Bei revolutionären Bewegungen ist häufig ein Abstand zwischen den aufständischen Massen und den Parteien zu beobachten, die behaupten, in deren Namen zu sprechen. Aber der Graben ist selten so breit gewesen wie in Syrien, wo die beiden großen Bündnisse, die vorgeben, sie repräsentierten die Revolution, sich in einem Fall durch eine Unterordnung unter die westlichen Imperialismen und ihre Verbündeten am Golf auszeichnen, im anderen Fall durch ihre versöhnlerischen Positionen gegenüber dem Regime. Das steht im Gegensatz zu den Bestrebungen des syrischen Volks, das ebenso entschlossen ist, seine radikalen demokratischen Ziele durchzusetzen, wie seine nationale Unabhängigkeit zu verteidigen.
DER SYRISCHE NATIONALRAT
Im März diesen Jahres hat in Istanbul die zweite Versammlung der Gruppe der „Freunde Syriens” stattgefunden, an der Repräsentantinnen von 83 Ländern teilgenommen haben; diese Versammlung hat den Syrischen Nationalrat als „Repräsentanten aller Syrer” und „Hauptbestandteil” der syrischen Opposition anerkannt. Diese Erklärung ist zwar nicht so weit gegangen wie die Behauptungen des Nationalrats, der sich als „einzigen und legitimen Repräsentanten des Volks und der Republik” ausgibt, sie benennt dennoch die klare und offene Unterstützung der vertretenen Regierungen, vor allem der USA, Europas und Saudi-Arabiens, von Katar und der Türkei, seiner Paten, die ihm politische, finanzielle und Medienhilfe leisten.
Die Bildung des Syrischen Nationalrats, die am 2. Oktober 2011 in Istanbul bekannt gegeben wurde, hat ein gewisses Echo innerhalb der syrischen Opposition gefunden, der es an einem politischen Ausdruck gefehlt hatte. Aber der Nationalrat hat aufgrund seiner nicht-demokratischen Organisation, der Zögerlichkeit in seinen Erklärungen, seiner opportunistischen Positionen in Bezug auf die Respektierung des Willens des syrischen Volks, seiner erklärten Feindseligkeit gegenüber der Achse Iran–Hesbollah zugunsten von Saudi-Arabien, Katar und der Türkei, seiner Zurückhaltung in der Frage des Golans (er hat zu „seiner Rückgabe mittels Verhandlungen aufgrund der internationalen Legitimität” aufgerufen), konfusen Positionen einer ganzen Reihe von führenden Mitgliedern – wie etwa den lobenden Erklärungen seines Sprechers Bassma Kodmani gegenüber Israel – seinen Kredit bei den Massen rasch verspielt.
Die Illusionen des Syrischen Nationalrats in Bezug auf eine unmittelbar anstehende ausländische Intervention und seine organische Unterwerfung unter die politische Agenda der Paten-Staaten, zu dem politische Meinungsverschiedenheiten und Finanzskandale hinzukommen, haben am Ende den Rest von Glaubwürdigkeit in den Au-gen der Demonstrierenden beseitigt. Seine Verbindungen in das Landesinnere beschränken sich auf eine begrenzte Zahl von Gruppierungen, im Wesentlichen die Freie Syrische Armee.
In einem Bericht von zwei europäischen Forschungszentren, der im Januar diesen Jahres erschienen ist, heißt es: „Der Syrische Nationalrat, der in Syrien wenig Gewicht und wenige Wurzeln, wenige aktive Anhänger, keinerlei internen Rückhalt hat, wird von Katar, Saudi-Arabien und den westlichen Staaten und ihren Medien unterstützt und finanziert. Hauptziel dieser Unterstützung ist es, eine eventuelle Intervention in Syrien zu legitimieren, die der Syrische Nationalrat herbeisehnt.”
Das Gründungskommunique des Syrischen Nationalrats ließ bereits einen Widerspruch zwischen zwei Grundsätzen zutage treten, nämlich der Ablehnung „jeglicher militärischen Intervention, durch die die nationale Souveränität angetastet wird”, und der Forderung nach „internationalem Schutz der Zivilisten” in Form von humanitären Korridoren oder Sicherheits- und Pufferzonen. In sämtlichen Kommuniques wird zu ausländischen militärischen Interventionen aufgerufen, so in der an den Sicherheitsrat gerichteten Aufforderung von Mitte April zu „einer Intervention nach Artikel 7” und in dem Kommunique vom 21. April, in dem eine „entscheidende militärische Intervention” verlangt wird.
Der Syrische Nationalrat hat vor kurzem eine ernsthafte Krise durch-gemacht, als es nicht gelang, nach dem Rücktritt von Boran Ghalioun einen Präsidenten zu benennen, und als aus diesem Anlass die Kulissenkämpfe zwischen den Islamisten mit der Organisation der Moslembrüder an der Spitze und denen, die sich zu den laizistischen Kräften rechnen oder ihnen nahe stehen, zu Tage getreten sind. Hinzu kommt, dass in den letzten Monaten eine ganze Reihe von Mitgliedern aus unterschiedlichen Gründen aus dem Rat ausgeschieden ist.
Die Lokalen Koordinationskomitees haben ebenfalls gedroht, sich zurückzuziehen oder zumindest ihre Zugehörigkeit auf Eis zu legen, sofern es keine Korrektur der begangenen Fehler und eine Befassung mit ihren wesentlichen Forderungen nach Reform des Rats gibt. Sie waren der Auffassung, dass er sich nach der Versammlung in Rom, auf der es zu einer extremen Verschärfung der Meinungsverschiedenheiten gekommen war, in permanentem Niedergang befand. Es fehle „ein Konsens zwischen dem Rat und der revolutionären Bewegung über ein gemeinsames Projekt”; offenbar haben die Repräsentantinnen der Lokalen Koordinationskomitees wie Khalil Elhadsch Salah, Husan Ibrahim und Rima Filihane in den vergangenen Monaten als Zeichen ihres Protests gegen die Marginalisierung der revolutionären Bewegung die Sitzungen des Nationalrats boykottiert. Der Syrische Nationalrat reduziert sich immer mehr auf ein Büro für „Public Relations” und Finanzen, eine Geisel der Paten der genannten Staaten.
DAS KOORDINATIONSKOMITEE FÜR DEMOKRATISCHEN WANDEL
Die andere bekannte politische Kraft der Opposition, das Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel, ist am 26. Juni 2011 entstanden und fasst die Kräfte der traditionellen Opposition, Reste der linken und nationalistischen Parteien (Nationale Demokratische Sammlung, Sammlung der Marxistischen Linken) und einige islamistische und liberale Persönlichkeiten zusammen. Bereits in den ersten Monaten ist das Komitee mit Ausnahme von einigen jungen Kadern der (nasseristischen) Partei der Sozialistischen Union in seinen Beziehungen zur Revolution gestrauchelt. Auch Mitglieder anderer Parteien nehmen in ihrem eigenen Namen an dem Komitee teil. Es handelt sich um traditionelle Politiker, die beileibe nicht verstehen, was vor sich geht, nämlich eine Revolution, und die unfähig sind, den Puls der revolutionären Bewegung zu fühlen, an die sie sich mit Verachtung und von oben herab wenden.
Das Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel zeichnet sich durch seine inkonsequenten Positionen aus, denn während es zur Beseitigung des „Sicherheits- und autoritären Regimes” und zur „Veränderung des Regimes” aufruft, erklärt es sich offen zum Dialog mit dem Regime. Seine führenden Mitglieder, die behaupten, sie repräsentierten den „schweigenden Block”, haben sich zu Erklärungen hinreißen lassen, durch die die Aufstandsbewegung und die Revolutionärinnen beleidigt wurden. Das Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel hat eine Reihe von Positionen bezogen, die im Wesentlichen auf diplomatisches Handeln in Richtung der mit dem Regime verbündeten Staaten setzen — Russland, China und Iran. Es hat auf eine arabische Initiative und lange auf die von Kofi Annan gesetzt.
Viele Mitglieder sind unter Protest gegen die Monopolisierung der Leitung durch eine kleine Gruppe aus-geschieden. Es sind politische Kräfte, die von dem Regime weiterhin als eine „nationale Opposition” betrachtet werden und die zum Dialog mit diesem aufrufen. Wenn das Koordinationskomitee nicht für eine relative „Sicherheit” von vielen politisch Aktiven in Syrien sorgte, wäre eine noch bedeutendere Anzahl ausgetreten.
Eine weitere in Syrien präsente Struktur ist die Strömung zum Aufbau des Syrischen Staats von Louay Hossein, die erklärt, ihr gehe es nicht um die Machtfrage, sondern um einen politischen Dialog mit dem Regime zu festgelegten Bedingungen, nahe an den Thesen des Koordinationskomitees für Demokratischen Wandel.
Schließlich versteht sich noch die Front für Veränderung und Befreiung als oppositionell. Es setzt sich aus der Partei Volkswillen (einer neuen Bezeichnung der Partei von Kadri Jamil), der Einheit der Kommunisten (einer Abspaltung von der Syrischen Kommunistischen Partei) und einer der Fraktionen der Syrischen Nationalen Sozialen Partei unter Führung von Ali Haider zusammen, wobei die beiden zuletzt genannten den Macht-habenden nahe stehen. Aufgrund der Positionen ihrer Führungen zur Revolution sind viele Kader dieser Parteien aus ihnen ausgetreten, vor allem Jüngere, um sich der revolutionären Bewegung anzuschließen.
Seit Februar versuchen Aktive, die aus ihren Erfahrungen im Koordinationskomitee oder anderen Strukturen Schlussfolgerungen ziehen oder die dort keinen Platz gefunden hatten, ei-ne Organisation zu schaffen: das Syrische Demokratische Forum. Es hat vom 13. bis 16. April in Kairo sei-ne erste Versammlung abgehalten. Es versteht sich als Raum für Diskussion und Dialog, als eine Brücke zur Vereinigung der Opposition für Aktivitäten zur „Versöhnung” und zur „Reflexion”. Von dieser Versammlung ist nichts ausgegangen, was das Forum von den anderen Kräften der Opposition abheben würde, und seine Initiatorinnen sind vom selben Schlag wie die Führungen des Koordinationskomitees oder des Nationalrats.
AUSDRUCKSFORMEN DER REVOLUTIONÄREN BEWEGUNG
Die syrische Revolution ist am 15.März 2011 spontan ausgebrochen. Der Brand hat sich auf das gesamte Land ausgeweitet, die jungen Revolutionärinnen sahen sich gezwungen, Organisationsformen für die Protestbewegungen und zur Bewältigung der Probleme der Information und der Aktivitäten zu schaffen. Sie haben auf der Ebene von Stadtteilen, Städten und Regionen „Koordinationen” eingerichtet. Diese Koordinationen haben Agitation, Information und Hilfeleistungen übernommen, doch wenige nehmen sich all dieser Aufgaben zugleich an.
Das Fehlen von organisierten politischen Kräften vor Ort hat zum eruptiven Entstehen dieser Koordinationen geführt, so dass es schwierig bzw. unmöglich ist, deren Zahl, ihren Umfang und die jeweilige Rolle zuverlässig einzuschätzen. Es lässt sich jedoch sagen, dass es territoriale Koordinationen, deren Zahl nicht veröffentlicht worden ist, und andere gibt, deren Aktivitäten sich um Information und Medien drehen und die bekannt sind. In den letzten Monaten haben sich wegen der Verschlechterung der humanitären Situation Komitees oder Koordinationen für humanitäre Hilfe gebildet.
Einige Monate nach Beginn der Revolution gab es Versuche zur Zusammenfassung der Koordinationen, Anfang Juni 2011 wurde die Bildung der „Union der Koordinationen der syrischen Revolution” mit einem Kornmunique bekannt gegeben. Sie hat vor, die zivile Bewegung politisch und in den Medien zu repräsentieren, und die Aktivitäten in den Bereichen zu koordinieren und zu vereinigen. Sie hat zum Ziel, die Basis für einen Rat der Jugend und der Aktivistinnen der Revolution zu bilden, um deren Ziele und deren vollständige Verwirklichung zu sorgen. Das Komitee der Union umfasst örtliche Koordinationen aus allen Regionen, Städten und Stadtteilen. Sein Diskurs zeichnet sich durch eine islamische Färbung ab, ohne dass dies seine politische Zugehörigkeit zu den Moslembrüdern oder den salafistischen Strömungen bedeuten würde.
Weiter haben sich die Lokalen Koordinationskomitees gebildet. In ihrem Kommunique vom 29. August 2011 lehnen sie die Militarisierung der Revolution ab und gehen auf die
Gefahren ein, die sie für den revolutionären Kampf der Massen bedeuten würde. Diese Komitees sind dem Syrischen Koordinationsrat beige-treten und gehören zu dessen Gründungsmitgliedern. Sie haben hierzu in einem Kommunique vom 20. September 2011 präzisiert, dass sie das „trotz der Bemerkungen über die Aktivität des Rats, die Art und Weise seiner Bildung und der Repräsentation der Kräfte in ihm” täten.
Die Lokalen Koordinationskomitees zeichnen sich auch durch ihre Einschätzung der internationalen Intervention und von internationalem Schutz aus. In ihrem Kommunique vom 2. November 2011 erklären sie: „Wir treten unter diesen ganz besonderen Bedingungen für das Recht des syrischen Volks ein, sein Recht auf Entscheidung über sein Geschick gegenüber der internationalen Gemeinschaft zu behaupten. Wir sind der Auffassung, dass die Aufrufe, die auf der Grundlage des ,Rechts auf Einmischung`, der ,Pflicht zur Einmischung‘, der ,humanitären Einmischung‘ oder auch der ,Verantwortung für den Schutz` stattfinden, den Bestrebungen des syrischen Volks nach einer friedlichen Veränderung aus seinen eigenen Kräften nicht zuwiderlaufen und das syrische Volk nicht fremden Einflüssen im Spiel der Nationen ausliefern dürfen. (…) Das syrische Volk will die Unterdrückung nicht durch Unterordnung unter einen ausländischen Einfluss ersetzt haben. Das syrische Volk hat seine Unabhängigkeit erkämpft und seinen modernen Staat gegründet. Es hat die Ambition, sein gesamtes Territorium zu befreien, in erster Linie den Golan, und seine Unterstützung für den Kampf der Völker für die Bestimmung über ihr Geschick, in erster Linie für die Rechte des palästinensischen Volks, fortzusetzen. Das syrische Volk, das sich gegen seine Unterdrücker erhebt, wird die Revolution nicht für die Formen ausländischer Beherrschung aufgeben.”
Trotz der Besonderheiten der Position der Lokalen Koordinationskomitees betrachten sie den Syrischen Nationalrat noch als ein politisches Vehikel, das ihre Positionen zum Ausdruck bringt, obwohl sie gelegentlich dazu völlig im Widerspruch stehen. Ihre Aktivitäten bestehen im Wesentlichen in Medienarbeit, abgesehen von bestimmten Koordinationen vor Ort.
Am 18. August 2011 ist bei einem Treffen in Istanbul die Generalkommission der Syrischen Revolution entstanden, in einem Klima zahlreicher Kongresse der Opposition im Ausland. Sie umfasst ihrer Gründungsmitteilung zufolge 40 Koordinationen, die Facebook-Seiten der syrischen Revolution und Mediennetze. Ein Diskurs mit islamischen Begrifflichkeiten dominiert in den letzten Monaten den Ton ihrer Kommuniques und ihrer Medienaktivitäten.
Auf der Ebene der Aktion sind diese Koordinationen nicht die wichtigsten. Es gibt zahlreiche territoriale Koordinationen in den Städten, während Komitees in Ortschaften und Dörfern sich Koordinationen nennen. Darin befinden sich Aktivistinnen unterschiedlicher politischer Zugehörigkeit oder ohne festgelegte politische Linie. Ihr wesentliches Ziel ist der gemeinsame Kampf zur Beseitigung des Regimes, doch bleiben ihr örtlicher Charakter und ihre Zersplitterung ei-ne der Schwächen der revolutionären Bewegung.
Erwähnt seien noch das Nationale Treffen der Kräfte und der Koordinationen der Revolution, das im Wesentlichen eine bedeutende Anzahl von Aktivistinnen in drei Regionen (Hama, Deraa und Dir Ezzor) umfasst; die Freien der Revolution der Würde, eine Zusammenfassung von Koordinationen, die in Damaskus und seinen Vororten aktiv sind; die Sammlung NABDH für die zivile Jugend, die in Homs und auf dem Land in dieser Region sowie in Damaskus und seinen Vororten aktiv ist. Ferner gibt es die am 13. Februar 2012 gebildete Koalition Watan, die zahlreiche aktive Komitees umfasst, der es jedoch noch nicht gelungen ist, ihrer Stimme Geltung zu verschaffen. Sie ist dem Druck von zahlreichen Seiten ausgesetzt: wie zu erwarten der Sicherheitsapparate, aber auch des Koordinationskomitees für Demokratischen Wandel, des Syrischen Nationalrats, des Demokratischen Forums, jeweils mit eigenen politischen Zielen.
Die Koalition Watan, die jetzt 17 Gruppierungen umfasst, könnte zum Ausgangspunkt für den Aufbau einer alternativen revolutionären Massenführung werden, zumal sich in ihren Reihen mehrere linke Gruppen befinden. Es sollte darauf hingearbeitet werden , diejenigen die sich noch außerhalb befinden, zu integrieren, beispielweise die Koordinationen der syrischen Kommunisten, zu der außerordentlich enthusiastische Jugendliche gehören, und die Gruppe Linke Perspektiven.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Wüten des diktatorischen Regimes, die zunehmende Zahl der Deserteure parallel zu der Tendenz zur Militarisierung und Bewaffnung als Mittel zur Selbstverteidigung zahlreiche Koordinationen zu einer Vermengung ihrer auf den nicht-bewaffneten Massenkampf orientierten Mehrheit und Minderheitsgruppen, die bewaffneten Aktionen zuneigen, veranlasst.
Ein notorisches Problem innerhalb der revolutionären Bewegung ist das des Syrischen Nationalrats, insbesondere seines hegemonialen Bestandteils, der Moslembrüder. Sie erlangen — wenn auch begrenzt — bei den Aktiven Sympathie, weil sie ihnen Hilfe, Schutz, finanzielle Unterstützung bieten, da ihnen das finanzielle Manna zugutekommt, das aus ihren Patenländern stammt. Aber weder der Syrische Nationalrat noch die Moslembrüder können machen, was sie wollen, denn wenige Aktive akzeptieren an Bedingungen geknüpfte Hilfeleistungen: Die Revolutionärinnen haben sich von dem Hinterherlaufen freigemacht, sie betrachten Hilfe als eine Pflicht, nicht als ein Gunsterweisen.
DIE LAGE IN DEN KURDISCHEN GEBIETEN
Während die Revolte des kurdischen Volkes im März 2004 die kurdische Frage ins Zentrum der Kämpfe in Syrien gerückt hatte, hat die Mehrzahl der syrischen Oppositionskräfte deren Bedeutung erst spät verstanden. Die Position der Mehrzahl dieser Kräfte war in der Tat schändlich und hat Spuren hinterlassen. Die kurdischen Kräfte haben sich isoliert und alleingelassen gefühlt. Ihr Misstrauen ist legitim, insofern die Positionen gegenüber den Kurden weiterhin verworren und widersprüchlich sind.
Das hat mehrere kurdische Parteien dazu veranlasst, sich im Oktober 2011 aus dem Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel zurückzuziehen, um den Kurdischen Nationalrat zu bilden. Ebenso sind die hauptsächlichen kurdischen Bestandteile nach der Versammlung des Syrischen Nationalrats vom 26. und 27. März 2012 in Istanbul, die unter dem Motto „Vereinigung der syrischen Opposition” stattfand, ausgetreten. Nach der Veröffentlichung des „nationalen Dokuments zur kurdischen Frage” durch den Syrischen Nationalrat ist die Mehrheit der Kräfte des kurdischen nationalen Blocks in ihn zurückgekehrt.
Im Kurdischen Nationalrat ist jetzt die Mehrheit der kurdischen politischen Kräfte und Koordinationen zusammengefasst, mit Ausnahme der Partei der Demokratischen Union (PYD), des syrischen Zweigs der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unter Leitung des in der Türkei gefangenen Abdullah Ocalan. Die PYD gehört dem Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel an. Dem Kurdischen Nationalrat gehört auch die Unabhängige Kurdische Strömung an, die 2005 von Michel Tempo gegründet wurde, einer bedeutenden Persönlichkeit, die am 7. Oktober 2011 ermordet worden ist. Diese Partei vertritt entschiedene Positionen zu dem diktatorischen Regime und ist zu dessen Sturz entschlossen.
Die kurdische Jugend hat von Anfang an mit großer Begeisterung an den Protesten teilgenommen, und sie tut das weiter. Wie in den anderen Regionen Syriens hat sie ihre Koordinationen gebildet, die vor Ort aktiv sind. In der Mehrzahl haben sie sich dem Kurdischen Nationalrat angeschlossen.
Mit Ausnahme der Region Afarin, wo die PYD eine hegemoniale Stellung hat und in der es relativ ruhig ist, sind die kurdischen Regionen in Aufruhr. Sie befinden sich auf einer Linie mit der allgemeinen Dynamik, während es zugleich eine nationale Besonderheit gibt. So haben die Demonstrationen im März diesen Jahres unter dem Motto „kurdische Rechte” stattgefunden, um die ablehnende Haltung des kurdischen Volks gegenüber den Positionen des syrischen Nationalrats und der übrigen arabischen Opposition zur kurdischen Frage deutlich werden zu lassen.
Die kurdischen Kräfte insgesamt fordern das Recht des kurdischen Volks, selbst über ihr Schicksal in einem „nicht zentralisierten Staat” zu bestimmen, die verfassungsmäßige Anerkennung der nationalen Rechte des kurdischen Volks (der zweitgrößten Nationalität des Landes), die Ablehnung der Ungerechtigkeiten und die Abschaffung aller Gesetze und Maßnahmen, die ihre Rechte beschneiden. Ein Aufruf zur Sezession ist nicht zu vernehmen.
Die PYD hat seitens des Regimes eine besondere Behandlung erfahren: Sie sollte „Kröten schlucken”. Der Grund dafür ist ihre Feindseligkeitgegenüber der türkischen Regierung, die für die syrischen Machthaber eine Bedrohung darstellt. Die PYD baut in den Regionen, in denen sie präsent oder einflussreich ist, eine „demokratische Selbstverwaltung” auf. Die Kräfte des Kurdischen Nationalrats haben ebenfalls „lokale Räte” geschaffen.
Die PYD zeichnet sich durch die Disziplin ihrer Mitglieder und die Härte gegenüber Abtrünnigen und Konkurrenten sowie dadurch aus, dass die Mutterpartei in der Türkei über bewaffnete Kräfte verfügt, die eine Verlängerung nach Syrien haben. Die Furcht vor einer Eskalation der Kämpfe mit den Kräften des Kurdischen Nationalrats hat dazu geführt, dass am 3. März 2012 ein Dokument der „gegenseitigen Verständigung” angenommen worden ist, dessen Ziel es ist, innerkurdische Bruderkämpfe zu vermeiden.
Eine Strategie für Syrien kann einer klaren Antwort auf die kurdische nationale Frage nicht ausweichen, einer Antwort, die dazu geeignet ist, Vertrauen zwischen dem kurdischen Volk sowie seinen politischen Kräften (die unter denselben Problemen wie die arabische Opposition zu leiden haben, wobei sie sich von ihnen dadurch unterscheiden, dass sie in der Mehrheit nicht-religiös sind) und den Kräften der Revolution sowie den arabischen aufständischen Massen zu schaffen, um die Kämpfe zum Sturz des Regimes und zum Aufbau eines freien, demokratischen und laizistischen Syrien zu vereinigen, dessen Bürgerinnen alle gleich wären, unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder sexuellen Orientierung.
Marginalisierte und verarmte kurdische Regionen werden sich nur dann in gemeinsame politische und soziale Kämpfe begeben, wenn die arabischen Kräfte eine klare revolutionäre Position zur kurdischen nationalen Frage beziehen. Wir werden die Abtrennung des kurdischen Volkes in Syrien nicht ermutigen, denn wir sind der Auffassung, dass dies unter den gegenwärtigen Bedingungen für den gemeinsamen Kampf der Volksschichten gegen ihre Bourgeoisien schädlich wäre, sämtliche Nationalitäten zusammengenommen. Dies würde den Kampf gegen die Diktatur und unseren gemeinsamen Kampf für soziale Gerechtigkeit schwächen und das Land in einen katastrophalen Bürgerkrieg stürzen. Dies würde die kurdischen Volksmassen nationalen Führungen unterordnen, die den arabischen Führungen in nichts nachstehen.
Unsere prinzipielle Position geht aus von dem gemeinsamen kurdisch-arabischen Interesse im Kampf gegen das despotische Regime, der Anerkennung der nationalen Unterdrückung seitens aller arabischen Regierungen in Syrien, unter der das kurdische Volk leidet, dem Ende dieser Ungerechtigkeiten und der völligen Gleichheit aller syrischen Bürgerinnen gleich welcher nationalen, ethnischen, religiösen Zugehörig oder sexuellen Orientierung, der verfassungsmäßigen Anerkennung der nationalen Rechte des kurdischen Volks in Syrien — also von dem Recht auf Selbstbestimmung und auf Sezession, auch wenn wir unsere kurdische Bevölkerung darum bitten, integrierter Bestandteil der Bevölkerung Syriens zu bleiben.
Nur wenn wir von dieser Position ausgehen, werden wir den gemeinsamen Kampf aller nationalen Teile der syrischen Massen zum Sturz des unterdrückerischen Regimes stärken und Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit verwirklichen können.
EINE REVOLUTIONÄRE MASSENFÜHRUNG AUFBAUEN
Die Stärke einer revolutionären Bewegung liegt, ganz allgemein gesprochen, in den arbeitenden und verarmten Klassen sowie in der Jugend. Der einzige gesellschaftliche Bereich, der sich bis jetzt massiv erhoben hat, sind die Studierenden, die in der Mehrheit von Arbeitern oder der Mittelschicht abstammen und die unter diesen Bedingungen die „Intellektuellen” dieser Klassen repräsentieren. Bislang ist die Arbeiterklasse als solche nicht in Erscheinung getreten. Eine Ausnahme ist der Protest der Mittel- und unteren Klassen in den Gewerkschaften, die von den Apparaten der Staatsmacht beherrscht werden, für die Autonomie der Gewerkschaften im Verhältnis zum Staat, die Anhebung der Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und gegen Entlassungen. (Im vergangenen Jahr wurden über 100 000 Beschäftigte entlassen, die Behörden haben über 180 Werke geschlossen.) Trotz der Verbindungen zwischen Staatsmacht und Bürokratie ist die Generalunion der Arbeitenden seit 2006 von dem Aufbegehren betroffen, und mit der in Gang befindlichen Revolution nimmt diese Tendenz zu.
Keine politische Kraft der Opposition kümmert sich um Aktivitäten in der syrischen Arbeiterklasse, deren Zahl nahe bei zwei Millionen liegt. Es schlägt auch keine ein Programm vor, das deren Interessen und Forderungen aufgreifen würde, ruft zu ihrer Unabhängigkeit vom Staat oder zum Aufbau von autonomen Gewerkschaften auf. Nicht zu vergessen sind die Marginalisierung und die Beschlagnahme von Ländereien, von der die Arbeitenden in den ländlichen Gegenden in den letzten Jahren betroffen gewesen sind, sowie die Notwendigkeit eines neuen Entwicklungsprogramms, mit dem die Kleinbauern ihre Rechte und die direkte Verwaltung ihrer Angelegenheiten mit Staatlicher Hilfe erhalten.
Die syrische Gesellschaft ist plurinational und multikonfessionell. Es wird unmöglich sein, breite Sektoren, vor allem die Mittelschichten, die in den beiden Großstädten Damaskus und Aleppo leben, zu überzeugen, ohne dass ein Programm aufgestellt wird, in dem die Rechte der nationalen Minderheiten und die Laizität des Staats anerkannt werden. Diese Laizität, die auf den Ruinen des gegenwärtigen Regimes errichtet wird, bedeutet keineswegs Feindseligkeit gegenüber den Religionen, jedoch Trennung von Religion und Staat so-wie die Anerkennung der Rechte der Frauen, ihre Gleichheit mit den Männern, die Gleichheit aller Bürgerinnen in Bezug auf Rechte und Pflichten, unabhängig von ethnischer, nationaler, religiöser Zugehörigkeit oder sexueller Orientierung.
Das aufständische syrische Volk wird sorgsam über seine Unabhängigkeit wachen, es wird alle Versuche ablehnen, sie zu beschneiden, sei es seitens der bestehenden Macht oder der ausländischen Mächte. Ihm liegt daran, dass es die geraubten Ländereien zurückerhält, wie auch an dem Kampf des palästinensischen Volks für all seine historischen Rechte.
Während des Spanischen Bürgerkriegs der 1930er Jahre vertrat Trotzki die Auffassung: „Die dringende Aufgabe der spanischen Kommunisten ist nicht (nur) der Kampf für die Eroberung der Macht, sondern auch der Kampf um die Massen.” In Syrien müssen die linken (und radikalen laizistischen, demokratischen) Kräfte heute eine revolutionäre Allianz bilden, um die Massen auf der Grundlage ihres Programms zu gewinnen, über das direkte Engagement in der revolutionären Bewegung und Hilfe für die revolutionären Massen bei dem Aufbau ihrer Selbstorganisations- und Selbstverwaltungskomitees in den Stadtteilen, Betrieben und Städten und bei dem Eintreten für ihre wirtschaftlichen und sozialen Forderungen, im gegenwärtigen gewaltsamen Kampf für den Sturz des Regimes.
Sie sollten die Übergangslosung einer provisorischen revolutionären Regierung aufstellen, die nach dem Sturz des Regimes im Rahme des demokratischen, revolutionären Übergangsprogramms, um das sich die breitesten Schichten der aufständischen Massen sammeln werden, zwei Aufgaben hat: den Sicherheitsstaat zu zerstören und die freie Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, die auf einer nicht-konfessionellen Proportionalität beruht.
Die Herausbildung solch einer revolutionären Massenführung ist eine wesentliche Frage für die Zukunft des revolutionären Prozesses. Sie ist die Garantie für den Sturz des Regimes und die tieferen politischen und sozialen Änderungen über einen permanenten revolutionären Prozess. Sie wird die Rückständigkeit des Massenbewusstseins beenden, mit der manche ihr Aufgeben eines solchen Programms rechtfertigen. Denn wie Trotzki geschrieben hat: „Wir solidarisieren uns nicht einen Augenblick lang mit den Illusionen der Massen, aber mit dem Fortschrittlichen, das sich hinter diesen Illusionen verbirgt, wir müssen das bis ans Ende nutzen, ansonsten wären wir keine Revolutionäre, sondern elendige Pedanten.”
Die Abwartenden und Jammerer sollten also aufhören, sich zu beschweren und Vorwände für ihr Desinteresse zu suchen, sie sollten den Platz räumen für den Kampf und Aktivitäten mit dem Ziel der Herausbildung dieser alternativen, revolutionären Massenführung.
1. Juni 2012
Dieser Artikel erschien zuerst auf Arabisch im Juni 2012 in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift Permanente Revolution. Er wurde von Luiza Toscane ins Französische übersetzt. Die gekürzte Fassung, die der vorliegenden Übersetzung ins Deutsche zugrunde liegt, erschien in Tout est ä nous! La revue, Nr. 35, September 2012.
Übersetzung: Friedrich Dorn
INPREKORR 6/2012 13