Ohne »wirkliche Verteidigung«
US-Staatsanwalt räumt Verfahrensfehler im Fall Mumia Abu-Jamal ein. Der Berufungsantrag des zum Tode verurteilten Journalisten wird 2007 vor dem 3. Bundesberufungsgericht in Philadelphia verhandelt
Von Dave Lindorff
Quelle: jungeWelt vom 30.12.2006
Dave Lindorff ist Autor des Buches »Killing Time – An Investigation into the Death Row Case of Mumia Abu-Jamal« (Monroe, Massachussetts, 2002). Als Journalist hat er für US-Publikationen wie Rolling Stone, The Nation, In These Times, Mother Jones, Village Voice, Salon, den Londoner Observer und die australische National Times gearbeitet und schreibt heute als Kolumnist für das US-Magazin CounterPunch (www.counterpunch.org). Er lebt in Philadelphia und hat mehrere Artikel über Abu-Jamals Fall verfaßt, in denen er die komplizierte Rechtsgeschichte und die Widersprüche dieses Justizskandals allgemeinverständlich beschreibt. Lindorff arbeitet seit Jahren mit dem Hauptverteidiger Abu-Jamals, Robert R. Bryan aus San Francisco, zusammen. Bryan wird als Referent auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2007 in Berlin zum gegenwärtigen Stand des Verfahrens sprechen.
Es ist nun 25 Jahre her, daß der Polizist Daniel Faulkner im Rotlichtviertel des Stadtzentrums von Philadelphia erschossen wurde. Seitdem ist er zu einer Symbolfigur der Todesstrafenbefürworter in den USA geworden. Ebenfalls 25 Jahre ist es her, daß der Mann, der für Faulkners Tod verurteilt wurde – der Radiojournalist und frühere Black Panther Mumia Abu-Jamal aus Philadelphia –, am 9. Dezember 1981 verhaftet wurde. Seit Juli 1982 befindet sich Abu-Jamal in der Isolationshaft der Todeszelle Pennsylvanias, und durch die Fortsetzung seiner Arbeit auch im Todestrakt ist er zu einem weltbekannten Gefängnisautor und zu einer Symbolfigur der Todesstrafengegner geworden.
Mumia Abu-Jamal wird nun zum ersten Mal seit 25 Jahren die Chance bekommen, vor dem zweithöchsten Gericht der USA darzulegen, daß sein Prozeß des Jahres 1982 durch Verfassungsbruch, Vorurteile der Justiz, Rassismus bei der Auswahl der Geschworenen und Manipulationen seitens der Staatsanwaltschaft geprägt war. Dies kann zur Folge haben, daß die Richter des 3.Bundesberufungsgerichts, die im Frühjahr 2007 eine mündliche Anhörung über Abu-Jamals Berufungsantrag wegen des abgelehnten Wiederaufnahmeverfahrens abhalten werden, am Ende beschließen könnten, einen neuen Prozeß für Abu-Jamal anzuordnen, der durch eine hochkarätige Verteidigung, Veränderungen des politischen Klimas, den Tod einiger Zeugen und durch neue Entlastungszeugen sehr wahrscheinlich mit einem Freispruch enden würde.
Gleichzeitig wird das dreiköpfige Berufungsrichtergremium über einen Gegenantrag der Staatsanwaltschaft von Philadelphia zu befinden haben, mit dem ein Urteil der nächstniedrigeren Instanz der Bundesgerichte aufgehoben werden soll. Mit diesem Urteil war vor fünf Jahren das Todesurteil gegen Abu-Jamal aufgehoben und in lebenslange Haft umgewandelt worden, hatte aber durch die eingelegten Berufungen beider Seiten keine Rechtskraft erlangt. Während das 3.Bundesberufungsgericht Abu-Jamal also einerseits eine neue Chance einräumen könnte, seine Unschuld zu beweisen oder das Gefängnis wegen der bereits erlittenen übermäßig langen Haft als freier Mann zu verlassen, könnte es ihn wegen des Berufungsantrags der Staatsanwaltschaft statt dessen auch zum Verbleib im Todestrakt und zu einer Begegnung mit der Giftspritze verdonnern.
Manipulierte Jury?
Schauen wir uns zuerst den Berufungsantrag der Staatsanwaltschaft an, weil der ziemlich simpel ist. Am 18. Dezember 2001 hat Bundesrichter William Yohn befunden, daß Abu-Jamals Todesurteil nicht verfassungsgemäß ist. Nach Yohn waren die Instruktionen, die der vorsitzende Richter, der mittlerweile verstorbene Albert Sabo, den Geschworenen gegeben hatte, und das von ihm dazu verwendete Formular mißverständlich. Es könnte Geschworene dazu verleitet haben, irrtümlicherweise anzunehmen, daß sie keine mildernden Umstände berücksichtigen durften, solange nicht alle zwölf Jurymitglieder einstimmig der Meinung waren, daß solche mildernden Umstände existierten. Wie Richter Yohn korrekterweise festgestellt hat, erlaubt das Gesetz aber jedem einzelnen Geschworenen, der einen solchen mildernden Umstand erkennt (z. B. wenn jemand eine schwere Kindheit hatte), dies als Faktor bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, für oder gegen die Todesstrafe zu stimmen. Weil das Gesetz ein einstimmiges Urteil der Geschworenen für den Fall der Verhängung der Todesstrafe verlangt, soll aber jedes der zwölf Jurymitglieder in die Lage versetzt werden, das Todesurteil vom Tisch zu bekommen, wenn er oder sie der Meinung ist, daß es ausreichende Gründe für das Erkennen auf mildernde Umstände gibt.
Wenn es dem zuständigen Staatsanwalt gelingt, wenigstens zwei der drei Bundesberufungsrichter davon zu überzeugen, daß Yohn falsch entschieden hat, dann würde Abu-Jamal im Todestrakt bleiben, und es gäbe für ihn als letzte Hoffnung, der Hinrichtung zu entgehen, nur noch das Oberste Bundesgericht der USA, den US Supreme Court. Selbst wenn alle drei Bundesberufungsrichter die Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft, wie Yohn sie vorgesehen hatte, gutheißen würden, könnte Abu-Jamal aber am Ende immer noch hingerichtet werden. Denn auch nach einem Urteil des Bundesberufungsgerichts hat die Staatsanwaltschaft noch das Recht, innerhalb von 180 Tagen zu entscheiden, ob sie eine neue Gerichtsentscheidung nur über die Strafzumessung beantragt. Träte dieser Fall ein, würde eine neue Jury eingesetzt, um Argumente für und gegen eine Hinrichtung zu hören und am Ende über die Alternative Todesstrafe oder lebenslange Haft ohne die Möglichkeit vorzeitiger Entlassung zu entscheiden.
Im vergangenen Jahr gab es überraschend eine positive Entscheidung des 3. Bundesberufungsgerichts, die einem Antrag von Abu-Jamals Verteidigung folgte und seine Chancen auf einen neuen Prozeß wesentlich erhöhte. Durch den Beschluß wird Abu-Jamals Verteidigung gestattet, dem einzigen Berufungsgrund, den Bundesrichter Yohn bereits als »beglaubigt« zugelassen hat, zwei weitere Gründe hinzuzufügen. Nach den für Bundesgerichte gültigen gesetzlichen Bestimmungen hat ein Todeskandidat nur das garantierte Recht, sein Urteil vor einem Bundesberufungsgericht anzufechten, wenn die dafür vorgebrachten Gründe von einem Bundesrichter einer niedrigeren Instanz zugelassen werden. Anträge an Bundesberufungsrichter können zwar auch nicht zertifizierte rechtliche Anfechtungen enthalten, aber die Berufungsrichter sind dann nicht verpflichtet, sich in einer Anhörung mit ihnen zu befassen. In Abu-Jamals Fall hatte Bundesrichter Yohn neunzehn von zwanzig Berufungsgründen abgewiesen und nur den einen zugelassen, in dem Abu-Jamals Verteidigungsteam [unter der damaligen Leitung des New Yorker Bürgerrechtsanwalts Leonard Weinglass] anfocht, daß die Staatsanwaltschaft systematisch schwarze Geschworene aus der Jury herausgehalten hatte. Das habe sie getan, indem sie zwar von ihrem Recht auf »pauschale Einsprüche« Gebrauch machte, für die keine Gründe genannt werden müssen, damit aber ausschließlich schwarze Kandidaten ablehnte. Bundesrichter Yohn war durch die stichhaltigen Argumente der Verteidigung derart besorgt, daß er diesen Grund für einen möglichen Berufungsantrag vor der nächsthöheren Instanz des 3. Bundesberufungsgerichts zuließ.
Mumia Abu-Jamals Verteidiger für die Berufung im abgelehnten Wiederaufnahmeverfahren, Rechtsanwalt Robert R. Bryan, ließ sich nicht beirren und nahm mehrere der von Yohn abgewiesenen Berufungsgründe erneut in seine Anträge auf, begründete sie aber fundierter und wurde im Dezember 2005 damit belohnt, daß das 3. Bundesberufungsgericht nun weitere Argumente für zwei zusätzlich zugelassene Berufungsgründe hören will.
Einer davon zielt auf die Tatsache, daß Ankläger Joseph McGill in seinem Plädoyer (vom Juli 1982) vor der Jury die Geschworenen zu Unrecht in dem Glauben bestärkt hatte, es sei kein Problem, wenn sie den Angeklagten zum Tode verurteilten. In völliger Umkehrung der Grundregel, daß Geschworene nur dann ein Urteil sprechen dürfen, wenn sie der Meinung sind, daß die Schuld des Angeklagten »zweifelsfrei« erwiesen ist, argumentierte McGill, die Jury solle den Angeklagten ruhig schuldig sprechen, weil ihr Urteilsspruch noch nicht das letzte Wort sei. McGill wußte als erfahrener Staatsanwalt genau, was er da tat, und gab den Geschworenen den falschen rechtlichen Hinweis, Abu-Jamal könne »Berufung nach Berufung nach Berufung« gegen ihren Schuldspruch einlegen, weshalb dieser also »nicht endgültig sein müsse«, und der vorsitzende Richter widersprach dem nicht. Bundesgerichte haben vergleichbare Versuche, den Geschworenen das Gefühl für ihre Verantwortung gegenüber einer solch schwerwiegenden Entscheidung zu nehmen, in der Vergangenheit generell als Verletzung der Verfassung gewertet. Es ist kaum vorstellbar, daß gewissenhafte Bundesberufungsrichter solch eine eklatante Unterminierung des Gesetzes für Recht erklären würden, und dennoch gibt es viele Beispiele dafür, daß Berufungsgerichte genau das getan haben; man darf nicht vergessen, daß Abu-Jamals Fall ein Politikum ist.
Zum Nachteil des Angeklagten
Der zweite Berufungsgrund, zu dem das 3. Bundesberufungsgericht weitere Argumente hören will, ist der Vorwurf, daß Richter Sabos Verhandlungsstil sowohl im ursprünglichen Verfahren als auch während der erstinstanzlichen Verhandlung über den Wiederaufnahmeantrag des Jahres 1995 von Vorurteilen geprägt war, die einen Verstoß gegen die Verfassung darstellen. Vor ein paar Jahren meldete sich bei Abu-Jamals Verteidigern eine Gerichtsstenographin namens Terri Maurer Carter, die aussagte, daß sie in den ersten Prozeßtagen von Abu-Jamals Prozeß im Jahre 1982 gemeinsam mit Richter Richard Klein, für den sie damals arbeitete, Ohrenzeugin war, als Sabo sagte, er werde »denen helfen, den Nigger zu grillen«.
Richterin Pamela Dembe vom Landgericht Philadelphias entschied 2001, es käme nicht darauf an, ob Sabo diese Aussage gemacht habe, »weil der Prozeß vor einer Jury stattfand«. Dieser Beschluß Dembes war insofern abwegig, als auch in einem Fall wie diesem, in dem Geschworene und nicht der vorsitzende Richter das Urteil fällen, der Richter über die Zulassung von Beweismitteln, die Zulässigkeit von Zeugenbefragungen und die generelle Verhandlungsführung entscheidet, und da sagt schon der gesunde Menschenverstand, daß ein Richter mit Vorurteilen leichtes Spiel hat, das Verfahren zum Nachteil des Angeklagten zu beeinflussen. Abgesehen davon ist es in einer Anhörung über einen Wiederaufnahmeantrag nicht eine Jury, sondern der Richter allein, der bestimmt, ob neue Beweise zugunsten des Antragstellers von Bedeutung sind, welche Zeugen geladen und welche Fragen an sie zugelassen werden. Sabos Parteilichkeit in dieser Verhandlung von 1995 war derart offen, daß der Philadelphia Inquirer damals in einem Editorial schrieb: »Vom ersten Moment an war das Verhalten des Richters in diesem Verfahren peinlich, und während der Anhörungen letzte Woche erweckte er nicht gerade den Eindruck von Unparteilichkeit. Im Gegenteil vermittelte er den Eindruck von übertriebener Eile und Feindseligkeit gegenüber der Verteidigung.«
Wenn am Ende zwei der drei Berufungsrichter nach Prüfung der Verteidigungsanträge zu dem Schluß kommen, daß eine die Verfassung verletzende Vorverurteilung durch den Richter gegeben war, würde das nicht zu einer Aufhebung des Urteils führen, sondern eher zu einer neuen Beweisanhörung vor einem Bundesrichter – sehr wahrscheinlich Bundesrichter Yohn. In einer solchen Anhörung würde Abu-Jamal die Chance bekommen, Zeugen zu benennen und zu befragen, die von Richter Sabo entweder nicht zugelassen worden waren oder in deren Vernehmung er sich eingemischt hatte. Abu-Jamal hätte sicher auch die Möglichkeit, neue Zeugen zu präsentieren, mit denen die Aussagen ursprünglicher Belastungszeugen erschüttert werden könnten. Möglich wäre auch die Präsentation von Hauptbelastungszeugen, die ihre Aussagen heute widerrufen. Eine solche Anhörung zur weiteren Beweiserhebung würde sicher den Weg zur Anordnung eines neuen Prozesses ebnen.
Rassistische Vorurteile
Der dritte Berufungsgrund, der zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens führen könnte – jener, der bereits von Bundesrichter Yohn 2001 zugelassen worden war –, bietet sicher die größte Chance, daß es zu einer Aufhebung des ursprünglichen Urteils kommen könnte. Hierbei geht es um rassistische Vorurteile bei der Auswahl der Geschworenen, einen Tatbestand, auf den auch die heutigen konservativen Obersten Richter des Supreme Court sehr sensibel reagieren. In Abu-Jamals Fall ist den Akten klar zu entnehmen, daß Staatsanwalt McGill elf seiner zulässigen 15 »pauschalen Einsprüche« dazu benutzte, elf schwarze Jurykandidaten abzulehnen, obwohl sie die Standardfrage bejaht hatten, ob sie auch einem Todesurteil zustimmen würden.1 Als in Abu-Jamals Prozeß die Geschworenenauswahl abgeschlossen war, saß der Angeklagte einer Jury von neun Weißen, aber nur drei Schwarzen gegenüber, von denen einer noch unter fragwürdigen Umständen von Richter Sabo aus dem Verfahren ausgeschlossen wurde. Und das in einer Stadt, in der 44 Prozent der Bevölkerung schwarz sind, und in einem Fall, in dem es um die Ermordung eines weißen Polizisten durch einen schwarzen Angeklagten ging. Während McGill behauptete, daß seine Gründe für die Ablehnung der eigentlich geeigneten Jurykandidaten nichts mit ihrer Hautfarbe zu tun gehabt hätten, beweisen sowohl seine eigenen Handakten als auch die Prozeßakten der Bezirksstaatsanwaltschaft unter dem damaligen leitenden Bezirksstaatsanwalt Ed Rendell (dem heutigen Gouverneur von Pennsylvania) das Gegenteil.
In zwei Studien wurde zudem statistisch nachgewiesen, daß McGill zwischen 1977 und 1986 als Anklagevertreter mittels »pauschaler Einsprüche« 74 Prozent der geeigneten schwarzen Jurykandidaten ablehnte, aber nur 25 Prozent der weißen. Bezogen auf die gesamte Bezirksstaatsanwaltschaft unter ihrem Leiter Ed Rendell waren es im selben Zeitraum 58 Prozent abgelehnte schwarze Jurykandidaten und nur 22 Prozent weiße. Nach der einschlägigen Rechtsprechung aktueller Präzedenzfälle des Obersten Bundesgerichts der USA muß ein Angeklagter aber gar nicht nachweisen, daß es solche allgemeinen Muster der Diskriminierung gibt, es reicht vielmehr der Nachweis, daß in seinem speziellen Fall rassistische Motive eine Rolle gespielt haben. McGills durchgängige Linie bei der Befragung potentieller Geschworener im Prozeß gegen Abu-Jamal zeigt genau das.
Obwohl Abu-Jamals Verteidiger Bundesrichter Yohn die eben dargelegten statistischen Beweise unterbreitet hatten, setzte sich dieser damit nicht auseinander, verwechselte sogar mehrere Studien, die ihm die Verteidiger mit ihren Anträgen übermittelt hatten, und kam irrtümlicherweise zu dem Schluß, daß weder die statistischen Daten über McGill noch über Rendells Behörde insgesamt auf die Zeit zuträfen, in der Abu-Jamals Prozeß stattgefunden hatte. Weil Yohn diese Beweise rundheraus zurückwies, befaßte er sich auch nicht mit weiteren Beweisen über die rassistisch motivierten Vorurteile bei der Geschworenenauswahl. Tatsächlich aber deckten die beiden Studien nicht nur exakt den Zeitraum um das Jahr 1982 ab, in dem Abu-Jamals Prozeß stattfand, sondern sein Verfahren war sogar nachweislich Teil der statistischen Erhebungen.
Sollten am Ende zwei der drei Berufungsrichter des 3. Bundesberufungsgerichts zu dem Schluß kommen, daß es sich bei McGills gezielter Anwendung »pauschaler Einsprüche« gegen schwarze Jurykandidaten tatsächlich um einen Versuch des rassistisch motivierten Ausschlusses von Geschworenen gehandelt hat, dann hätten sie keine andere Wahl, als Abu-Jamal einen neuen Prozeß zu gewähren. Als Alternative dazu könnte das 3. Bundesberufungsgericht den Fall nur an Bundesrichter Yohn zurückverweisen, verbunden mit der Anordnung, den Fall unter Einbeziehung aller entlastenden Beweise der Verteidigung einer erneuten rechtlichen Prüfung zu unterziehen. In Anbetracht dieser neuen Beweise hätte Abu-Jamal gute Chancen, einen neuen Prozeß vor einer neugewählten Jury zu bekommen. Im heutigen Philadelphia befänden sich dann aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens vier bis fünf afroamerikanische Geschworene in der Jury und nicht nur zwei wie 1982.
Es ist klar, daß die für Anfang 2007 anvisierte Anhörung vor dem 3. Bundesberufungsgericht, in der Staatsanwaltschaft und Verteidigung ihre Anträge mündlich erläutern können, einen dramatischen und möglicherweise auch explosiven Verlauf nehmen wird. Und weil jede Entscheidung dieses Berufungsgerichts zu einer neuen Runde von Berufungsanträgen führen kann und einige sogar zu neuen Anhörungen oder gar einem neuen Prozeß oder einer Neuverhandlung des Strafmaßes, ist auch klar, daß dieses nunmehr 25 Jahre andauernde Verfahren uns weiterhin in Atem halten wird. Genauso wie den Angeklagten, der die letzten 25 Jahre in der Isolationshaft der grausamen Todestrakte Pennsylvanias zubringen mußte.
Überraschendes Bekenntnis
In der Zwischenzeit sollten jene Kräfte, die unermüdlich auf Abu-Jamals Hinrichtung hinarbeiten – vor allem Daniel Faulkners Witwe Maureen sowie Philadelphias rechte Polizeibruderschaft Fraternal Order of Police und Gouverneur Ed Rendell –, eine erstaunliche Äußerung von Abu-Jamals Ex-Staatsanwalt Joseph McGill zur Kenntnis nehmen, die in einem Artikel des Philadelphia Inquirer vom 3. Dezember 2006 zitiert wurde. McGill, nunmehr pensioniert und als Rechtsanwalt tätig, hatte vor Jahren erklärt, der Prozeß gegen Abu-Jamal sei für ihn »der härteste Fall« gewesen, mit dem er je befaßt gewesen sei. Einem Reporter des Inquirer gegenüber erklärte er nun, Abu-Jamal »hätte wegen eines geringeren Deliktes verurteilt werden können«, wenn er eine »wirkliche Verteidigung« gehabt hätte.
Es ist bekannt, daß die Bezirksstaatsanwaltschaft von Philadelphia eine lange Geschichte vorzuweisen hat, die zumindest bis in die Zeit der beiden Amtsperioden des leitenden Staatsanwalts Ed Rendell zurückreicht, in der Angeklagte absichtlich mit überzogenen Anklagevorwürfen eingedeckt wurden, um sie mit der Hoffnung auf eine Verurteilung wegen geringerer Delikte zu einem Schuldbekenntnis und zum Eingehen auf einen Handel mit der Staatsanwaltschaft zu bewegen. Auch die Todesstrafe wurde gezielt eingesetzt, selbst wenn sie für das betreffende Delikt nicht angemessen war, um das Verfahren in den gesetzlichen Rahmen der Todesstrafe zu zwingen und so die Möglichkeit zu haben, Geschworene auszuschließen, die Gegner der Todesstrafe sind. Zahlreiche akademische Studien haben nachgewiesen, daß Geschworene, die für die Todesstrafe sind, eher regierungsfreundlich entscheiden und dazu neigen, Angeklagte zu verurteilen statt sie freizusprechen, als Geschworene, die die Todesstrafe aus philosophischen oder religiösen Motiven ablehnen. In der Rechtsprechung Pennsylvanias ist diese Taktik, die auch heute noch unter der leitenden Bezirksstaatsanwältin Lynne Abraham praktiziert wird, oft für unethisch erklärt worden. McGills Aussage unterstellt nun, daß diese Taktik auch in Abu-Jamals Verfahren zur Anwendung gekommen ist. Und es war ebenfalls McGill, der einräumte, Abu-Jamal habe niemals eine »wirkliche Verteidigung« gehabt.
Abu-Jamal hatte einen Pflichtverteidiger, den er anfangs für fähig hielt, der Anklage etwas entgegenzusetzen, aber dieser Anthony Jackson hatte in Wirklichkeit noch nie zuvor in einem Todesstrafenprozeß verteidigt. Außerdem hatte Jackson ein Drogenproblem und war deshalb mehrfach als Anwalt gesperrt worden. Als erkennbar wurde, daß Jackson Mist baute, wollte Abu-Jamal ihm das Mandat entziehen, aber Richter Sabo ließ das nicht zu, weil er die Zwietracht genoß, die er auf diese Weise zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger schürte. Mumia Abu-Jamal befand sich schließlich in einer Lage, wie sie schlimmer nicht sein konnte: einerseits ein inkompetenter Zwangsverteidiger, andererseits die Weigerung des Richters, ihm sein Recht zu gewähren, sich selbst zu verteidigen. In den USA ist das Recht auf ein faires Verfahren heilig. Wer ist daran interessiert, daß ein Angeklagter, der keine »wirkliche Verteidigung« hatte, verurteilt und hingerichtet wird?
In Verfahren wegen Kapitalverbrechen werden die Kandidaten von der Verteidigung, der Anklage und dem Richter befragt, und jedes potentielle Jurymitglied, das erklärte, daß er oder sie niemals für ein Todesurteil stimmen würde, würde automatisch »begründet« (»for cause«) ausgeschlossen, weil solche Geschworenen natürlich gegen jedes Todesurteil ihr Veto einlegen könnten.
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Jürgen Heiser
Siehe auch: jW-Dossier