Generalstreik gegen Troika, griechische Regierung und Merkel
Ein Erlebnisbericht von Hanno Bruchmann und Kelly Mulvaney
Gerade noch rechtzeitig kommen wir am Morgen des 26. Septembers in Athen an.
Die Busse fahren noch und wir fragen uns, ob heute wirklich ein
Generalstreik stattfindet. Wie wir später erfahren, haben die Gewerkschaften
abgemacht, dass der öffentliche Nahverkehr nur früh morgens und abends
bestreikt wird, damit alle an der großen Demonstration im Stadtzentrum
teilnehmen können. Flugzeuge und Fähren bleiben den ganzen Tag außer
Betrieb.
–
Um 10.30 ist der Treffpunkt der zwei großen Gewerkschaften ADEDY (des
öffentlichen Dienstes) und GSEE (der Privatwirtschaft), von kleinen
Gewerkschaften, von linken Netzwerken, Basisorganisationen und dem linken
Wahlbündnis Syriza. Die kommunistische Partei hat sich an einem anderen Ort
in der Nähe getroffen und demonstriert separat. Wir haben die Nachricht
erhalten, dass die neonazistische Organisation “Goldene Morgenröte”
ebenfalls aufgerufen hat sich an diesem Tag mit griechischen Flaggen auf dem
Syntagma Platz zu versammeln. Dieser ist auch Teil der Demoroute der Linken.
Es herrscht Unsicherheit in Teilen der Demonstration was passieren und ob es
zu Auseinandersetzungen kommen wird. Die Neonazis werden jedoch den ganzen
Tag über nicht zu sehen sein. In den Nachrichten am Abend wird berichtet
werden, dass in ganz Griechenland große Demonstrationen stattgefunden haben
und in Athen bis zu 120.000 Menschen auf den Straßen waren. Versammlungen
der Neonazis werden nicht erwähnt.
–
In einer sehr kurzfristigen Mobilisierung haben zuerst die zwei großen
Gewerkschaften zum Streik gegen die anstehenden Sparmaßnahmen aufgerufen.
Wie uns im Laufe der Demo erzählt wird, ist dieser Aufruf nur ein Anlass für
die eigentliche Mobilisierung, die über eine Vielzahl von Netzwerken und
Basisorganisationen stattfindet. Die Aufrufenden waren sich unsicher, wie
viele Menschen wirklich an dem Streik teilnehmen würden: In den meisten
Familien gibt es nur noch eine Person mit Einkommen und immer mehr können es
sich nicht leisten, den Lohn eines Tages zu verlieren. Andererseits sind
mittlerweile so viele Menschen erwerbslos oder nur zeitweise beschäftigt,
dass sie ohne weitere Verluste demonstrieren können.
–
Sie alle sind wütend. Wütend auf die griechische Regierung, wütend auf die
Troika und die Regierung Merkel. Alle diese Akteure sind daran beteiligt,
das dritte Paket von Sparmaßnahmen voranzutreiben, welches den griechischen
Staat vor einem Bankrott und der Zahlungsunfähigkeit gegenüber
internationalen Banken “retten” soll. Das bisher umfassendste Sparpaket von
11,5 Milliarden Euro bedeutet den Abbau dessen, was vom griechischen
Sozialstaat nach den ersten zwei Sparpaketen noch übrig geblieben ist. Unter
den Menschen in Griechenland wird die Situation mit einem Wortspiel
ausgedruckt: “Sie sagen, dass sei das Ende der Sparmaßnahmen. Aber es ist
UNSER Ende.” Es wird darüber beraten, noch 20.000 Menschen im öffentlichen
Sektor zu feuern. Das Rentenalter soll von 65 auf 67 Jahre angehoben werden.
Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser sollen geschlossen und Gelder für
Medikamente gekürzt werden. Insbesondere für die unteren Einkommen sollen
die Steuern angehoben werden. Die Umverteilung von unten nach oben, von
öffentlich zu privat, verändert die griechische Gesellschaft schnell und
radikal. Ein Großteil der griechischen Bevölkerung ist davon betroffen und
drängt mit großer Wut auf die Straße.
Um 11.30 finden wir uns in dem Gewusel am Treffpunkt vor dem Archäologischen
Museum wieder und warten auf einen Freund. Die Demo geht vor 12.30 Uhr nicht
los und die Menschen in den Straßen um den Treffpunkt herum werden immer
mehr. Es sind 35 Grad. Wir sitzen auf der Treppe des Museums. Vor uns steht
eine Gruppe von Frauen und Männern mittleren Alters, die rauchend und Frappé
schlürfend angeregt diskutieren. Im Schatten des Museum relaxen junge
Menschen und fächern sich Luft zu. Ein Mann mit Motorrad-Helm pfeift und
winkt seine Freunde mit ihrem Transparent herbei. Neben uns setzen sich
Jugendliche mit Irokesen-Frisur und einer Handvoll roter Fahnen mit dicken
Stöcken. Nach und nach gehen alle zum Auftaktsort.
–
Wir laufen auch los und treffen unseren Freund. Den Weg pflastern
Plakataufrufe des Verbandes von Kleinunternehmen zu dieser Demonstration.
Zusammen versuchen wir, vorbei an Massen von Menschen, zum vorderen Teil der
Demonstration zu gelangen. Doch das ist mittlerweile unmöglich, weil die
Demonstration so lang ist. Als wir am Syntagma Platz ankommen, sagt uns eine
Frau, dass bereits seit zwanzig Minuten der Demonstrationszug an ihr
vorbeizieht. Wir geben auf, an die Spitze zu gelangen und stellen uns an
einem guten Punkt auf, damit unser Freund uns erklären kann, wer heute alles
mit demonstriert. An uns zieht eine Organisation von KulturarbeiterInnen
entlang, die symbolisch einen Sarg mit der Aufschrift “Kultur” mit sich
tragen. Darauf folgt die Gewerkschaft der FremdsprachenlehrerInnen, nach
denen die älteste Basisgewerkschaft Griechenlands läuft: die Buch- und
VerlagarbeiterInnen. Singend und mit großen Transparenten gehen dann die
Bankangestellten vorbei. Sie haben sich eigenständig organisiert, als eine
von den beiden staatlichen Banken dieses Jahr privatisiert wurde und ihre
Gewerkschaft ihren Streik nicht unterstützen wollte. Wir beobachten eine
starke Präsenz von antifaschistischen und antirassistischen Initiativen, die
sich explizit gegen die zunehmende Präsenz von faschistischen und
neonazistischen Organisationen in der griechischen Gesellschaft wenden. Mit
schwarzer Fahne, gemeinsamen Parolen und lauten Pfeifen wird im Block der in
weiß gekleideten ArbeiterInnen aus dem Gesundheitsbereich am meisten
Stimmung gemacht. Sie rufen: “Sie ruinieren alles, was wir in einem
Jahrhundert aufgebaut haben. Kommt runter auf die Straße!”. Viele
Erwerbslose und prekär Beschäftigte laufen in der Demonstration und oftmals
ist zu hören: “Einen Job suchen zu müssen, das ist Terrorismus!”.
Wir laufen vom unteren Teil des Syntagma Platzes, vorbei an den von
bewaffneten Polizisten bewachten Nobelhotels, nach oben zum
Parlamentsgebäude. Von dort haben wir einen guten Blick und beobachten den
Demonstationszug, der sich um den großen Platz schlängelt. Die Route der
Demo geht noch weiter, aber wir bleiben zunächst auf dem Platz. Ein
scheinbar endloser Strom von DemonstrantInnen zieht an uns vorbei. Manche
tun es uns gleich, bleiben einen Moment und setzen sich in den Schatten der
Bäume. In einigen Blöcken tragen die meisten Helme und Gasmasken mit sich.
Wir unterhalten uns entspannt mit unserem Freund, als er plötzlich
unterbricht und ruft: “Achtung! Jetzt geht es los.”
–
Leute rennen an uns vorbei. Wir springen auf, hören einen lauten knall und
etwas explodiert. Wir ziehen uns zurück und bekommen Atemschutzmasken in die
Hand gedrückt. Schon kommt der Tränengasnebel. Augen und Atemwege fangen an
zu brennen. Die meisten DemonstrantInnen schützen sich ebenfalls mit Schals
oder Schutzmasken und laufen die Route weiter. Einige stellen sich der
Polizei gegenüber, drängen sie mit Steinen und Brandsätzen zurück. Das
Werbungszelt für eine Luftschau in der Mitte des Platzes geht in Flammen
auf. Immer wieder hören wir hinter uns Detonationen. Diese Bilder werden in
wenigen Minuten um die Welt gehen.
–
Wir nehmen den Weg der Demontrationsroute wieder auf. Das Tränengas ist
überall. An einer Straßenecke werden Steinplatten zerschlagen. Wir gehen
durch eine Seitenstraße und treffen auf das Ende der Demonstration, das
immernoch nicht den Syntagma Platz erreicht hat. Es ist der Block des
Syriza-Bündnisses. Wieder erreichen wir den Syntagma Platz, der mittlerweile
von Polizisten mit Gasmasken abgesperrt ist. Der Demonstrationsblock muss
einen Bogen laufen, kommt aber schließlich am Parlamentsgebäude vorbei. Die
Demo läuft weiter, aber wir ziehen uns erschöpft zurück. Bis in den Abend
kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.
–
Wir treffen uns mit ein paar AktivistInnen, die uns ihre Einschätzungen der
Situation schildern. Hier wird deutlich, was die Maßnahmen bedeuten und wie
die Krise erlebet wird. Eine Aktivistin erzählt: “Das Unternehmen, bei dem
ich arbeite ist Pleite. Mein Chef schuldet mir mehrere Monatsgehälter und
ist der Sozialversicherung 70.000 Euro schuldig. Meine gerade einmal 300
Euro Lohn erhalte ich nur, wenn ich androhe zu kündigen.” Sie hätte sich
mehr Dynamik und stärkeren Widerstand in der Demonstration gewünscht. So wie
am Vortag in Madrid, als einige Tausend versuchten das Parlamentsgebäude zu
blockieren. Es sei merkbar, dass viele Menschen seit zwei Jahren massenhaft
auf die Straßen gehen und erschöpft sind. Langsam verlieren sie den Geduld.
Die Lebenssituation der meisten ist noch schlimmer geworden. “Ich arbeite im
IT-Bereich, täglich zehn Stunden. Die Firma, bei der ich angestellt bin
kündigt mir an jedem Monatsende. Jedes Mal ist unsicher, ob ich am nächsten
Tag wieder angestellt werde”, berichtet ein anderer Aktivist. Er sieht den
heutigen Streik positiver. Es kann der Anfang einer neuen Reihe von
Protesten gewesen sein. In ganz Griechenland waren hunderttausende Menschen
auf den Straßen, ganze Kleinstädte wurden lahmgelegt. Das hat die ganze Welt
gesehen. Ein Slogan auf der Demonstration drückt den gemeinsamen Wunsch der
AktivistInnen aus: “Athen, Madrid, Lissabon – ganz Europa, kämpf auf der
Straße!“
aus der Liste der interventionistischen Linken