Der siegreiche Aufstand der Arbeiter, Bergarbeiter und der armen Bevölkerung Boliviens war 1952 nicht nur für Marxisten ein wichtiges Ereignis. Dennoch wird ihr in der historischen Diskussion wenig theoretische Aufmerksamkeit geschenkt. Die Ausgangsbedingungen für Veränderungen und die politische Sprache dürften sich seit 1952 auch in Bolivien drastisch verändert haben. Die hier wiedergegebene Darstellung eines trotzkistischen Autors ist aber zumindest historisch aufschlussreich.
Neuauflage einer klassischen Revolution
Russland 1917 und Spanien 1931/37 markieren Daten großer revolutionärer Kämpfe, mit denen Bolivien 1952 verglichen werden kann – unabhängig von der Tragweite und Bedeutung, die sie für das jeweilige Land hatten. Etwas verkürzt lässt sich sagen, dass die Aprilrevolution folgendes zeigte:
Eine Arbeiterminderheit war in der Lage, sämtliche Ausgebeutete aus Stadt und Land im revolutionären Kampf zu vereinigen, obwohl die Bergarbeiter nicht einmal 90 000 an der Zahl waren und die Fabrikarbeiter in La Paz nicht mehr als 8 000 zählten. Und das in einem Land mit insgesamt drei Millionen Einwohnern. In der Tat zeigte sich, dass die Bedeutung, die dem werktätigen Sozialsubjekt im revolutionären Kampf zukommt, nicht nur und auch nicht hauptsächlich von seiner zahlenmäßigen Größe abhängt, sondern von seiner Funktion in der Produktion und in der Sozialstruktur. Die permanente Revolution (Leo Trotzki) war damit bestätigt.
Es zeigte sich zudem, dass das Proletariat den bürgerlichen Staat und dessen Repressionsapparat physisch und militärisch zerstören kann, was eine Conditio sine qua non jeder Veränderung von Macht ist. Jedoch ist es noch keine ausreichende Bedingung für einen Sieg, wenn es dem Proletariat nicht gelingt, eine Macht zu errichten, die das Bürgertum auf allen Gebieten zermalmen kann. Auf militärischem Gebiet bestätigte sich, was sich schon in Spanien im Juli 1936 gezeigt hatte: Es ist möglich, das Gros des Repressionsapparats in den großen Städten durch die aufständische Arbeiterklasse zu zerstören. Es gibt aber keine »fertigen Schablonen«, die vorgeben, wie der bewaffnete Kampf verlaufen sollte.
Niederlage nach dem Sieg
Wenn dem Bürgertum der Wind ins Gesicht bläst, unternimmt es alles, um seine Macht zu erhalten. Die Geschichte des 19. und 20.Jahrhunderts kann das belegen, auch Bolivien 1952. Nach drei Aufstandstagen war am 11. April 1952 der Weg zur Arbeiter- und Bauernmacht geebnet. Durch die Zerstörung des feindlichen Repressionsapparats wurde die größte Hürde überwunden. Aber die Arbeiterklasse kam dann doch nicht an die Macht. Nicht zuletzt, weil das Bürgertum zahlreiche Zugeständnisse machte und mannigfache Forderungen und revolutionäre Losungen akzeptierte.
Die Genossen, die heute der Meinung sind, dass unser Kampf ein Kampf »um das Programm« war, hätten zumindest Genugtuung darüber empfinden müssen, dass 1952 in Bolivien der Repressionsapparat zerstört war, dass es Arbeiter- und Bauernmilizen gab, dass die Bergarbeiter die Arbeiterkontrolle sowie ein Vetorecht im Comibol hatten (dem Bolivianischen Bergbaubund, der aus der Verstaatlichung der Bergwerke, die einst von der Oligarchie kontrolliert wurden, hervorgegangen ist), oder dass eine Bodenreform durchgeführt wurde. All diese Übergangslosungen wurden Realität. Mit einer Ausnahme, an der sich zeigte, dass keine, auch nicht die revolutionärste Losung etwas nützt, wenn man die Macht nicht erobert. Das Bürgertum ist bereit, jede Forderung zu erfüllen, sofern es die Situation gebietet, um sie dann später zu korrumpieren. Der Kauf von Arbeiterführern gehört ebenso dazu wie die Manipulation der Bodenreform zugunsten eines neuen Kleinbürgertums, das später den bürgerlichen Staat wieder aufbaut. Wenn das Bürgertum wieder erstarkt ist, verhaftet oder tötet es nicht selten diejenigen, die ihm zuvor nützlich waren. Bolivien sollte hier eine Lehre sein.
Vom Stollen zum Aufstand
Bereits 1919 setzten die Bergarbeiter von Huanuni den achtstündigen Arbeitstag durch, 1923 kam es jedoch zu Massakern an der Arbeiterschaft. In Folge der kapitalistischen Weltkrise im Jahr 1929 sank der Zinnpreis um ein Drittel. Zur Wirtschaftskrise kamen die Arbeiterkämpfe hinzu.
Die »Rosca« (bolivianische Bezeichnung der Oligarchie: »Rosca« = »Schraube«, um die sich alles dreht, die aber in sich geschlossen bleibt. Anm. des Übers.) führte im Dienste der Standard Oil Company Krieg gegen Paraguay. Die bolivianische Arbeiterklasse folgte dem bolschewistischen Beispiel, nicht dem sozialdemokratischen. Am 1. Mai 1932 rief ein Flugblatt des Bergarbeiterbundes von Oruro auf: »Bolivianische Völker, die ihr gegen den Tod seid, erhebt euch gegen das monströse Verbrechen des Kriegs und ruft aus: Es lebe der Frieden! Nieder mit dem Krieg! Nieder mit den bolivianischen und paraguayischen Bourgeoisien! Es lebe das Proletariat des ganzen Kontinents! Es lebe die Sozialrevolution!«
Bolivien unterlag im Krieg. Der Arbeiterklasse gelang es nicht, die sozialrevolutionäre Losung zu verwirklichen. Stattdessen bekam sie vorübergehend eine »sozialistische Republik«, die zur Beruhigung und Demobilisierung des Proletariats ins Leben gerufen wurde. Anschließend wurden die »sozialistischen« Militärs entlassen und die »Rosca« kehrte an die Macht zurück. 1943 verhalfen Teile der Nationalisten Gualberto Villarroel an die Regierung, der, ohne die strukturellen Probleme des Landes anzugehen, den Volksmassen Zugeständnisse machte. Damit zog er sich nicht nur den Unmut von Patiño, dem oligarchischen Zinnbaron, zu, sondern auch den des Yankee-Imperialismus und des Stalinismus.
Genauso wie sie es mit Oberst Perón in Argentinien gemacht hatten, bezichtigten die »Verbündeten« Villarroel des Nazi-Faschismus. Sie bildeten die »Demokratische Union«, die ihn im Juli 1946 an einer Laterne erhängte. Die »Rosca« eroberte wieder die Macht. Die Bergarbeiter konnten den reaktionären Sieg nicht verhindern, aber sie gingen zum Widerstand über. Im November 1946 fand in Pulacayo der erste Bergarbeiterkongress statt. Der Delegierte der Arbeitslosen war Guillermo Lora, ein Trotzkist. Der Kongress schloss sich seinen Vorschlägen an und verabschiedete das nach dem russischen umfassendste Programm der Arbeiterbewegung: 1. Grundlohn und gleitende Lohnskala, 2. Vierzigstundenwoche und variable Arbeitszeiten, 3. arbeitsrechtlicher Schutz vor Entlassungen und bei Besetzung der Bergwerke, Arbeiterkontrolle der Buchhaltung, 4. Arbeiterkontrolle, entgegen dem »heiligen« bürgerlichen Recht auf Eigentum und Betrug, 5. Bewaffnung der Arbeiter, 6. Errichtung einer Diktatur des Proletariats unter einer Arbeiter- und Bauernregierung, 7. Errichtung des Bunds der Sozialistischen Republiken Lateinamerikas.
Massaker und Aufstand
Mit dem Mord an Villarroel begann eine Welle neuer Massaker an den Bergarbeitern. In Potosi verfolgten sie der Stalinismus und seine Polizei; in Catavi verfolgten sie die »Rosca« und deren stalinistische Minister. 1949 wurden Guillermo Lora, Juan Lechín und Mario Torres, Sprecher des Bergarbeiterblocks, verhaftet.
Die Arbeiter streikten und nahmen Yankee-Ingenieure und hohe Funktionäre als Geiseln, um sie gegen ihre Anführer auszutauschen. Die Regierung weigerte sich und entsandte Truppen nach Catavi. Der erbitterte Widerstand wurde schließlich niedergewalzt. Die Truppen bombardierten das Gewerkschaftsgebäude, die letzte Zuflucht der Bergarbeiter. Als sie es einnahmen, waren die Geiseln bereits hingerichtet worden. Die Jagd auf die Bergarbeiter und ihre Familien begann. Dennoch waren die Tage der »Rosca« gezählt. Ihre Dekadenz war Ausdruck des Niedergangs des englischen Imperialismus, der in Lateinamerika dem drückenden Yankee-Imperialismus gegenüberstand. Das Interesse der Yankees, England bei der Ausbeutung Boliviens abzulösen, traf sich mit dem Bestreben des mit der MNR verbündeten bolivianischen Bürgertums, Teilen der »Rosca« die ökonomische und politische Macht zu entreißen. Bei den Wahlen von 1951 trug Paz Estenssoro, der ehemalige Anwalt Patiños und Anführer der MNR, einen überwältigenden Sieg davon. Die Militärs erkannten das Ergebnis nicht an. Kaum ein Jahr später wälzt sie ein Arbeiteraufstand nieder. Der Aufstand fällt zeitlich mit dem Versuch des MNR zusammen, die Macht durch strategische Bündnisse und Militärtaktiken zu erobern. Einer der Minister tritt der MNR bei und händigt Waffen aus. Der Putschversuch erfolgt mit Hilfe der Polizei und der MNR-Zellen. Er scheitert jedoch an der Übermacht der Armee. Die Drahtzieher gehen ins Exil. Nun aber erobern die Volksmassen die Straßen. Die Schlacht zwischen Arbeitern und der Armee beginnt. Die Armee umzingelt La Paz, kann jedoch die von der Polizei und kleinen Teilen der Armee unterstützen Massen nicht niederringen. Aus den Bergbaugebieten erreichen Lastwagen voller Kämpfer die Stadt. Sie bringen Dynamit aus den Bergwerken mit. Einige wenige haben auch Gewehre, die sie beim Überfall auf die Präfektur in Oruro erbeutet haben. In La Paz angekommen, fallen sie der Armee in den Rücken und zwingen sie durch Dynamitwürfe zur Kapitulation. Am 11. April 1952 marschieren viertausend Soldaten, entwaffnet und in Unterwäsche, durch eine Gasse bewaffneter Arbeiter und Bewohner von La Paz. Die alte Unterdrückerarmee der »Rosca« war zerschlagen, und eine neue Armee der Ausgebeuteten, der Arbeiter und Bauern, war geboren. Die Arbeiterklasse hatte bewiesen, dass sie trotz der einen oder anderen Niederlage die Kraft besaß, eine erfahrene, mit modernen Waffen ausgerüstete Armee zu besiegen.
Die Arbeiterrevolution schien in Lateinamerika »klassisch« einzusetzen. Dem Proletariat, das den bürgerlichen Staat zerstört hatte, fehlte dennoch das Instrument, um seine neu gewonnene Macht zu erhalten: eine revolutionäre Arbeiterpartei. Greifbar nahe, wurde die Macht stattdessen dem Bürgertum zurückgegeben. Am 14. April flog Paz Estenssoro nach Bolivien zurück. Paz wurde bei seiner Ankunft einer Gruppe bewaffneter Arbeiter mit den Worten vorgestellt: »Hier steht der Vertreter des schwachen und dekadenten Bürgertums, das unfähig war, die ‚Rosca‘ zu zerstören. Diese Aufgabe haben wir mit Waffen erledigt. Hier steht unser Präsident!« Das ist die tragische Ironie, die zur Niederschlagung der Arbeiterrevolution führte!
Aus: Jorge Guidonobo, La larga marcha de la revolución socialista, Buenos Aires, 1994. Übersetzung: Hugo Velarde