unerschöpfliche Quellen der Ergebenheit, der Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft inden.“(„Übergangsprogramm“ S. 42, Verlag Ergebnisse & Perspektiven, Essen); dies gilt ebensosehr für nationale oder rassische Minderheiten, ‚Fremdarbeiter‘, Arbeitslose, ‚Fürsorgezöglinge‘, Strafgefangene, u.a..
„Damit es überhaupt Bewußtsein und Kampf gibt,muß sich jemand schlagen.“ Es wurde schon dargelegt, wie dieser richtige Satz Satres die RAF zu einer existentialistischen Version eines subjektiven Klassenbegriffes führt. Doch befähigt diese „existentielle Radikalität“ (S. 23) der RAF Ulrike Meinhof andererseits zu einer sehr scharfsinnigen Kritik des Opportunismus und seiner bürgerlichen ideologischen Wurzeln:
„Proletariat ist kein Begriff aus der Abstammungslehre der Faschisten – er bezeichnet ein Verhältnis -das-Verhältnis der-Guerilla zum Volk – bezeichnet das Verhältnis des Proletariats zum imperialistischen Staat, definiert als Todfeindschaft,als antagonistisch, als Klassenkrieg. Proletariat ist ein Kampfbegriff.“ (S. 29) Ulrike Meinhof kritisiert ebenso den faschistischen Arbeitsbegriff („Arbeit macht frei – also das Konzentrationslager“) wie die „protestantische Werkmoral“, also die Verherrlichung der Arbeit und ihrer alles vollbringenden Schöpferkraft durch das (frühe) Bürgertum. Marx hat bereits in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ (1875) der alten Sozialdemokratie ihren mystifizierten Arbeitsbegriff vorgeworfen und dessen zutiefst bürgerlichen Kern bloßgelegt. Im „Gothaer Programm“ hieß es:“Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums und aller Kultur.“ Marx antwortete darauf: „Die Arbeit ist nicht die Quelle allen Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, daß die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerlichen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen Sinn geben. Nur soweit der Mensch sich von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und – Gegenstände, verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum. Die Bürger (!!) haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn gerade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt,daß der Mensch, der kein anderes Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der anderen Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständigen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben.“ s. auch P.Lafargue ‚Le droit á la paresse‘ ‚Das Recht auf Faulheit (1880) und ergänzende Schriften, hrsg. M. Dommanget, Paris 1976/Maspero)
Bereits in John Lockes 2. Abhandlung „Über die Regierung“ (von 1690) im V. Kapitel war der Zusammenhang dieses Arbeitsbegriffes mit der bürgerlichen Eigentumsordnung und Klassenherrschaft klassisch ausgedrückt. (Reinbek 1966, S.29-44 /Rowohlts Klassiker Nr. 201/202). Der revolutionäre Marxismus widerlegt und bekämpft die Fetischisierung der Arbeit, also in seiner Konsequenz auch die Verherrlichung des Lebens und Kämpfens in der kapitalistischen Fabrik, innerhalb ihrer Begrenzungen oder der Grenzen der Gewerkschaften (Syndikalismus, Trade-Unionismus). Ulrike Meinhof verweist ebenfalls darauf, daß Marx die Eigentums- und Herrschaftsfrage über die „gegenständlichen Produktionsbedingungen“ herausgestellt habe und sie schließt daraus: „Woraus Marx die ökonomische Notwendigkeit und das politische Recht der Arbeiter abgeleitet hat, die Fabrik zu verlassen, sich zu bewaffnen (!!) und den Staat zu bekämpfen; und nur deswegen (!) berufen wir uns auf Marx, weil er die Notwendigkeit der Insurrektion den Klassenkampf als Klassenkrieg gegen das parasitäre Netz der repressiven und ideologischen Apparate, gegen den bürgerlichen Staat, wissenschaftlich begründet hat.“ (S. 30) In eben diesem Sinne bekennt sich Ulrike Meinhof auch zu Lenin: „Und nicht eine abstrakt-theoretische Position, von der aus oder für die er gekämpft hätte, sondern das Zentrum aller Fragestellung von Lenin ist die Organisation der Insurrektion im globalen Rahmen, also die Organisierung des bewaffneten Kampfes gegen den Imperialismus.“ (S. 16) Hierzu sind einige präzisierende und korrigierende Bemerkungen nötig, obwohl Ulrike Meinhof zweifellos den Opportunismus mit einem gewichtigen Argument getroffen hat und die RAF sich mit einigem Recht in die Tradition Babeuf-Blanqui-Lenin (und nicht in die der Anarchisten!) einordnet.
Zunächst zu Marx, Die frühen Schriften stehen noch ganz im Banne des (früh)bürgerlichen Enthusiasmus, daß die Arbeit alles schafft und alles wirkt, „das sich bewährende Wesen des Menschen“ und „Demiurg des Wirklichen“ ist (so die Pariser Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844).
Dieser Enthusiasmus findet sich auch noch im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 sowie der folgende Trugschluß, „der Fortschritt der Industrie“ setze „an die Stelle der Isolierung der Arbeiter ihre revolutionäre (!!) Vereinigung“ (MEW,Bd. 4, S. 474), In Wirklichkeit ersetzt „der Fortschritt der Industrie“ allein nur eine Form der Arbeitsorganisation durch eine andere. Die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte hat z.B. zu einer differenzierten Zerlegung des Arbeitsprozesses, zur Kombination und Kooperation der Arbeit, zur Anwendung der Wissenschaft auf den Produktionsprozeß sowie zur neuen betrieblichen Arbeitsorganisation und Hierarchisierung in der Fabrik geführt, aber diese kapitalistische ‚Vergesellschaftung der Arbeit‘ erzeugt noch lange nicht jenes revolutionäre Potential, welches die soziale Bewegung tragen und die die bürgerliche Gesellschaft sprengen kann!! (Die ‚Vergesellschaftung der Arbeit‘ ist nur Grundlage und Voraussetzung). Schon gar nicht erzeugt die in der kapitalistischen Fabrik erzwungene Arbeitsdisziplin die revolutionäre Disziplin, die nötig ist, um die Bourgeoisie zu stürzen; oft erzeugt sie ‚Kadavergehorsam‘ und Passivität, wie Rosa Luxemburg und Trotzki schon früh festgestellt haben (1904).
Obwohl Ulrike Meinhof den revolutionären Kern des Marxschen Werkes richtig bezeichnet (Kampf um die politische Macht im Staate), muß doch eingeschränkt werden, daß selbst 1876 noch am Ende des 1. Bandes des ‚Kapital‘ Marx bei der Darlegung des „absoluten, allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation“ (MEW Bd. 23, S. 673f) die Vereinigung der Proletarier zur Klasse objektivistisch nahelegte: „Mit der beständig zunehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst (!!) geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse (…) Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle; sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateure werden expropiiert.“ (MEW Bd. 23, S. 790f)
Angesichts des praktischen Stands des ‚Marxismus‘ der Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende war also die Verjüngungskur des Bolschewismus mehr als nötig. Er ist die Negation des reformistischen Verrats, des zentristischen Objektivismus und ebenso vom ‚Proletkult‘, Abstammungs-Soziologie oder ‚Arbeiterismus‘ Workerismus, Ouvrierisme). So problematisch Lenins ‚Was tun?‘ (1902) im ganzen ist, Lenin hat das hervorragende verdienst, herausgestellt zu haben, dass die Arbeiter kein politisches Klassenbewusstsein erlangen können, sofern die geführten Kämpfe im Bereich des Betriebes, im Banne des verhältnisses Unternehmer/Arbeiter bleiben; die gesellschaftliche Totalität mit ihren Instanzen Polizei, Militär, Justiz, Beamtenapparat, Presse usw. wird der Arbeiter nur erfahrbar als gewaltsamer Unterdrückungszusammenhang, wenn die Klassen einander im politischen Kampf konfrontiert sind, wenn das Wechselverhältnis dreier Klassen und die Frage, wer die politische Macht im Staate hat, revolutionär beantwortet wird … (s. hierzu auch ‚Spartacus’ 30/31, S.15 die Kritik von peter Tanas an K.H. Roths ‚Die andere Arbeiterbewegung’’, München 1974)
Wird ‚die Arbeit‘ heute vor allem von bürgerlichen Reaktionären oder Faschisten verherrlicht und idealisiert, so ist dagegen der bolschewistische Standpunkt gegenüber der bürgerlichen Zwangsarbeit und ihren Produktionsverhältnissen geradezu brutal kritisch: “ Die Klasse an sich genommen ist lediglich Ausbeutungsmaterial (!!). Die selbständige Rolle des Proletariats beginnt dort, wo aus einer sozialen Klasse an sich eine politische Klasse für sich wird. Das vollzieht sich nicht anders als durch das Mittel der Partei. Die Partei ist jenes historische Organ, durch dessen Vermittlung die Klasse das Selbstbewußtsein erlangt.“ (Leo Trotzki „Was nun?“, Berlin, Januar 1932, S. 24) Wie die Notwendigkeit der Partei aus der Tatsache erwächst, daß das Proletariat nicht mit vollendetem Verständnis seiner historischen Aufgaben und Interessen zur Welt kommt, so „besteht die Aufgabe der Partei darin, durch Kampferfahrung zu lernen, dem Proletariat ihr Recht auf die Führung zu beweisen.“ (ebenda, S. 26) und: „Die Interessen der Klasse lassen sich nicht anders formulieren als in Gestalt eines Programms; das Programm läßt sich nicht anders verteidigen als durch die Schaffung einer Partei.“ (ebenda, S. 24)
Die RAF betont ihren Avantgardismus als ‚Metropolenguerilla‘, aber genau dieses (leninistische) Verständnis von der Rolle der Avantgarde-Partei hat sie nicht. Prüfen wir unter diesem Gesichtspunkt die Berufung der RAF-Theoretiker auf Lenin und Gramsci, man müßte hier Trotzki hinzufügen. „Wo nochmal daran zu erinnern ist, daß am Anfang aller revolutionärer Initiativen, die einem objektiven naturwüchsigen Prozeß, wir denken da an die Massenstreikbewegung in Rußland 1905, an die Oktoberrevolution – Richtung, Dauer, Kohärenz, Strategie, Kontinuität und so politische Kraft vermittelt haben, daß das durch den Entschluß und die Willenskraft einzelner (!!) lief – für Gramsci ist Wille (!) die conditio sine qua non: der starke Wille als Motor des revolutionären Prozesses, in dem Subjektivität (!) praktisch wird.“ („Letzte Texte von Ulrike Meinhof“,S.5)
Sehr gut ist gegenüber allen Reformisten und Zentristen herausgestellt, dass der ‚subjektive’ Faktor’ oder der aktive Vorgriff der Avantgarde ein notwendiges Moment des revolutionäres Geschichtsprozesses ist; aber Lenin, Trotzki und Gramsci begriffen den „starken Willen“ zur Veränderung immer auf der grundlage der richtigen theoretischen Voraussicht, d.h. verkörpert durch die programmatisch angeleitete, militant handelnde Kaderpartei! Trotzki schreibt z.B. am 17. März 1933 zur Information der ‚Internationalen Linksopposition‘ (ILO): „Wir waren (vor dem 5.3.1933, Anm.d.Verf) verpflichtet, davon auszugehen, daß Widerstand (durch KPD und SPD gegen den Faschismus, Anm.d.Verf.) geleistet werden würde und alles, was in unseren Kräften stand zu tun, um ihn zu mobilisieren. Wären wir von vornherein von der Unmöglichkeit des Widerstands ausgegangen, so hätten wir das Proletariat nicht vorwärtsgetrieben, sondern einen zusätzlichen demoralisierenden Faktor eingeführt. Die Ereignisse haben unseren Kurs bestätigt (…) (Leo Trotzki, in „Schriften über Deutschland“, Bd. II, hrsg. H.Dahmer, Ffm 1971, S. 495) Konsequenz dieser Einstellung vor dem März 1933 war jedoch, dass sich die Trotzkisten trotz ihres Ausschlusses als Fraktion und Korrektiv der KPD auffaßten und keine ‚neue Partei’ vor der Entscheidung 1933 ausriefen (wie all die Zentristen!), der die Arbeiter dann blinden Kredit zu spenden hätten …
Und Gramsci schreibt über den Zusammenhang von Kampfprogramm, Voraussicht und revolutionärem Willen: „Gewiß bedeutet Voraussehen nur, Gegenwart und Vergangenheit als Bewegung richtig zu sehen: Richtig zu sehen, heißt, die grundlegenden und beständigen Elemente des Prozesses genau herauszufinden. Aber es ist absurd, sich eine rein ‚objektive‘ Voraussicht vorzustellen. Derjenige, der die Voraussicht tatsächlich zustande bringt, hat ein ‚Programm‘, dessen Sieg er verwirklichen will und die Voraussicht ist gerade ein wichtiger Bestandteil eines solchen Sieges. Das bedeutet nicht, daß Voraussicht immer willkürlich und grundlos sein muß, oder auch nur voreingenommen. Man kann eher sagen, daß nur in dem Maße, wie der objektive Aspekt der Voraussicht mit einem Programm verknüpft wird, dieser Aspekt selbst Objektivität gewinnt: 1. weil allein die Leidenschaft den Intellekt anregt und dazu beiträgt, die Intuition klarer zu machen; 2. weil – insofern die Wirklichkeit das Resultat einer Einwirkung des menschlichen Willens auf die Welt der Dinge (des Maschinisten auf die Maschine) ist – jedes willensmäßige Element unberücksichtigt zu lassen oder allein das Eingreifen des Willens anderer als objektive Voraussetzung des allgemeinen Spiels zu erwägen; selbst die Wirklichkeit verstümmelt. Nur derjenige, der intensiv will, findet die Elemente, die notwendig sind, um seinen Willen zu verwirklichen. Deshalb ist die Meinung, eine bestimmte Welt- oder Lebensanschauung trage in sich selbst eine überlegene Fähigkeit der Voraussicht, ein Irrtum von großer Albernheit und Oberflächlichkeit.“ (Antonio Gramsci,’Note sul Machiavelli‘ in „Opere“ Bd. 5, 4. Auflage Torino 1955, S. 38)
Revolutionäre Politik darf sich also nicht mit dem Satz begnügen: „Das äußerst Mögliche ist nur erreichbar durch das Greifen nach dem Unmöglichen.“ (so Karl Liebknecht,’Studien über die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung; München 1922, S. 358f).Die richtige Voraussicht der veränderungswilligen Kader ist vielmehr einer der Faktoren für das Eintreten bzw. Nicht-Eintreten bestimmter ,’Ereignisse‘.
In diesem Spannungsfeld sieht die RAF die ‚Avantgarde‘ nicht. Bei ihr fallen der Kampf um die ‚unmittelbaren Bedürfnisse‘ der Bevölkerung (s.o.) und die Aktion der ‚Metropolenguerilla‘ ganz auseinander.
Einerseits beansprucht Ulrike Meinhof: „Die Guerilla geht von den Tatsachen aus, die das Volk täglich am eigenen Leib erfährt (….) die RAF wurde in dem Bewußtsein des Volkes begriffen als das, was sie ist: die Praxis, die sich logisch und dialektisch aus den bestehenden Verhältnissen ergibt – die Praxis, die als Ausdruck (!) der wirklichen Verhältnisse, als Ausdruck der einzigen realen Möglichkeit, sie zu verändern, umzustürzen, dem Volk seine Würde wiedergibt (…). (S. 55) Dann gesteht sie sich jedoch an anderer Stelle realistischer und ehrlicher ein, man könne überhaupt nicht „auf die westdeutschen Massen abfahren oder überhaupt ‚die Massen“, das sei Vietnam „das ist nicht unsere Situation“. (S. 8) Und sie schildert die „zum Teil grauenhaften Erfahrungen, die wir in der Isolation gemacht haben, für die die Begriffe sind: Verrat, Kapitulation, Selbstzerstörung, Entpolitisierung“. (S. 8) Gerade deshalb müssen ja „der Entschluß und die Willenskraft einzelner (!!)“ „die Stärke der Subjektivität“ usw. statt der leninistischen Kaderpartei ‚alten Typs‘ ins Feld geführt werden! (S. 5) Die Stadtguerilla ist entwickelt worden „aus der Tatsache der vollständigen Enteignung, der Metropolenform der Proletarisierung: der Vereinzelung (!!)“ (S. 5) „Freiheit gegen diesen Apparat ist nur in seiner vollständigen Negation, d.h. im Angriff gegen den Apparat, möglich im kämpfenden Kollektiv, das die Guerilla wird (…).“ (S. 3) Die Strategie heißt militärischer Sieg, die Taktik bedingungsloser Angriff; weitere taktische Vermittlungen werden nicht erörtert. Das wäre schon allzu ‚weiß‘.
An die Stelle der politischen Avantgarde Lenins tritt die militärische: „Die Guerilla ist eine Kaderorganisation – das Ziel ihres kollektiven Lernprozesses ist die Egalität der Kämpfer, die Kollektivierung jedes einzelnen(…)“ (S.23) Diese hat den Anspruch, angesichts des ’neuen Faschismus‘ (s.o.) unmittelbar politisch zu sein – ohne ein leninistisch erzogener Kader in politischen Kämpfen aufzubauen. „Aus der einfachen Dialektik, daß wie die Organisation des Militärs der Inbegriff imperialistischer Struktur und das heißt Entfremdung ist, ist in der Guerilla, als militärischer Organisation proletarischer Politik (!!), die Entfremdung notwendigerweise (?) vollständig aufgehoben; – sie ist aufgehoben durch die Politik – oder wird es in einem andauernden Prozeß.“ (S. 26) In gewisser Weise sieht sich also die ‚Metropolenguerilla‘ als Spiegelbild des imperialistischen Militärs, das nur durch den ‚Kommandeur der Politik‘ zu dem ganz Anderen wird! Konsequent begreift die RAF sich als „militärisch-politische Avantgarde“, die „exemplarische Aktionen“ durchführte (S. 51,57) und zwar in bewußter Selbstvertretung (Substitution) für die Proletarier bzw. das (unterdrückte) Volk „was die herrschende Klasse an uns haßt, ist, daß die Revolution trotz hundert Jahre Repression, Faschismus, Antikommunismus, imperialistischer Kriege, Völkermord wieder ihren Kopf (in Deutschland, Anm.d. Verf.) erhebt.“ (S. 56)
In den oben zitierten Passagen wird die Frage der politischen Macht im Staate als zentral herausgestellt. (S. 16,30) Doch trotz dieses richtigen‘ Ansatzes erscheint dieses Problem dann nur als isolierte „Organisation der Insurrektion im globalen Rahmen.“ (S. 16) oder „der Klassenkampf als Klassenkrieg gegen das parasitäre Netz der repressiven und ideologischen Apparate, gegen den bürgerlichen Staat“ (S. 30). Die Oktoberrevolution 1917 ist für die RAF heute ebensowenig ein positives Modell, aus dem man lernen kann, wie die spanische,1936-38, ein negatives. Angesichts des ’neuen Faschismus‘ ist sie für die RAF ebensowenig relevant wie die bolschewistische Partei Lenins und Trotzkis. Anerkannt werden im Grunde nur deren moralische und ‚voluntaristische‘ ‚blanquistische‘ (dies sind Vorwürfe der Menschewiken und Reformisten!) Energien!
ZU OKTOBERREVOLUTION – LENINISMUS – KOMINTERN
„Proletarische Politik – und das ist die Insurrektion.“ (S. 25, ebenso S. 16, 30, 32) Dieses blanquistische Element im Bolschewismus, zu dem sich Lenin und Trotzki immer bekannt haben, ist für Ulrike Meinhof das besonders Wertvolle, das sie gegen die revisionistische ‚weiße‘ Linke verteidigen will. So wertet sie das Ereignis der Oktoberrevolution ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt, d.h. sie sieht buchstäblich die „Kritik der Waffe“ ohne von der vorangegangenen „Waffe der Kritik“ wie sie Lenin gegen die Ökonomisten, Volkstümler, Menschewiki, Sozialrevolutionäre und die Opportunisten in der eigenen Partei gezückt hat, Notiz zu nehmen: „Lenin (…) entwarf aus der Analyse und Erfahrung dieser ökonomischen Kämpfe (in Rußland, vor dem 1. Weltkrieg, Anm.d.Verf.) sein Modell der bolschewistischen Partei als Partei, das ist wichtig, die die Insurrektion, das heißt: die Arbeiterbewaffnung, organisiert (…) in der Oktoberrevolution kulminierte die Arbeitermacht, der Lenin durch die Partei aus den Klassenkämpfen von 1905 Kohärenz, Dichte, Kontinuität gegeben hatte – vor allen Dingen durch seine präzisen Einschätzungen der Funktion des Krieges (!) für die Entwicklung der Insurrektion.“ (S.32) Es ist symptomatisch, daß Ulrike Meinhof „die Massenstreiks in Rußland 1905“ ebenso wie „die Bergarbeiteraufstände in Deutschland als den radikalsten Aufstand der Arbeit gegen das Kapital im Kapitalverhältnis“ versteht (S. 31) und nicht die 1. russische Revolution von 1905 mit ihren Erfahrungen (Petersburger Sowjet, relatives Versagen der Bolschewiki in dieser Revolution; Verhalten der einzelnen Klassen; Dynamik der Arbeitererhebung und Bedeutung der Reaktion) politisch in Beziehung setzt zur Februar- und Oktoberrevolution 1917! Statt des Zusammenhangs der Kämpfe für „Brot, Land, Frieden“, Räte und Arbeiterkontrolle verabsolutiert sie die präzise Einschätzung der Bolschewiki in der Frage von Krieg und Frieden – diese sei vor allen Dingen“ entscheidend gewesen für den Sieg der Oktoberrevolution …
Ansonsten interessiert sie vor allem die historische (Aus-)Wirkung der Oktoberrevolution, in einem Fragment „Oktoberrevolution – 3. Internationale“ (von Anfang Mai 1976) heißt es, dazu:
„(1.) Die. Oktoberrevolution bestimmte die Struktur des reaktionären Prozesses im Westen, d.h. die Entwicklung des Kapitals wurde nun ein explizit politischer Prozeß, bezogen auf den internationalen Zusammenhang zwischen Revolution und Imperialismus –
zweitens:sie erzeugte schließlich im langwierigen und schmerzvollen Prozeß der sowjetischen Akkumulation die militärpolitische Demarkationslinie Ost-West –
die dritte Linie, die in ihr ihren revolutionären Ausgangspunkt nahm, sind die Befreiungskämpfe der Völker der Dritten Welt , daß sie sich in der durch die Oktoberrevolution organisierten dritten Internationale, selbst internationalistisch organisieren konnten, und das heißt: ihren Kampf auf das politische Niveau bringen, das proletarische Politik braucht, um wirksam werden zu können.“ (S. 14)
Das Wesentliche für die RAF ist, daß die III. Internationale „anti-weiß“ war, und das bedeutet für sie: „Die dritte Internationale hat die kommunistischen Parteien als Operatoren des bewaffneten Kampfes, schließlich der Bauernrevolution in China und Indochina organisiert. Die kommunistischen Parteien Koreas und Indonesiens sind im Schutze der KI dazu gekommen, die antikoloniale Revolution zu organisieren. (…) (S. 16) Dies ist nur halb richtig, weil Ulrike Meinhof diese Wertung auch auf die Komintern unter Stalin überträgt, ja Stalins verhängnisvolle Rolle gerade für die Revolution in Ostasien nicht sieht. (S. 15)
Immerhin bleibt sie nicht dabeistehen, bei der positiven Würdigung der III. Internationale ausschließlich deren „bewußte Funktion für die Entwicklung der antikolonialen Revolution in Ostasien“ (S. 15) festzustellen. Ulrike Meinhof nähert sich auch der entscheidenden Kontroverse „Sozialismus in einem Land“ oder „Permanente Revolution“, als sie Lenins Größe charakterisiert. Eine der zentralen Thesen Lenins für die Organisierung des weltrevolutionären Prozesses sei gewesen, „daß die Revolution sich vom ersten Moment (an) auf dem politischen Niveau des konterrevolutionären Prozesses bewegen muß, daß sie, ohne das Niveau der Konterrevolution in ihrer Initiative zu antizipieren, ihre Niederlage antizipiert, anders gesagt: scheitern muß.“ (S. 14) Genau dies hat Lenin wiederholt auf den ersten Kongressen der III. Internationale ausgesprochen. Es ist in gewisser Weise die Quintessenz des Bolschewismus! (s. auch Leo Trotzki „Kommunismus und Terrorismus“ Anti-Kautsky, Hamburg 1920, bes. S.57-78) In revolutionären Prozessen sind höchste Energie, Bewußtheit und Entschiedenheit höchste Humanität, sagt Trotzki.
Weiter heißt es bei Ulrike Meinhof: „Verteidigung der Machteroberung (1) in einem Land – Oktoberrevolution und Organisierung. des weltrevolutionären Prozesses waren für Lenin (!!) eine Sache.“ (S. 14) Leider setzt sie hier nicht an, um die Auseinandersetzung zwischen Stalin und Trotzki nach 1924 zu verfolgen. Trotzki und die ‚Linke Opposition‘ werden gar nicht genannt. Lenin allein billigt sie den hohen „Begriff von revolutionärer Moral“ zu: „er bestimmte von diesem Standpunkt aus (dem Weltproletariat zu dienen) den innerstaatlichen Prozeß in Rußland vor und nach der Oktoberrevolution als Instrument des weltrevolutionären Prozesses – ihm untergeordnet, funktional.“ (S. 14)
In diesem Sinne verteidigt Ulrike Meinhof den proletarischen „Internationalismus der RAF“ gegen die „Hetze der revisionistischen Linken“ gegen die „national-bornierte Linke“ in der Bundesrepublik. (S. 15)
Schade, daß wir zu ihren Lebzeiten nicht ihr Ohr erreicht haben, bzw. kein Gehör bei ihr fanden – damit wir sie hätten abbringen können von ihrem falschen politischen Weg!
Peter Tanas
1977