Zum ersten Mal wollen die wichtigsten politischen Kräfte der Türkei gemeinsam versuchen, den Kurdenkonflikt friedlich beizulegen. Dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und sein stärkster politischer Rivale, der Sozialdemokrat Kemal Kilicdaroglu, das Thema nun gemeinsam anpacken wollen, wird von Intellektuellen, Medien und Menschenrechtsgruppen einhellig als Durchbruch gefeiert.
Wie weit die künftigen Rechte der kurdischen Minderheit gehen sollen, darüber wurde noch nicht geredet. Und doch ist seit zwei Tagen auf türkischer wie auf kurdischer Seite von einer „neuen Atmosphäre“ die Rede – und von einer „einmaligen Chance“.
Nachdem Erdogans Vorhaben einer „Öffnung zu den Kurden“ als gescheitert galt, ergriff nun Oppositionschef Kilicdaroglu die Initiative . Auf seinen Vorschlag hin soll das Parlament in Ankara einen Zeitplan für eine friedliche Beilegung des Konflikts ausarbeiten. Und das ungeachtet der Querschüsse der türkischen Nationalistenpartei MHP. Denn die will das Vorhaben in jedem Fall boykottieren.
Luftangriffe und Massenverhaftungen
Mehr als 40.000 Menschen sind seit Mitte der 80er Jahre Opfer des Krieges zwischen türkischem Militär und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK geworden. Im vergangenen Jahr hat die PKK vermehrt Armeekonvois und Polizeistationen angegriffen. Die Regierung reagierte mit Luftangriffen und Massenverhaftungen. Bei der Bombardierung von kurdischen Schmugglern wurden im vergangenen Dezember 34 Zivilisten getötet. Das Militär erklärte dazu, es habe sich um einen Irrtum gehandelt. Die Schmuggler seien für Terroristen gehalten worden.
Hunderte kurdische Studenten, Professoren und Journalisten wurden in den vergangenen Monaten verhaftet. Sie stehen unter Verdacht, als verlängerter Arm der PKK den Aufbau einer Stadtguerilla zu betreiben. Die Beweise sind in den meisten Fällen sehr dürftig. Ein kurdisches Halstuch zu tragen oder an einer Demonstration teilzunehmen, kann genügen, um nach den geltenden Anti-Terror-Gesetzen zu zehn Jahren Haft verurteilt zu werden.
Erstaunlicher Schwenk
Nun scheint Ministerpräsident Erdogan also ein neues Kapitel aufschlagen zu wollen. Besonders erstaunlich dabei ist, dass seine AKP zum ersten Mal mit den Kemalisten, der Republikanische Volkspartei (CHP), an einem Strang ziehen will. Denn zuvor hatten diese beiden Parteien einander als Staatsfeinde, Extremisten, Putschisten oder zumindest als Totengräber der Demokratie verunglimpft.
In den vergangenen Wochen hatte der mächtige Regierungschef seine Rhetorik sogar deutlich verschärft: gegen die Opposition, gegen liberale Kritiker, gegen Befürworter der Abtreibung, vor allem aber gegen kurdische Politiker, denen er Komplizenschaft mit Terroristen vorwarf. Umso erstaunlicher ist sein neuester Schwenk. Statt auf weitere Polarisierung der Gesellschaft scheint Erdogan nun auf Konsens zu setzen. Zumindest in der Kurdenfrage, die Staatspräsident Abdullah Gül einmal als das „Problem Nummer eins“ der Türkei bezeichnet hat.
Was steckt hinter der neuen Kurdenpolitik?
Drei Gründe könnten nach Ansicht türkischer Kommentatoren für die Neuausrichtung der türkischen Kurdenpolitik den Ausschlag geben: die zunehmende Frustration des Militärs, das den Krieg gegen die PKK-Guerilla nicht gewinnen kann. Die Hoffnung, einen Keil zwischen kurdische Bevölkerung und PKK treiben zu können. Und die Angst vor einem regionalen Dominoeffekt: Im benachbarten Irak beherrscht die kurdische Bevölkerung bereits einen Staat im Staat. In Syrien könnte nach dem Fall von Präsident Baschar al-Assad ein ähnliches Gebilde entstehen. Eine solche Entwicklung kann auf die Kurden in der Türkei nicht ohne Wirkung bleiben.
Auch wenn die Türkei mit 600.000 Mann über die zweitstärkste Armee der NATO verfügt, ist es ihr bisher nicht gelungen, die PKK von ihren Rückzugsgebieten im Irak, in Syrien und im Iran abzuschneiden.
Verbündeter Assad fällt weg
Mehr als zwölf Jahre lang hat das Assad-Regime der Türkei geholfen, die PKK unter Kontrolle zu halten. Und erst im vergangenen Jahr hat Ankara mit dem Iran ein Abkommen „zur gemeinsamen Abwehr des Terrorismus“ geschlossen. Doch der Bürgerkrieg in Syrien und die türkische Parteinahme gegen Assad haben diese Eindämmungspolitik zunichte gemacht: Weder Assad noch die Führung in Teheran wollen der Türkei nun gegen die PKK helfen.
Mit der kurdischen Führung im Irak versucht die türkische Regierung nun sogar ins Geschäft zu kommen. Das irakische Kurdistan verfügt über gewaltige Ölreserven, die für die Türkei wertvoll sind. Aber auch diese Politik könnte für die Türkei gefährliche Folgen haben. Entwickelt sich das irakische Kurdistan zu einem selbstständigen Staat, könnte das auch die Separatisten im türkischen Kurdistan beflügeln.
Wahlerfolg der Kurdenpartei
Bis vor einem Jahr hatte Ministerpräsident Erdogan noch gehofft, die Bevölkerung des wirtschaftlich unterentwickelten Südostens auf seine Seite zu ziehen. Doch die Parlamentswahlen im vergangenen Juni haben diesem Plan einen Dämpfer versetzt. Großer Gewinner der Wahl wurde die prokurdische BDP. Als politischen Ansprechpartner hat Erdogan die BDP jedoch nie akzeptiert. Vielmehr versuchte er, die gewählten kurdischen Politiker als Marionetten der PKK und ihres inhaftierten Führers Abdullah Öcalan hinzustellen. Nun soll also die BDP gemeinsam mit der CHP und Erdogans AKP an einem Tisch sitzen und an einer Lösung des kurdischen Problems mitwirken, eine späte Anerkennung für ihren Wahlerfolg.
Eine verdrängte Geschichte
Geht es nach dem Chef der türkischen Nationalistenpartei MHP, Devlet Bahceli, dann gibt es keine kurdische Frage. Bürger kurdischer Herkunft seien einfach Bestandteil der türkischen Nation – und damit Schluss. In diesem Sinn hatten sich jahrzehntelang nahezu alle Vertreter der politischen Elite geäußert. Dass zumindest ein Fünftel der türkischen Bevölkerung eine andere Muttersprache hat als Türkisch, wurde als Fußnote der Geschichte betrachtet.
Aber ein Anspruch auf eigene kulturelle, geschweige denn politische Rechte wurde daraus nicht abgeleitet. Viele Türken haben die kurdische Minderheit erst seit den 1980er Jahren wahrgenommen, als die PKK mit Entführungen und spektakulären Terroranschlägen Aufmerksamkeit und Angst erregte.
Aufstände blutig niedergeschlagen
Dabei gab es schon Jahrzehnte früher bewaffnete Aufstände gegen die Zentralmacht in Ankara. Hatten die Kurden im Unabhängigkeitskrieg noch Seite an Seite mit Republikgründer Atatürk gegen ausländische Besatzungsmächte gekämpft, so wurde aus der Allianz bald ein unüberbrückbarer Gegensatz. Atatürks kurdische Verbündete hatten sich im Gegenzug eine regionale Autonomie erwartet. Das wurde ihnen bis zum heutigen Tag versagt.
Die bewaffneten Aufstände wurden in den 20er und 30er Jahren blutig niedergeschlagen. Der überwiegend kurdisch bevölkerte Südosten fiel wirtschaftlich und sozial gegenüber dem Rest des Landes zurück. Einzelne, gut ausgebildete Kurden konnten es in der modernen Türkei allerdings bis an die Staatsspitze schaffen, wie Turgut Özal, der von 1983 bis 1993 Regierungschef und Staatspräsident war. Seit den 1950er Jahren sind Millionen Kurden in die türkischen Großstädte ausgewandert oder als Gastarbeiter nach Europa.
Erdogans Politik der „sanften Öffnung“
Nach dem Wiederaufflammen des bewaffneten Konflikts durch die PKK unter Öcalan setzte eine landesweite Repression gegen kurdische Oppositionelle ein. Tausende wurden verhaftet, gefoltert und getötet. Die Verwendung des Begriffs „Kurdistan“ wurde schwer bestraft. Sogar die Verwendung „kurdischer Buchstaben“, die im türkischen Alphabet nicht vorkommen, wurde untersagt.
Erst die islamisch-konservative Regierung Erdogans brachte zum ersten Mal eine Lockerung der antikurdischen Gesetze. Zeitungen und sogar Fernsehstationen in kurdischer Sprache wurden zugelassen. Erdogan bezeichnete diese Politik selbst als „Öffnung zu den Kurden“ und weckte damit viele Hoffnungen auf eine baldige Beendigung des bewaffneten Konflikts.
Nationalisten erzürnt
Unbemerkt von der türkischen Öffentlichkeit ließ Erdogan seinen Geheimdienstchef mit Vertretern der PKK verhandeln. Doch spätestens seit den Wahlen von 2012 und einer neuen Offensive der PKK im vergangenen Sommer galt die „Kurdische Öffnung“ als gescheitert. Nach Ansicht der Nationalisten unter Devlet Bahceli war dieses Scheitern vorauszusehen, da die „kurdische Frage“ eine „Erfindung von Terroristen“ sei. Dementsprechend sehen er und seine Anhänger auch die neue Initiative von Erdogan und Kilicdaroglu als „Verrat an der Nation“, für den er und seine Partei MHP sich niemals hergeben würden.
Was macht das Militär?
Bisher wäre ein Dialog der türkischen Führung mit der kurdischen Minderheit nicht ohne Zustimmung des Militärs möglich gewesen. Auch jetzt fragen sich viele türkische Beobachter, wie die einst allmächtige Armeeführung sich jetzt verhalten wird. Einerseits wurde das Militär von der AKP-Regierung politisch geschwächt und gedemütigt. Hunderte Offiziere sitzen im Gefängnis, weil ihnen Komplizenschaft mit Putschisten vorgeworfen wird. Damit könnte gerade jetzt der Zeitpunkt für eine politische Lösung des Kurdenproblems besonders günstig sein.
Andererseits wird Erdogan nicht aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln. Die Angriffe gegen Stellungen der PKK innerhalb und außerhalb der Türkei werden deshalb wohl unvermindert weitergehen. Und es ist gerade diese Rolle im Anti-Terror-Kampf, die dem Militär bisher am meisten Prestige gebracht hat – und Zugang zu Budgetmitteln. Deshalb befürchten Kritiker des Militärs, die Generäle könnten daran interessiert sein, den Konflikt mit der PKK zu schüren. Das Massaker von Uludere im Vorjahr wird als Indiz für diese geheime Agenda des Militärs angesehen. Nun wird sich zeigen, inwieweit der Regierungschef seine Armeeführung unter Kontrolle hat.
Christian Schüller, ORF-Istanbul