In den deutschen Medien taucht die Protestbewegung im Süden und Osten der Ukraine nur als von Moskau gesteuertes Ärgernis auf, als Vorwand für den russischen Aggressor, weiter Druck auf die für ihre Unabhängigkeit kämpfende Ukraine zu machen und möglicherweise neue Annexionen vorzubereiten.
Wie die gesamte Propaganda in den Medien ist auch diese Darstellung so billig und tendenziös, dass es schon weh tut. Wieso sollte Putin nicht Agitatoren in die Ukraine schicken, wenn das Deutschland und die USA zuhauf tun? Wieso sollte nicht auch er russische Fahnen zur Verfügung stellen, wenn auf dem Maidan Europa-Flaggen verteilt werden?
Aber so wenig wie die Maidan-Bewegung schon damit erledigt ist, dass sich dort von den westlichen Imperialisten bezahlte Politiker, Boxer und NGOs tummeln, sowenig gilt das entsprechend für die Protestbewegung im Süden und Osten der Ukraine. Für KommunistInnen bleiben immer zwei Fragen wichtig; erstens, was die Leute umtreibt, was sie in Bewegung bringt und zweitens, wer die Bewegung führt und kontrolliert. Deshalb hat die Liga für die Fünfte Internationale Genossen in die Ukraine geschickt, um sich selbst ein Bild zu machen und um die GenossInnen der Organisation „Borotba“ solidarisch zu unterstützen. Hier ein erster Bericht.
Charkow
Charkow ist die zweitgrößte Stadt des Landes, eine Industriestadt mit dem Schwerpunkt Metallbearbeitung. Gesprochen wird mehrheitlich russisch, was aber nicht heißt, dass sich die Leute als Bürger Russlands ansehen.
Die Lage ist dort erst nach dem Sturz der Regierung in Kiew in Bewegung gekommen. Am 1. März besetzten Anhänger der neuen Regierung das Gebäude der regionalen Verwaltung im Zentrum von Charkow. Zehntausende BürgerInnen waren damit nicht einverstanden. Sie stürmten das Gebäude und warfen ihrerseits die Besetzer raus, darunter Faschisten vom „Rechten Sektor“.
Seitdem kam es an jedem Wochenende zu Demonstrationen und Kundgebungen, die allerdings seit dem 15. März verboten sind. Die Kiewer „Demokraten“ setzten nicht nur den örtlichen Gouverneur ab, sie verhafteten auch den Bürgermeister. Sie wurden des Separatismus beschuldigt, nachdem sie eine Konferenz für mehr Autonomie der östlichen Gebiete organisiert hatten. Der neue Gouverneur setzt jetzt auf die Kriminalisierung der Proteste.
Das hat allerdings die Befürchtungen in der Bevölkerung vor den Faschisten in Kiew nicht mindern können, im Gegenteil. Die Ablehnung der „Junta aus Oligarchen und Faschisten“, wie „Borotba“ diese Regierung beschreibt, hat viele Gründe. Die Preise sollen erhöht werden, die Löhne und Renten eingefroren; das Recht, die eigene Sprache zu benutzen, soll eingeschränkt werden, die Nazi-Partei „Swoboda“ sitzt in der Regierung und die Schlägertrupps des „Rechten Sektors“ haben ziemlich freie Hand. Alle diese Gründe sind real, wenn es auch völlig übertrieben wäre, diese Situation mit dem Einmarsch der Nazis gleichzusetzen. Die Regierung ist alles andere als sattelfest und die Faschisten haben Oberwasser, aber noch längst nicht gewonnen. Aber sie morden schon.
Faschistische Attacke
Neben den Demonstrationen und Kundgebungen sichert eine ständige Wache das Lenin-Denkmal, das direkt gegenüber dem regionalen Verwaltungsgebäude steht, dazwischen ein großer Platz, der auch in Charkow „Platz der Befreiung“ heißt. Schon am 8. März wurde diese Wache nach der Kundgebung von einem Trupp Nazis angegriffen, die mit einem dunkel verglasten VW-Bus mit auswärtigem Kennzeichen auf den Platz gefahren kamen. Baseballschläger und Schusswaffen wurden eingesetzt, aber der Spuk war schnell vorbei. Am Freitag, dem 14.3. dann dasselbe Bild. Diesmal verfolgen jugendliche Mitglieder der „Verteidigungskomitees“, die sich nach dem 1. März gebildet haben, die Angreifer zu ihrem Büro. Aus diesem heraus schießen die Nazis mit Pistolen und automatischen Gewehren. Zwei Jugendliche finden den Tod, etliche weitere, darunter Passanten und ein Polizist, werden verletzt.
Der neue Gouverneur muss endlich reagieren: die Mitglieder des „Rechten Sektors“ werden festgenommen und nach Kiew geschickt. Vermutlich droht ihnen aber keine Verurteilung, denn der neue Gouverneur stellt die Sache so dar, dass „national gesinnte Bürger von prorussischen Gewalttätern angegriffen worden seien“.
Kundgebungen
Am 15. März riefen „Borotba“ und die „Volkseinheit“, ein Bündnis von „Borotba“ mit etlichen der „Verteidigungskomitees für Charkow“ u.a. AktivistInnengruppen, zur Kundgebung auf. Einige Gruppen fordern ein Referendum und sammeln Unterschriften dafür. Ziel ist nicht die Abspaltung des Gebiets, sondern mehr Autonomie und das Recht, die Muttersprache benutzen zu können. Allerdings ist wohl unklar, wer dieses Referendum umsetzen soll.
„Borotba“ stellt den Kampf gegen die Oligarchen und den Kapitalismus ins Zentrum, ihre roten Fahnen dominieren die Versammlung optisch, ihre Zeitung FRONT wird von allen gelesen, Leute bieten sich an, beim Verteilen zu helfen. Es sind – bis auf einige Fähnchen aus Papier – keine russischen Fahnen zu sehen, eine ukrainische wird wieder eingerollt, gezeigt wird die mehrstreifige braun-gelbe Fahne des antifaschistischen Widerstandes. Allerdings gibt es Sprechchöre für „Rossija, Rossija“ (Russland).
Sollte Putin dafür Demonstranten in Bussen geschickt haben, hätte er sich das sparen können. Die Losung ist auch so populär. Die GenossInnen von „Borotba“ rufen nicht mit, können die Sprechchöre nicht unterbinden. Was steckt dahinter? Meine Gespräche ergeben ein Mischung aus SU-Nostalgie, bei Älteren oft verbunden mit dem Kampf gegen die Nazis, aus russisch-sprachiger Identität innerhalb der Ukraine, die sich auch in der Betonung des „Südens/Ostens“, also der russischsprachigen Teile des Landes ausdrückt, und drittens aus der Hoffnung, dass Russlands Schwergewicht die Kiewer Machthaber von zu dreisten Übergriffen abschreckt. Die VertreterInnen eines Anschlusses an Russland sind eine verschwindende Minderheit. Wer „Süden/Osten“ als Identität betont, redet von der Ukraine.
Wie chauvinistisch ist diese russophile Tendenz? Dieses Betonen von Süden/Osten, von „Charkiv unsere Stadt – unsere Festung“ (Plakat, in ukrainischer Sprache!), von „Charkow voran“ (vermutlich dem Fußball entlehnt)? Ich teste dies mit einem Aufruf der internationalen Solidarität. Der Beifall und Zuspruch ist phänomenal. Wäre die Arbeiterbewegung und die Linke europaweit in einem besseren Zustand und könnte mehr konkrete Hilfe für die Arbeiterklasse in der Ukraine bringen – die Hoffnungen der Massen auf Putin wären unnötig und vermutlich marginal.
Der Bürgermeister von Kiew, der verhaftet und wieder freigelassen worden war, will auch sprechen. Noch vor drei Tagen haben tausende seine Freilassung gefordert. Inzwischen hat er offenkundig einen Deal mit Kiew geschlossen. Eine angebliche kriminelle Affäre, die der neue Innenminister benutzte, um ihn unter Druck zu setzen, – so heißt es – wird nicht weiter verfolgt. Gerüchte hin oder her – jetzt erklärt er den DemonstrantInnen, sie sollten nach Hause gehen, das Demonstrieren habe keinen Zweck. „Schande, Schande“ schallt ihm dafür entgegen. Er muss das Podium auf dem Lieferwagen räumen und rauscht in seinem SUV davon.
Am Sonntag sind dann noch andere Kräfte auf der Kundgebung. Die Kommunistische Partei und eine Abspaltung dieser Partei, die „Arbeiterpartei“ – ihre Fahnen sind die gleichen. Beide beschränken sich auf Nostalgie: „Unsere Heimat heißt Sowjetunion!“ und alte Fahnen. Russische Fahnen sind etliche zu sehen, etwas abgesetzt auch eine zaristische. Zwei Mann verteilen panslawistische Propaganda. Die Ex-Regierungs-“Partei der Regionen“ ist nirgends zu sehen, andere bürgerliche Parteien auch nicht. Nur eine alte Frau hält tapfer ein handgemaltes Schild hoch: „Janukowitsch, rette uns! – eine Hoffnung etwa so realistisch wie die vieler Linker, die neue Regierung in Kiew stehe für Demokratisierung und Selbstbestimmung. Die GenossInnen von „Borotba“ haben es schwerer als am Tag zuvor. Es sind einige Tausend auf dem Platz, mehrere Lautsprecher kämpfen gegeneinander. Keine Partei hat die Führung.
„Borotba“
Die linke Gruppierung hat dennoch in den ersten zwei Märzwochen in Charkow Hervorragendes geleistet, in Odessa, wo sich ein Abgeordneter der KP ihnen angeschlossen hat, scheint es ähnlich gut zu laufen. Diese Organisation existiert erst wenige Jahre, ihre Mitglieder kommen aus dem Komsomol (KP-Jugend), aber auch aus anarchistischen u.a. Gruppen. Die Basis für ihre Vereinigung ist ein betonter Aktivismus, Solidarität mit Arbeiterkämpfen und Antifaschismus.
Die Maidan-Bewegung hat „Borotba“ von Anfang an abgelehnt und sie sofort und zu Recht als unter der Kontrolle der Oligarchen und der bürgerlichen Parteien stehend charakterisiert. Sie sah auch keine Möglichkeit, dort zu intervenieren. Sie warnte vor Faschismus und Bürgerkrieg, hatte aber keine Alternative auf der Ebene der Aktion.
Nachdem ihr Büro in Kiew zerstört worden war, zogen etliche Mitglieder von dort in Städte im Osten und Süden. In Charkow konnten sie sich auf die gute Vorarbeit der dortigen Ortsgruppe stützen. Schon in der zweiten März-Woche bildete sich ein Aktions-Bündnis um „Borotba“, das sich „Volkseinheit“ nennt und sich fast täglich abends im Büro trifft. Die Anzahl der Kontaktadressen ist kaum zu bewältigen, ständig tauchen neue AktivistInnen auf. Es ist eine neue Erfahrung für die Gruppe, dass „sich die Leute selbst mobilisieren“. Eine wichtige Erfahrung auch für eine Gruppe wie unsere, die sich v.a. auf die Erarbeitung und Verbreitung von Propaganda beschränken muss, wie in bestimmten Situationen der Schwerpunkt auf Organisierung und Aktion gelegt werden muss und auch kann, weil keine oder kaum andere politische Organisationen zur Auswahl stehen. Ein harter Test auch für jede Gruppe und Organisation, für ihre Einschätzung der Lage, für ihre politische Orientierung und ihre politische und organisatorische Geschlossenheit.
Perspektive
Ukraine 2014 ist kein Kinderfasching. Das Land ist ökonomisch am Boden und politisch zerrissen. Kann sich die neue Regierung halten? Droht ein Bürgerkrieg? Wie kann die Arbeiterklasse in die Entwicklung eingreifen – als Klasse und nicht nur als Individuen? Streik, Fabrikkomitees, Räte? Könnte sie nicht sogar die Macht übernehmen, wenn sie ihre Passivität überwindet?
Die Bourgeoisie ihrerseits ist gespalten und keineswegs stark, sonst würde sie sich nicht auf die Faschisten stützen müssen. Die spontane Gründung von „Verteidigungskomitees“ zeigt, dass Teile der Klasse ahnen, um was es geht. Sie tun in der Praxis das, was sich manche SozialistInnen in der BRD noch nicht mal trauen, in ihr Programm zu schreiben. Aber mit Verteidigungskomitees allein ist der Kampf noch nicht gewonnen, für den Sieg ist eine revolutionäre Partei nötig!