Claudia1 Dworczak, P.Habr, P.U.Lehner, 7.1.12
Die fehlende Kraft
mi/zeitungl/texte/artikel/grundsatz 6
Grundsätzliches zur aktuellen Lage
In der Welt rumort es. Sogar in der Weltzentrale des Kapitalismus, der Wall Street, versammeln sich Angehörige aller Bevölkerungsschichten und Altersgruppen gegen den entfesselten Kapitalismus.
Der Protest formiert sich allmählich zu einem Mainstream nicht mehr nur gegen „die Reichen“ und zur Forderung nach einer „Reichensteuer“. Auch das gesellschaftliche System, das diese provozierende Reichtumsverteilung hervorbringt, wird allmählich angesprochen. Doch die Ursachen dieser Auswirkungen werden nur von marginalisierten linken Minderheiten thematisiert. Die historische Linke, speziell die Sozialdemokratie, ist kaum zu vernehmen.
Die Ursachen dieser Krise liegen in der Struktur des Kapitalismus, im verselbstständigten „Mechanismus“ der privaten Kapitalanhäufung durch Ausbeutung der lebendigen Arbeit. Das bewirkt, dass „die kapitalistische Produktion … auf der einen Seite für die Gesellschaft verliert, was sie auf der anderen für den einzelnen Kapitalisten gewinnt“ (Karl Marx). Die Außerkraftsetzung dieser „automatischen“ Umverteilung von der Arbeit zum Kapital ist für die Sozialdemokratie so gut wie kein Thema. Sie hat ihre theoretischen Grundlagen verdrängt und ist keine gesellschaftspolitische Kraft mehr.
Von enttäuschten Wähler/innenmassen, und von kritischen Linken erst recht, wird sie nicht als Alternative wahrgenommen. Konservative, Liberale und Technokrat/inn/en dominieren mit ihrer „Rettung des Euro“ in den Medien. Zu einer „Schuldenkrise“ umgemogelt, wird ihr primär mit „Sparen“ begegnet. Weil Sparen in Haushalten mit kleinen Einkommen eine vertraute Wirklichkeit ist, funktionierte die Strategie bislang recht gut, zu behaupten, „wir haben über unsere Verhältnisse gelebt und müssen daher jetzt sparen“. So werden Benachteiligte zwecks weiterer Hinnahme ihrer Benachteiligung umnebelt. Bei Parlamentswahlen sinkt die Wahlbeteiligung und driften die Stimmen zu konservativen und rechten Parteien.
Das Fehlen einer wirksamen linken Alternative dürfte auch mit dem Zusammenbruch der europäischen Zentralverwaltungswirtschaften zu tun haben. Ihre anerkennenswerten öffentlichen Grundversorgungen in Bildung, Gesundheit, Wohnen und anderen Bereichen waren von einer politbürokratischen Herrschaft überlagert. Diese nannte sich selbst „sozialistisch“, obwohl Gedankenfreiheit und Meinungsvielfalt fehlten, Menschenrechte verletzt wurden, ein problematischer Produktionswettlauf mit „dem Westen“ eingegangen wurde und ein „mechanistisch“ missverstandener Geschichtsverlauf einer trügerischen Gewissheit über den „Sieg des Sozialismus“ Vorschub leistete. Dadurch wurden der Begriff Sozialismus und seine theoretische Grundlage Marxismus einer denunziatorischen Verleumdung ausgeliefert, so dass heute kaum eine sozialdemokratische Massenpartei mit beiden etwas zu tun haben will. Durch den Politbürokratismus wurde der Marxismus als „Erbe dessen, was im früheren, revolutionären Bürgertum an Humanem“ beabsichtigt war (Ernst Bloch), nachhaltig diskreditiert.
Doch anstatt den humanen Gehalt des Marxismus, seinen wissenschaftlichen Kritizismus und die dialektische Methode an Hand seiner authentischen Quellen gegen seine Dogmatisierung durch politbürokratisch-staatliche Machtapparate in Stellung zu bringen, wurde von der Sozialdemokratie unkritisch diesem Zerrbild des Marxismus aufgesessen und es als Vorwand benutzt, von ihm abzurücken. Damit begab sie sich des scharfsinnigsten Instrumentariums für die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge des Kapitalismus als Grundlage für ihre Gesellschaftspolitik. Das verstärkte ihre Anfälligkeit für technokratische Politik.
Statt Demokratisierung als Voraussetzung für das Tätigwerden „der gesellschaftlichen Mehrheit im Interesse der gesellschaftlichen Mehrheit“ anzugehen, glitt sie in eine Anpassung an elitäre Wirtschaftsstrukturen ab, in denen „Führungskräfte“ als Marionetten im Kapitalverwertungsprozess den Benachteiligten vorgaukeln, sie könnten durch folgsames Sich-Ausliefern an den Götzen Kapital zu Glück und Wohlstand kommen.
Claudia Dworzak, Paul Habr und peter ulrich lehner