Gilbert Achcar, Die Araber und der Holocuaust (von H.Dworczak)

Das Buch besticht durch seine empirische Breite, analytische Tiefe und die Ausgewogenheit seiner Urteile. Ein echtes Standard-Werk auf diesem Gebiet.

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Das in der Geschichte einmalige Phänomen des Holocaust- die industriell geplante Vernichtung von 6 Millionen Juden und JüdInnen- findet in der arabischen Welt eine unterschiedliche Rezeption. Der Holocaust wird oft nicht nur als solcher beurteilt, sondern ebenso im Kontext der eigenen-tragischen- Geschichte. Bestimmend für die Wahrnehmung sind auch die Errichtung des „Judenstaats“ ( Theodor Herzl), also die zionistische koloniale Besiedlung Palästinas, und die „Nakba“- die massenhafte Vertreibung im Gefolge der israelischen Staatsgründung.

Gilbert Achcar unterzieht sich der Mühe, das Problem in seiner Gesamtheit zu behandeln. Er fängt daher richtiger Weise mit der Genesis der Problematik, also mit dem ausgehenden 19.Jahrhundert an.

Er beleuchtet die unterschiedlichen ideologischen und politischen Strömungen in ihrer Haltung zum Antisemitismus: Westlich orientierte Liberale, Nationalisten, Marxisten bzw. reaktionäre und/oder fundamentalistische Panislamisten.

Bereits hier wird die Komplexität der zur Debatte stehenden Fragen sichtbar- von einem oft unterstellten „generellen Antisemitismus der Araber“ kann jedenfalls keine Rede sein.

Während sich Liberale, Nationalisten und Marxisten vom Antisemitismus distanzieren, findet sich dieser sehr wohl bei reaktionären Panislamisten.

In den 30er-Jahren und während des 2.Weltkriegs werden von diesen Kräften
„taktische Bündnisse“ mit den Mittelmächten ins Auge gefaßt. Es kommt zu offener Verherrlichung des Faschismus und Kollaboration mit Hitler und Mussolini. Ein besonders krasses Fall ist der des Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini. Nach der Niederchlagung des Aufstandes in Palästina geht er nach Berlin (sic!)ins Exil.

Die Nationalisten der 50er Jahre -insbesonders Nasser- hatten eine ablehnende Position gegenüber dem Antisemitismus und verurteilten den Holocaust. Einmal jedoch berief sich Nasser in einem Interview 1958 positiv auf die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ (S.195 ff).

Die Haltung der Palästinenser machte eine große Entwicklung durch. Von Ahmed Shuqayris entsetzlichen Sagern die „Juden ins Meer zu werfen“ (S.189f) bis hin zu den differenzierten Positionen der FDPLP (S.217).

Gilbert zeigt auch die Schwierigkeiten vieler palästinensischer Ansätze die Juden national und nicht über die Religion zu definieren.

Besonders unterstreicht der Autor die reaktionäre Rolle der saudischen, antisemitischen Monarchie, die jedoch breitest mit Israel und den USA kooperiert (S.269f).

Ein wichtiger Baustein im Verhältnis zwischen Palästinensern/Arabern und Juden ist zweifelsohne die „wechselseitige Anerkennung der Shoah und der Nakba“(S.279).

Was die Zukunft dieses Verhältnisses betrifft, scheinen mir die Ausführungen von Achcar zu optimistisch zu sein. So wichtig es ist, wenn „postzionistische“ Intellektuelle wie etwa der Historiker Tom Segev die offiziellen Mythen -fundiert- in Frage stellen und selbst ehemals führende israelische Politiker- wie Avraham Burg- den „schleichenden Rassismus“ in der israelischen Gesellschaft kritisieren (S 274f.)- eine wirkliche Wende wird es m.E. nach erst dann geben, wenn Massenbewegungen wie etwa die gegen die Sozialkürzungen durch die israelischen Regierungen auch die Frage der Palästinenser problematisieren und praktische Brückenschläge zu ihnen unternehmen. Ähnliches gilt vice versa für Bewegungen von unten in Palästina bzw. im gesamten arabischen Raum.

Nicht unerwähnt soll die hervorragende Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche durch Birgit Althaler und Sophia Deeg sein.

Hermann Dworczak (0676/ 972 31 10 )

Gilbert Achcar Die Araber und der Holocaust.
Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen.
Edition Nautilus. Hamburg 2012. 364 Seiten. 30,80 Euro