B.Gehrke (VL): Rückblick auf den Kampf d. Vereinigten Linken i.d. DDR 1989

 

ak – analyse + kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 489 / 19.11.2004

„Es ist genauso verkehrt gekommen, wie ich’s mir vorgestellt habe“

15 Jahre nach dem Mauerfall. Interview mit Bernd Gehrke

Der Mauerfall vor 15 Jahren hat die politischen Koordinaten durcheinander gewirbelt, die deutsch-deutsche Vereinigung ein Jahr später war der passende Schlussakkord im Sinne der CDU-geführten Bundesregierung. Wenn sich heute – wie auf einer Gedenkveranstaltung am 9. November im Berliner Tränenpalast geschehen – Altkanzler Helmut Kohl und die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley gegenseitig für ihr besonnenes Handeln loben, scheint es ganz so, als wäre die Entwicklung zur Wiedervereinigung quasi vorgezeichnet gewesen, als hätte es keine Alternative gegeben. Die Situation im Herbst 1989 war allerdings längst nicht so vorherbestimmt, wie es heute den Anschein hat. Und auch damals gab es linke Kräfte in der DDR, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die Umbrüche eingegriffen haben. Eine solche Kraft war die Vereinigte Linke (VL). Bernd Gehrke, Mitinitiator der VL, war in den letzten Jahren in sozialen Initiativen wie dem Anti-Hartz-Bündnis aktiv. Mit ihm sprachen Jan Ole Arps und Martin Beck über oppositionelle Arbeit 1989 in der DDR, über Wende-Perspektiven und die aktuellen Sozialproteste.

ak: Kannst du kurz darstellen, was die VL war?

Bernd Gehrke: In der Vorbereitung waren wir ein kleiner Zirkel. Für uns war klar, dass es mit dem Ostblock zu Ende geht. In der Sowjetunion war Perestroika. Da die DDR ein Satellit der SU war, war mir klar: Wenn sich da was ändert, dann muss das hier auch kommen. Gleichzeitig war global die Linke auf dem Rückzug, in den USA war Reagan Präsident, in England Thatcher. Diese Entwicklung war deutlich erkennbar. Und auch im Osten musste die Linke völlig neu anfangen, denn das, was sich hier sozialistisch und kommunistisch nannte, war völlig diskreditiert. Die einzige Chance, die uns in dieser Situation realistisch erschien, war eine breite undogmatische linke Bewegung ins Leben zu rufen, die sich um bestimmte, minimale Inhalte sammelt. Das sollte die VL sein und Linke aus der Opposition mit linken Kritikern aus der SED verbünden.

Die VL ist ja erst relativ spät, Ende November 1989, gegründet worden.

Formal sogar noch später. Eigentlich hatten wir uns schon vor dem Sommer 1989 gründen wollen. Das kam aber aus vielerlei Gründen nicht zu Stande, und so haben wir uns dann erst nach der Urlaubszeit im September zusammengefunden. Wir haben ja als illegales Projekt angefangen und wollten die VL auch von unten her organisieren. Deshalb haben wir den Vorschlag einer Konferenz gemacht. Bis allerdings eine Konferenz von allen Linken zu Stande kommt, dauert es ja so seine Zeit. Im November, schon nach dem Mauerfall, hat dann ein großer DDR-weiter Kongress in Berlin mit 500 bis 600 Teilnehmern stattgefunden, und im Januar wurde die VL formal gegründet.

Aber die Ereignisse haben nicht auf euch gewartet …

Das stimmt. Die Ereignisse überschlugen sich, und man musste irgendwie reagieren. Um Einfluss auf die Entwicklung zu nehmen, haben wir deshalb noch als heimlicher Zirkel Papiere verfasst. Das nannte sich damals noch „Böhlener Plattform“. (1) Ab Oktober hatten wir dann als VL eine Kontaktadresse. Es hat eben alles seine Zeit gedauert, aber solche großen, dramatischen Umbrüche warten nun mal nicht auf einen.

Wie hast Du die Entstehung der Proteste wahrgenommen? Hast du sie kommen sehen?

Auf die Gefahr hin, als Aufschneider dazustehen: Ich würde sagen, dass wir als VL-Vorbereitungskreis zu den ganz wenigen gehören, die die Entwicklung sehr realistisch eingeschätzt haben – auch wenn den Linken ja immer nachgesagt wird, besonders wenig verstanden zu haben. Das scheint ein Widerspruch dazu zu sein, dass wir am längsten an der DDR-Selbstständigkeit festgehalten hatten, doch haben wir vieles nur gemacht, um in der Defensive, in der wir nichts mehr zu melden hatten, wenigstens die Fahne hochzuhalten. Außerdem war die VL ja sehr breit zusammengesetzt. Unsere Einschätzung als VL-Initiativkreis war schon im Frühjahr 1989, dass die geplante Grenzöffnung der Ungarn eine ganz neue Dynamik in die Sache bringen würde. Wir haben gesagt: Wenn sich was ändert, dann dauert es nicht lang, dann steht das Volk auf der Straße. Das haben viele Leute nicht geglaubt. In der Sowjetunion etwa hatte es ja extrem lange gedauert, bis da irgendwie Bewegung reinkam. Es ging ja um eine Stillstandsgesellschaft, in der sich nichts regte, nichts rührte, in der alles erstickt war von oben.

Zunächst gab es vor allem eine massive Ausreisebewegung.

Das ist richtig. In der DDR war ja die klassische Situation einer Revolution: Die unten wollen nicht mehr, und die oben können nicht mehr. Die oben wussten genau: Es funktionierte nichts mehr! Das passierte vor dem Hintergrund verfallender Städte, verfallender Fabriken – entsprechend grau sahen die Leute aus. Die allgemeine Stimmung war: „Ringsrum, also in der Sowjetunion, Polen, Ungarn, da ändert sich alles. Und bei uns ändert sich nichts!“ Das war die allgemeine Haltung, die dann dazu geführt hat, dass viele junge Leute panikartig die DDR verlassen haben, selbst dann noch, als die Mauer schon auf war, denn niemand wusste ja, ob das Rad nicht wieder zurückgedreht wird.

Die Maueröffnung, wie sie gelaufen ist, war aus meiner Sicht ein panischer Akt der Herrschenden. Sie haben genau so reagiert, wie seit jeher immer alle herrschenden Klassen die Weinfässer geöffnet haben, wenn Revolutionen anstanden, um das Volk besoffen zu machen und von der Revolution abzulenken.

Wie war euer Verhältnis als Opposition zu den Massenprotesten? Wie habt ihr interveniert?

Naja, zunächst einmal waren wir ja keine zuvor wirklich organisierte Opposition. Oppositionelle Marxisten gab es nur in winzig kleinen Zirkeln, die konspirativ gearbeitet haben. Und weil sie konspirativ gearbeitet haben, waren sie nicht Teil einer Massenbewegung; sie konnten es gar nicht sein.

Die Teile der Opposition, die es gab, die sich offen verhalten haben, die waren vom Rest der Gesellschaft völlig getrennt. Das zeigt sich schon daran, dass große Teile der Opposition unter dem Dach der Kirche aufgetreten sind. In einer derart verweltlichten Gesellschaft wie der DDR war jedoch schon der Schritt in die Kirche für einen großen Teil der Bevölkerung eine kulturelle Hemmschwelle, die normalerweise nicht übertreten wurde. Hinzu kommt: Wer sammelte sich da? Die, die erkennbar waren, das waren z.B. die Punker, das war Subkultur. Also Kirche und Punker. Das sind kulturelle Brüche zum Rest der Gesellschaft, da war ein einfacher Schulterschluss gar nicht möglich. Das heißt, Opposition und Bevölkerung begegneten sich 1989 überhaupt das erste Mal.

Wenn man sich die Erklärungen und Papiere der DDR-Opposition ansieht, dann fällt auf, dass es eigentlich durchgehend um eine Erneuerung und Demokratisierung der DDR als sozialistische Gesellschaft ging. War das auch der Referenzrahmen für die Bevölkerung, die auf die Straße ging?

Es gibt viele Indizien dafür, dass auch nach der Maueröffnung, bis in den Dezember, große Teile der Bevölkerung davon ausgegangen sind, dass die DDR weiter bestehen bleibt, dass sie reformiert wird. Heute gibt es ja viele, die sagen, dass es nur so ausgehen konnte, wie es ausgegangen ist. Das ist die herrschende Meinung. Ich wehre mich vehement dagegen. Ich will lieber darüber sprechen, welche Faktoren da zusammengekommen sind, um daraus etwas zu lernen. Und einer der Punkte, die gelernt werden müssen, ist: Die Linke muss in solchen Momenten bereit sein, die Machtfrage zu stellen.

Das sagt sich jetzt so, aber es stellt natürlich nicht den Typ von untergegangener Gesellschaft in Rechnung, eine Gesellschaft nämlich, die verhinderte, dass Leute sich vorher organisieren konnten, Bewusstsein ausbilden konnten und, und, und. Auch eine strategische Debatte hatte in der DDR-Opposition ja überhaupt nicht stattgefunden.

Außerdem war die Machtfrage in der DDR-Opposition eine verpönte Frage. Das muss man verstehen: Aus der Ablehnung des Bestehenden heraus – und das Bestehende zeichnete sich dadurch aus, dass die Herrschenden in der DDR eben ständig über Machtfragen gesprochen und unerträgliche Machtausübung praktiziert haben – werden diese Fragen gar nicht mehr gestellt; man verweigert sich ihnen gegenüber. Und das galt auch für die Opposition, die ja ohnehin stark „postmaterialistisch“ geprägt war, dass sie zu solchen Fragen einen ganz anderen Zugang hatte.

Aber natürlich hat es auf dieser Ebene ein politisches Versagen der Bürgerbewegung gegeben, ganz klar. Die Opposition hat auch die wirklichen Bedürfnisse der Massen überhaupt nicht berücksichtigt. Sie hatte viele schöne Utopien, aber sie hat weder die Machtfrage diskutiert noch die Bedürfnisse der Massen erfasst. Und deshalb war sie so schnell auch nur noch Getriebener der Umstände und nicht mehr treibende Kraft.

Das nicht erkannte Bedürfnis war das nach materiellem Wohlstand?

Natürlich. Und das wurde von der Bürgerbewegung, in der ja, wie gesagt, eine postmaterialistische Werthaltung weit verbreitet war, nicht erkannt oder abgelehnt. Ich will ja gar nicht sagen, dass man zu diesem Bedürfnis ein unkritisches Verhältnis einnehmen soll, aber man hätte es zumindest ernst nehmen müssen.

Das ist der Grund dafür, dass damals die m. E. ohnehin auf der Tagesordnung stehende „Deutsche Frage“, die Frage der deutschen Einheit, in einer reaktionären Weise beantwortet wurde. Man hat sich als Bürgerbewegung nicht in radikaler Weise an die Spitze der Bewegung gestellt und etwa eine alternative Regierung gebildet und gesagt, Themen wie soziale Rechte und eine radikale Demokratie von unten stehen an und müssen diskutiert werden. Man hat deshalb nicht die Maueröffnung und die Bedingungen der Maueröffnung bestimmen können und war als Opposition weder Verhandlungspartner für die westdeutsche Regierung noch Mobilisator der westdeutschen Linken. Gut, das weiß man heute, das kann man vielleicht für die Zukunft daraus lernen.

Wie habt ihr euch damals in den Prozess eingebracht? Was war euer Projekt?

Wir, d.h. der InitiatorInnenkreis der VL, haben durch den Vormarsch des Neoliberalismus im Westen und die Art der Reformen im Osten eine starke Gefährdung der DDR gesehen. Nicht in der Geschwindigkeit, wie der Anschluss dann gekommen ist, weil wir nicht geglaubt haben, dass die Sowjets die DDR so kampflos preisgeben, das war für uns nicht vorstellbar. Was wir gesehen haben, war vielmehr die Variante, die sich in Ungarn und Polen ja schon damals abzeichnete: Marktwirtschaft und Kapitalismus von innen heraus. Da haben wir gesagt: Eine breite Linke ist die einzige Chance, und eine, wenn man so will, entschlossene Linke, eine möglichst entschlossen handelnde Linke, die versucht, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, weil uns das die einzige Möglichkeit zu sein schien, wie die Linke überhaupt neue moralische Autorität gewinnen kann.

Aus dieser Logik erklären sich auch viele Vorschläge, die wir im Herbst 1989 gemacht haben. Wir haben z.B. gesagt, wenn wir über Demokratie reden, dann über Demokratie von unten, nicht über Demokratie von oben. Nach der ersten richtig großen Demonstration am 9. Oktober war das Politbüro ja sofort eingeknickt und hat ein Dialogangebot formuliert. Wir haben dieses Dialogangebot zurückgewiesen und haben gesagt, das ganze Politbüro muss weg. Wir haben gesagt, wir müssen in diesem Machtvakuum ein Provisorium schaffen, das aus anerkannten Vertretern der Kirchenopposition besteht und aus anerkannten Reformern aus der SED. Die sollten eine Übergangsregierung bilden und einen „Volkskongress“ organisieren, in dem Belegschaftsvertreter, gewählte Vertreter aus den Stadtteilen usw. mit eben den oppositionellen Kräften, die es gab, zusammenkommen. Wir haben bewusst „Volkskongress“ gesagt, denn Rätekongress klang zu sehr nach SED-Sprache. Das hätte ein Projekt der Demokratisierung von unten sein sollen. Wir wollten damit ein Angebot auch an Erneuerer in der SED machen; damals haben wir an Modrow und Gysi und solche Leute gedacht. Die hätten einen Volkskongress oder Rätekongress, der sich von unten entwickelt, politisch ermöglichen sollen. Das haben wir versucht, in den Prozess einzubringen, und damit sind wir gescheitert. Und zwar ganz und gar gescheitert. Stattdessen hat sich eine Verhandlungslösung durchgesetzt, die am Ende zum „Runden Tisch“ (2) geführt hat.

Warum?

Ein wichtiger Aspekt war: Es hat eigentlich kaum jemand für möglich gehalten, dass die Sowjets das Land einfach fallen lassen. Ich – und auch viele andere – dachte immer, es kommt eine Militärdiktatur. Zudem hatten alle, die Bevölkerung wie die Aktiven, im Herbst 1989 Peking im Kopf, wo ja im Juni die Demokratiebewegung blutig erstickt worden war. Und die SED hat indirekt, aber unmissverständlich, auch wenn sie’s im Nachhinein bestreiten, damit gedroht. Deshalb haben viele den Verhandlungsweg unterstützt. Reformismus, damit die Panzer nicht kommen.

Außerdem gab es auch in der Bürgerbewegung einen moderaten, reformistischen Flügel und einen radikaleren. Und der reformistische Flügel hatte eine institutionelle Verankerung in der evangelischen Kirche und eine soziale Verankerung in bestimmten Teilen der Intelligenzia. Und die haben stark auf Verhandlung orientiert.

Auch ihr habt euch nach anfänglichem Zögern am „Runden Tisch“ beteiligt. Was habt ihr da gemacht?

Auch am „Runden Tisch“ haben wir den Gedanken des Volkskongresses und einer Demokratie von unten immer wieder eingebracht. Aber das ist nicht aufgegriffen worden. Durchgesetzt hat sich am „Runden Tisch“ sehr schnell die Wahl-Option, wenn man so will als Modell einer Demokratie von oben. Das war vor allem das Projekt der Parteien, vor allem der SDP (Vorläufer der SPD), die sich damals gute Chancen ausrechnete, die Wahlen zu gewinnen, und des Demokratischen Aufbruchs, der dann zur CDU ging. Aber auch Teile der Bürgerbewegung gingen in diese Richtung. Das Wahlprojekt entsprach auch viel mehr der SED, die damals schon SED-PDS hieß, weil sie natürlich organisatorisch und infrastrukturell die stärkste Partei war. So hat man sich am „Runden Tisch“ geeinigt.

Das Scheitern des Projekts einer Demokratie von unten hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass sich die Dynamik dann so schnell nach rechts verschoben hat, hin zu Wiedervereinigung im Sinne eines Anschlusses an den Westen.

Wenn du euer damaliges Agieren heute resümieren solltest, was würdest du sagen?

Zusammengefasst: Die Opposition hat es versäumt, die sozialen Probleme der Massen aufzugreifen, neue Machtorgane von unten zu schaffen und damit auch derart in den Prozess einzugreifen, dass sie es ist, die die Mauer öffnet, dass sie auch die Verhandlungen übernimmt und die Wiedervereinigung einleitet in einem längeren Prozess, in einem Prozess, der auch die westdeutsche Linke mobilisiert und die Frage nach sozialen Rechten in ganz Deutschland auf die Tagesordnung setzt. Doch die Linke war nicht in der Lage, den Prozess derart zu gestalten. Das festzuhalten ist mir wichtig. Das wäre die Lehre für die Zukunft, dass man für solche Fragen gerüstet sein muss.

Aber dass die Opposition so war, wie sie war, und dass auch die Arbeiter und Angestellten so waren, wie sie waren, lag natürlich an der Gesellschaft DDR, an diesem Obrigkeitsstaat. Für einen großen Teil der Bevölkerung war es natürlich sehr bequem, das Angebot der Konservativen anzunehmen, die gesagt haben: Wir schenken euch alles. In einer Gesellschaft, die keine Kampftraditionen hat, fällt so etwas natürlich auf fruchtbaren Boden.

Uns hat dagegen in diesem Moment ein revolutionärer, na, das ist vielleicht schon zu viel gesagt, aber ein vergleichbarer Partner im Westen gefehlt. Die Umbrüche in der kleinen DDR spielten sich vor dem Hintergrund eines völlig stabilen Westdeutschland ab. Allein konnten wir nichts werden. Deshalb sind wir auch sehr schnell in die Defensive geraten.

Letztlich läuft es darauf hinaus, dass in einem derartigen Polizei- und Überwachungsstaat wie der DDR keine gute Opposition existiert. Deshalb war auch das Glücksgefühl, endlich frei zu sein und endlich sagen zu dürfen, was man denkt, bei eigentlich allen Leuten so groß.

Themenwechsel: Welche Bilanz ziehst du nach den 15 Jahren?

Das hat natürlich viele Facetten. Meine persönliche Bilanz ist: Es ist genauso verkehrt gekommen, wie ich’s mir vorgestellt habe. Wir haben eine historische Niederlage erlitten, das wurde uns ziemlich schnell klar.

Mit der Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 war klar, dass die DDR-Wirtschaft kaputtgeht. Das Folgende möchte ich gerne festhalten: Nach dem Nationalsozialismus, also nach 1945, halte ich diese Art der Wiedervereinigung für eines der großen Verbrechen überhaupt, das die deutsche Bourgeoisie begangen hat. Es war der größte Raubzug der westdeutschen Bourgeoisie seit der Hitlerzeit. Sie hat die ostdeutschen und osteuropäischen Märkte erobert und sich auf Kosten der Lohnabhängigen und Erwerbslosen in Ost und West die Taschen gefüllt. Das hat zu großen Verwerfungen in der gesamtdeutschen Gesellschaft geführt. Natürlich ordnet sich dieser Prozess in einen globalen Prozess ein, den man Neoliberalismus nennt, aber was Deutschland betrifft, ist das die Verantwortung der deutschen Bourgeoisie und der deutschen Konservativen, das sollte man ihnen auch nicht schenken!

Auf dieser abstrakteren Ebene sehe ich mich also leider in den schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Allerdings hatte ich in einer Hinsicht eine optimistischere Annahme für die Zeit nach der Wiedervereinigung: Ich habe nicht vermutet, dass es so glatt laufen würde, die ostdeutsche Wirtschaft zu liquidieren. Ich habe mit einem Aufstand gerechnet. Keinen mit idealistischen Zielen, aber einen Verzweiflungsaufstand habe ich wohl erwartet. Und ich habe erwartet, dass das der Hintergrund ist für das Wiederentstehen einer neuen Arbeiterbewegung. Da habe ich mich völlig verkalkuliert. Bis auf einige, durchaus sehr militant geführte Kämpfe bei der Abwicklung der ostdeutschen Industrie ist nichts geschehen. Erst jetzt sind erste Anzeichen zu spüren, dass sich das auch wieder ändern könnte. In den Montagsdemos z.B. sehe ich erste Ansätze für was Neues.

Sind dann die Montagsdemos der verspätete Verzweiflungsaufstand gewesen, von dem du gesprochen hast?

Nein. Der kommt, wenn überhaupt, nur bei denen, die noch etwas zu verlieren haben. Bei den Opel-Arbeitern vielleicht. Nein, ich sehe die Funktion der Montagsdemos im Moment vor allem darin, eine Protestkultur wieder zu entdecken. Das gilt sicherlich nicht so sehr für die organisierte Linke, sondern für die ganz normalen Leute.

Eine Schwierigkeit ist natürlich, dass bei den Protesten der Funke von Ost nach West nicht übergesprungen ist. Das liegt sicher einerseits an der unterschiedlichen strukturellen Betroffenheit, aber auch daran, dass diese Demos etwas kulturell Neues sind, gerade für die Westgesellschaft, wenn es um soziale Fragen geht. Das Neue, das ich meine, besteht darin, dass zu diesen Demos normale Leute ganz von allein gegangen sind. Da hat niemand etwas organisiert, keine Züge, keine Busse, wie es sonst bei größeren Demos im Westen üblich ist.

Bei uns war einmal die These zu lesen, dass auf den Montagsdemos vor allem diejenigen vertreten waren, die auch die Wende aktiv miterlebt haben und nun auf der Verliererseite stehen, Leute von 35 bis 55. Ein letzter Aufstand der WendeverliererInnen …

Sicherlich sind auf den Demos vor allem die 40- bis 55-jährigen gewesen, die nach der Wende arbeitslos geworden sind. Wobei man nicht vergessen darf, dass Arbeitslosigkeit im Osten auch ein riesiges Jugendproblem ist. Auf den Montagsdemos sind überdurchschnittlich Menschen mit einem hohen Bildungsstand vertreten, Leute mit Hoch- und Fachschulabschluss. (Das liegt natürlich daran, dass im Osten nicht nur die politischen, sondern auch die technischen Wissenschaftseinrichtungen zerschlagen wurden.) Das heißt, es kommt zu einer gemeinsamen Betroffenheit von ganz unterschiedlichen sozialen Gruppen, die bisher immer getrennt voneinander agiert haben: die Qualifizierten, die Unqualifizierten und die Hochqualifizierten – alle sind sie betroffen. Das scheint mir ein sehr wichtiger Punkt auch für die Einschätzung von Widerstandspotenzial für die Zukunft zu sein und für die Frage nach neuen gesellschaftlichen Bündnismöglichkeiten. Auf den Montagsdemos ist die arbeitslose Intelligenz nicht für Sonderrechte und Privilegien, sondern für allgemeine Rechte eingetreten; das ist etwas Neues und Innovatives. Und es ist m.E. nichts für Ostdeutschland spezifisches, sondern hier kommt es nur wegen der hohen Betroffenheit besonders zum Ausdruck.

Auch wenn du die Montagsdemos eher positiv einschätzt, könnte man ja die Auffassung vertreten, dass politisch vor allem die extreme Rechte profitiert hat: in Form von Wahlergebnissen, aber auch in Form einer Aufbruchstimmung, die in organisatorischen Schwung umgesetzt werden konnte. Ein Beispiel dafür wäre das Zusammengehen von NPD und DVU in der Wahlfrage. Wie siehst du das, und was sind deiner Meinung nach die Gründe für das Scheitern der Linken?

Ich sehe mir den Prozess eher unter dem Blickwinkel an: Was ist bei den Montagsdemonstranten passiert? Verheerend wäre, wenn die Montagsdemonstranten gelernt hätten, man kann nichts machen, Protest bringt nichts. Aber, wie gesagt, so ist es nicht gewesen, die Proteste waren keine Niederlage. Eine Niederlage hätte die extreme Rechte sicher sehr viel mehr gestärkt. Insofern sehe ich die Montagsdemos als erstes Anzeichen für eine neue Dynamik in sozialen Protesten.

Natürlich hat auch die Rechte gewonnen, aber das Hauptproblem liegt meiner Meinung nach auf der Linken. Es gibt eine Ähnlichkeit zu dem, was ich über 1989 gesagt habe: Die Linke hat sich nicht als auf der Höhe der Zeit stehend erwiesen. Es ist deutlich geworden, dass sie über keinerlei Konzepte verfügt, wie mit solchen Protesten umzugehen ist.

Woran liegt das? Im Osten sicherlich daran, dass die Linke keine tragfähigen Strukturen mehr hatte. Die sind ja nach der Wende sofort wieder zusammengebrochen; jetzt gibt es wieder fast nur die PDS. Im Westen kommt hinzu, dass die radikale Linke überhaupt nicht sozial orientiert war, sie hatte andere Themen. Im Bereich Soziales gibt es da nur die T-Gruppen, wie sie ein Freund von mir kürzlich analog zu den K-Gruppen genannt hat, also die ganzen trotzkistischen Grüppchen. Und die MLPD, die ja auch noch sehr stark in stalinistischen Mustern arbeitet. Und diese Gruppen haben nun sofort versucht, ihre Okkupationsversuche im alten Stil zu machen. Aber ich hoffe, dass das Kinderkrankheiten sind, denn sehr lange kann man sich das nicht erlauben.

In Berlin z.B. habe ich mir beide Demos angeguckt: Auf der einen Demo, auf der ich mich inhaltlich sehr viel eher wiederfinden konnte, auf der nämlich von Attac bis zu den Basisbündnissen usw., da waren vor allem die Leute zu sehen, die auf jede linke Demo gehen, die sie betrifft. Die waren weitgehend unter sich. Andererseits waren auf der Demo der MLPD, die ich schlimm finde, das kann man sich ja denken, und deren Inhalte ich ablehne, genau die Leute, die ich gerne in meinem Zug gehabt hätte. Man muss sagen, dass diese Stalinpartei sehr klug die Sprache der Leute gesprochen hat, und dadurch war sie in gewissem Sinne sehr erfolgreich. Und wenn es uns eben nicht gelingt, auch genau diese Leute anzusprechen, die ganz normalen Arbeiter und Angestellten, und zwar mit neuen, aktuellen Konzepten und nicht im Sinne stalinistischer Okkupationsversuche, dann wenden sich diese Leute auch den Rechten zu. Diesen Trend gibt es ja auch im Westen, nur ist er im Osten extremer ausgeprägt, weil ja auch die Probleme extremer sind, aber an sich geht es in die gleiche Richtung.

Möchtest du ein Schlusswort sprechen?

Eigentlich würde ich lieber ein optimistisches Schlusswort sprechen, aber es gibt tatsächlich noch eine Entwicklung, auf die ich hinweisen möchte und die an den vorherigen Punkt anschließt: Überall ist ja das Phänomen zu beobachten, dass die großen Parteien, die ja auch ideologisch bestimmte Milieus gebunden haben, an Wählern verlieren – und zwar in absoluten Zahlen! Diese Leute müssen und werden sich neu orientieren. Und diese Entwicklung sollte die Linke elektrisieren. Wenn die Linke da nicht zur Stelle ist und nicht in moderner, adäquater Weise die sozialen Fragen stellt und sie mit anderen Fragen, etwa der Ökologie verbindet, dann wird die Rechte das Rennen machen, das sehe ich als ganz große Gefahr im Moment an. Auf der Linken ist derzeit niemand, der attraktiv ist, um den frustrierten Leuten auf ihre Probleme Antworten zu geben. Da liegt die drängende Aufgabe der Linken im Moment. Und in dem Zusammenhang möchte ich gerne noch einmal an die oben beschriebene Chance erinnern, dass neue gesellschaftliche Bündnisse möglich sind. Diese Chance sollte die Linke ergreifen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Anmerkungen:

1) Als „Böhlener Plattform“ ist der Aufruf bekannt geworden, mit dem die Initiativgruppe für eine Vereinigte Linke im September erstmals an die Öffentlichkeit trat. In diesem Aufruf ist ein Forderungskatalog enthalten, in dem u.a. der Rücktritt des Politbüros der SED und der Regierung verlangt wird. Er ist deshalb in der Bürgerbewegung vielfach kritisiert worden. Er gefährde den Dialog mit den Machthabern.

2) Mit dem „Runden Tisch“ ist der „Zentrale Runde Tisch“ in Berlin gemeint. Er wurde im Dezember 1989 auf Einladung der Kirchen zum ersten Mal einberufen. An ihm wollten die Kirchen mit Gruppen aus der Bürgerbewegung, den Blockparteien und mit VertreterInnen der SED-PDS Vorschläge zur Überwindung der Krise erarbeiten. Der „Runde Tisch“ hatte keine wirkliche Regierungsfunktion; er war von Volkskammer und Regierung aber rechtzeitig über wichtige Entscheidungen zu informieren, seine Vorschläge in die Entscheidung einzubeziehen.


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