Günther Jacob: Arischer Volkszorn

Günther Jacob
Arischer Volkszorn

Die Wiener können jetzt nachlesen, welcher Volksgenosse wo zugegriffen hat, wenn sein jüdischer Nachbar verschwand
Alle lobten später die »sachliche Atmosphäre« der Gespräche. Das war nicht selbstverständlich. Immerhin hatten Ariel Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, und Jörg Haider, Nutzer seines »arisierten« Landsitzes im Bärental, sich gegenübergesessen. Mit Haider verkehrt Muzicant sonst nur auf dem Rechtsweg – wie Anfang letzten Jahres, als Haider sein Publikum mit dem Satz unterhalten hatte: »Ich verstehe nicht, wie einer, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann!«
 
Diesmal jedoch mußte der Nazi mit dem Juden feilschen. Millionen standen auf dem Spiel, und Washington machte Druck. Mit Haider am Tisch saßen neben anderen sein Kollege Erwin Pröll, Landeshauptmann von Niederösterreich, und der Wiener Stadtrat Sepp Rieder, der seinen Bürgermeister vertrat.
 
Thema war die Forderung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien nach Entschädigung für Vermögen, das den jüdischen Gemeinden in den österreichischen Ländern zur Nazizeit »entzogen« worden und später in den Besitz der Länder und Gemeinden übergegangen war. Die Länder und Gemeinden aber seien, so hatte es in Wien geheißen, an die jüngsten Vereinbarungen über Entschädigungen für arisiertes Vermögen nicht gebunden.
 
Muzicant hatte daraufhin für den Fall, daß seiner Forderung nach einer Entschädigung in Höhe von 200 Millionen Euro entsprochen werde, angekündigt, er werde sich in den USA für eine Zurücknahme entsprechender Sammelklagen einsetzen. Am Ende wurden es zwar nur 18 Millionen Euro, und bis auf Wien war kein Bundesland bereit, die Rückgabe geraubter Kunstwerke zuzusagen. Dennoch erklärte Muzicant den Rechtsstreit um die Restitution von seiner Seite für beendet. Seine Erfahrungen hatten ihn wohl nicht mehr erwarten lassen. Fünfzig Jahre hatte es gedauert, bis die Österreicher schließlich, und auch nur unter massivem Druck der USA, 1995 einen »Nationalfonds für Entschädigungszahlungen« eingerichtet hatten.
 
Von den 210.000 Juden, die 1938 in Österreich gelebt hatten, haben im Land selbst nur 5.000 überlebt. 60.000 wurden ermordet, 145.000 mußten fliehen. Ihr gesamtes Eigentum wurde ihnen vom Staat und von der Bevölkerung geraubt. Muzicant beziffert den Wert des enteigneten jüdischen Gemeindevermögens in Österreich auf 500 Millionen Euro. 95 Synagogen und Bethäuser, 762 Thorarollen und 46 jüdische Friedhofsanlagen waren zerstört, mehr als 600 Vereine, Stiftungen und Fonds allein in Wien aufgelöst worden. So gut wie nichts davon wurde 1945 zurückgegeben oder ersetzt. Noch bis zum heutigen Tag verweigern die meisten Länder und Gemeinden die Pflege der jüdischen Friedhöfe. Die Kultusgemeinde war deshalb gezwungen, in den Jahren von 1945 bis 1981 zwei Drittel ihres verbliebenen Vermögens zu veräußern, um ihre jährlichen Ausgaben abzudecken.
 
180 Milliarden Schilling (über 13 Milliarden Euro) hatte der Entschädigungsanwalt Ed Fagan vor zwei Jahren in Sammelklagen einfordern wollen. Der tatsächliche Wert des durch »Arisierung« in Österreich enteigneten jüdischen Vermögens (Betriebsvermögen, Immobilien, Grundbesitz, Wertpapiere, Wohnungen etc.) belief sich nach den akribischen Aufzeichnungen der Nazibeamten auf mehr als 2,5 Milliarden Reichsmark –  nach heutigem Wert etwa 12 Milliarden Euro.
 
Insgesamt hat Österreich sich zu Zahlungen in Höhe von 360 Millionen Dollar verpflichtet – 150 Millionen Entschädigung für entzogene Mietrechte, Hausrat und persönliche Wertgegenstände und 210 Millionen für geraubte und liquidierte Betriebe, Konzessionen, Konten, Aktien, Hypotheken, Policen. Außerdem sollen Gebäude, Grundstücke und Kunstwerke, die heute dem österreichischen Staat (nicht den Ländern und Gemeinden) gehören, an Privatpersonen und Institutionen zurückgegeben werden.
 
Muzicant hatte die Einigung, die im Januar 2001 in Washington von Österreichs Sonderbotschafter Ernst Sucharipa, dem damaligen US- Vizefinanzminister Stuart Eizenstat und Vertretern der Opferverbände ausgehandelt worden war, mit Skepsis aufgenommen. Er sollte recht behalten. Denn als erstes änderte Österreich die Einigung so ab, daß geraubte Güter, für die weder Eigentümer noch deren Erben gefunden werden können, endgültig an den Staat fallen sollten, und nicht etwa an die jüdische Kultusgemeinde.
 
Über all diese Auseinandersetzungen ist in dem Buch Unser Wien. »Arisierung« auf österreichisch nichts zu erfahren. Sein erster Teil endet nach einer Schilderung der »wilden Arisierungen« irgendwo in den Jahren des » Wirtschaftswunders«, und was dort steht, ist anderswo schon stringenter dargestellt worden (zum Beispiel in Evan Burr Bukeys Hitlers Österreich, siehe KONKRET 4/01).
 
Das eigenartige Ausweichen vor der aktuellen Politik ist durchaus typisch. Zwar arbeiten in Österreich viele Künstler, Kunsthistorikerinnen und Feuilletonisten über NS-Zwangsarbeit oder »Arisierung« jüdischen Eigentums. In der Regel vermeiden sie aber jeden Bezug zu aktuellen Auseinandersetzungen. Um so mehr überrascht, was Walzer/Templ im zweiten Teil ihrer Publikation bieten: eine »Topographie des Raubes« – endlose Listen von Apotheken, Gastronomiebetrieben, Verlagen, Kinos, Kaufhäusern, Industriebetrieben und sogar von »arisierten« Wohnungen. Eine immense Recherchearbeit, die sie zudem in einem besonderen Leitfaden zur Nachahmung empfehlen. Anders als Frank Bajohr in seiner Untersuchung »Arisierung« in Hamburg hat das Wiener Duo auch gleich die meisten der »Ariseure« ermittelt und nennt sie beim Namen. 
Die Namen und Adressen der Täter! Das ist bislang einzigartig in Österreich (und hat auch in der BRD nur eine einzige Entsprechung – die Dokumentation Betrifft: Aktion 3 von Wolfgang Dressen, KONKRET 1/99). Wir lesen da:
 
17. Bezirk, Schuhmannstl: 67, Schuhfabrik Reich & Söhne. Ehemaliger Eigentümer (E):“ Ida Reich und Hermann Schermann. Profiteur (P): Ludwig Reitel: Seine Schuhe sind heute Inbegriff Wiener Kultiviertheit. H. Schermann kam im KZ Litzmannstadt um.
Wohnungen: Rathausst1: 20. (E) Bertha Popper; (P) Adolf Mayer-Loos. Mayer-Loos »arisierte« auch das in diesem Haus befindliche Bankunternehmen Rosenfeld & Co.
 
Der Katalog bietet einige besonders spektakuläre Überraschungen – unter anderem wird der ehemalige SPÖ- Vorsitzende und Bundespräsident Adolf Schärf als »Arisierer« überführt. Dennoch hat das Buch in Wien nur wenig Aufsehen erregt. Auch drei Monate nach seiner Präsentation gibt es nur wenige und meist sehr abgeklärte Besprechungen, in denen kräftig historisiert und kulturalisiert wird. Der Staatsrundfunk ORF nannte es einen »etwas anderen Stadtführer« (ORF). Was für eine Chance für den Fremdenverkehr! So viele berühmte Namen und Adressen! Das Haus von Sigmund Freud (es wurde nie restituiert). Rudolf Kraus, der reiche Bruder von Karl. Ermordet in Auschwitz-Birkenau. Aber das Haus kann besichtigt werden, Nibelungenstraße 13. Profiteur: Siemens. Interessant! Hermann Broch, Erich Fried, Arnold Zweig. Das Riesenrad, das Rothschild-Palais, das »Ronacher«, in dem Josephine Baker getanzt hatte. »Man glaubt gar nicht, wie viele prominente Bauwerke in Wien mit Geschichten von Enteignung, Mord und Vertreibung verbunden sind« (ORF).
 
Walzer und Templ haben sich auf Prominenz und identitätsstiftende Bauten der Stadt konzentriert. Können jetzt Tausende prominenter Wiener nicht mehr schlafen? Wohl kaum. Die »Arisierung« ist im kollektiven Gedächtnis als Verteilung des »Judenbesitzes« an die »bombengeschädigten Volksgenossen« gespeichert. 70.000 Wiener Wohnungen waren »arisiert« worden. Irgendwie haben die meisten Familien davon profitiert.
 
Zwar hebt das Adressenverzeichnis die gängige Trennung von Gesellschaft und Tat auf, führt Tat, Täter und konkreten Ort wieder zusammen. Das erschwert es, den gesamten Verfolgungszusammenhang allein auf die »Todesfabriken« im Osten zu projizieren und allein als Werk »der Nazis« darzustellen. Aber heute sieht man alles längst aus größerer historischer Distanz. In den Achtzigern hätte das Verzeichnis vielleicht noch einen Skandal wie den um Kurt Waldheim ausgelöst. Heute wird es als olle Kammelle abgetan: Du meine Güte, das wissen wir doch alles längst!
 
Nichts wünschen auch die Jungen mehr als rasche, »unbürokratische«, das heißt: pauschale Entschädigung. Und natürlich »Rechtssicherheit«. Sie haben sich gut eingelebt in einem bemerkenswerten Dualismus: staatliche, das heißt verallgemeinerte Zuwendungen an die Opfer (statt konkreter privatrechtlicher Abrechnung mit den Tätern und ihren Erben) und Pflege der Gedenkstätten als der einzig »authentischen« Tatorte des Holocaust.
 
Der konkrete lokale Bezug, der Schritt zurück an die Heimatorte, ins Viertel, ins Haus, in die Wohnung, würde die Frage nach der Zustimmung der großen Mehrheit und ihrer antisemitischen Motive unabweisbar machen. Und davor schrecken sogar die Autoren dieses Buches zurück. Antisemitismus definieren sie als »Ventil« für den »Zorn der Bevölkerung« über soziale Mißstände, obwohl ihre eigene Liste diese verbreitete Auffassung widerlegt. Wer Betriebe, Häuser, Wohnungen und Wäsche von Deportierten zum »ordnungsgemäßen« Spottpreis erwarb, wußte, was geschah, und genoß es.
 
Tina Walzer/Stephan Tempi: Unser Wien -»Arisierung« auf österreichisch. Aufbau-Verlag, Berlin 2001, 292 Seiten, 20,41 Euro
 
(aus konkret 2/2002)