H. Hofbauer zur historischen Wende 1989: Der Wilde Osten

Wende

„Der wilde Osten“

Hannes Hofbauer, Promedia-Verlag 1991

Einleitung
 
Berlin, Prag, Temesvar, Bukarest, Sofia – Hunderttausende waren ein paar Wochen lang, Tag und Nacht auf den Straßen. Der Herbst 1989 sah eine allseits geliebte Volkserhebung im Osten Europas. Die Ereignisse überstürzten sich. Die Berichterstattung darüber belegte alle Vorkommnisse, die jahrzehntelang voll Distanz und Abscheu kommentiert wurden, mit positiven Attributen. ‚Generalstreik‘, ‚Aufstand‘, ‚Revolution‘ wurden enthusiastisch gefeiert, über jede Demonstration wohlwollend berichtet. Dieselben Medien, die Anti-AKW -Demos in der BRD und Arbeitskämpfe in Großbritannien mit der lapidaren Feststellung diffamierten, daß es – wie gehabt – zu Ausschreitungengekommen sei, jubilierten nun zu Jahresende 1989. Aus‘ Ausschreitungen‘ wurde im Sprachgebrauch für Osteuropa‘ gerechter Volkszorn‘.
 
Bloß beschreibende Berichterstattung machte einer Mystifizierung des Geschehens Platz, die bis heute nachwirkt. „Das Volk ist an der Macht“ sollte suggeriert werden. Das Volk – so der Tenor der Kommentatoren – hat sich geholt, was ihm zusteht: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Genau 200 Jahre vor dem Sturm auf die Stasizentrale stürmte das Volk die Bastille. Der Mythos von der Volksmacht hielt sich trotz der Charakterisierung der Französischen Revolution als bürgerlich. Damals wie heute blieben auf dem Schlachtfeld der Wende Sieger und Verlierer zurück. Der dynamische Bürgerstand opferte 1789 eine Generation Adelige, die eigentlichen Verlierer waren jene, die aus der Handwerksstube in die Fabrikshalle gezwungen wurden. Ihre Freiheit beschränkte sich fortan darauf, daß sie nichts anderes zu verkaufen hatten als sich selbst.
 
Auch die im Herbst 1989 gewonnene Freiheit wird fein portioniert verteilt. Wer sich DM erschwindelt oder Direktorenposten ersessen hat, zählt ebenso zu den Gewinnern der Wende wie jene Flexiblen aus West und Ost, die die Gunst der Stunde und die geänderten ökonomischen Bedingungen zu nutzen wußten; Kriegsgewinnler ohne Krieg. Allen anderen jedoch, die ihre soziale Sicherheit auf 40 Jahre Vergangenheit aufgebaut haben, droht Armut, Elend und …Vergessen. Über Millionen von wirtschaftlich unbrauchbar Gewordenen in Rumänien, Bulgarien, Polen, der Slowakei, Ostungarn und der Sowjetunion werden bald nur mehr Geschichten in Form von Einzelschicksalen berichten. Allenfalls Inflationsprozente und Preissteigerungsraten könnten sensiblere Beobachter über den Zustand der Opfer der neuen Freiheit erschaudern lassen.
 
Wo und wann genau die Wende, die nur in manchen osteuropäischen Ländern von Volkserhebungen unterstützt worden war, begonnen hat, wird orschungsgegenstand zahlreicher historischer Studien sein. Von hinten nach vorne: Zuallerletzt kam es im Sommer 1989 durch Scherenschnitt zu jener Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich, die in der Folge fast eine Viertelmillion Ostdeutsche in eine neue Heimat trieb. Die Massenflucht der DDR-Bürger/innen war ein entscheidender Schritt von Ost nach West, der die politische Wende bzw. den späteren Sturz der Regierungen in Berlin, Prag, Sofia und Bukarest vorwegnahm.
 
Schon über vier Jahre zuvor, auf dem April-Plenum des Zentralkomitees der KPdSU 1985, war eine ‚Revolution von oben‘ eingeleitet worden. Damals lernte der Westen russisch: Perestroika und Glasnost sind in den Washingtoner und Bonner Wortschatz eingegangen. Michail Gorbatschow , der frischgekürte Generalsekretär der mächtigsten Partei der Welt, entschloß sich, die höllische Krise, in die die sowjetische Wirtschaft geraten war, durch grundsätzliche Änderungen lösen zu wollen. Die projektierte Einführung der Marktwirtschaft sollte – so der Plan – sozialistische Wohlfahrt bringen. Jahrzehntelang hatte der kommunistische ‚Teufel‘ das kapitalistische ‚Weihwasser‘ gescheut, jetzt segnete er seine Schäfchen damit. Im Westen wurde Gorbatschow dafür zum Hohepriester gekürt, im Osten begann die Bevölkerung in den einzelnen Republiken des Riesenreiches selbst schwarze Messen zu lesen. Die Litanei von der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘ wurde zum Stoßgebet.
 
Noch ein Dutzend Jahre zuvor, Anfang 1970, war billiges Geld weltweit auf der Suche nach Kreditnehmern. Die intensive Phase des Wiederaufbaus seit Kriegsende war abgeschlossen, produktive Investitionen dementsprechend seltener, Finanzgeschäfte ertragreicher. Der Osten Europas, seit Stalin durch die Konzentration auf Schwerindustrie auf dem Konsumgütersektor zurückgeblieben, griff zu. Mittels günstiger Kredite, so hofften Kadar, Gierek und Co., könnte man moderne Industriezweige aufbauen. Dieser „Sprung nach vorne“ sollte ihnen auch helfen, das politisch sprachlose Volk materiell zu befrieden. Östlicher Sozialpakt mit westlichen Krediten, das hatten sich die Ostblock-Führer der 70er Jahre ausgedacht. Es kam alles ganz anders.
 
Die Zinssätze kletterten in die Höhe, die technologische Revolution des Silicon Valley hielt trotz Westgeld im Osten nicht Einzug. Das Projekt nachholender Entwicklung, wie es in den einzelnen Ländern des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) geplant war, scheiterte kläglich. Zurück blieben ein wachsender Schuldenberg und Parteiführer, die jede Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verloren hatten.
 
Gleichzeitig verlor die Sowjetunion im Rüstungswettlauf mit den USA nicht nur militärtechnologisch an Terrain, sondern auch ökonomisch an Substanz. Totgerüstet war das riesige Reich zwischen Brest und Wladiwostok, als Ronald Reagan seine Mittelstreckenraketen in Europa erneuerte und das Star-War-Programm lancierte. Moskau hatte diesem Kraftaufwand der USA, der mitverantwortlich für das Steigen der Zinssätze war, nichts entgegenzusetzen. Militärisch von der US-Army überflügelt, ökonomisch erschöpft und politisch im eigenen Land diskreditiert, wechselte der Kreml die Parolen. Marktwirtschaft hieß nun das neue Credo. Das osteuropäische Glacis, im ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ erworben, ließ man unbeaufsichtigt seiner Wege gehen. Zu viele Sorgen im eigenen Land machten gemeinsame Anstrengungen des RGW unmöglich – so notwendig sie gewesen wären.
 
Die Signale aus Moskau fanden ihr Echo in Warschau und Budapest. Dort war der gesellschaftliche Konsens in Richtung Wende am weitesten fortgeschritten. Unter der Schirmherrschaft der kommunistischen Partei waren liberale Kader ausgebildet worden. Längst lagen ökonomische Reformprogramme in den Schubladen. Hastig wurden die ärgsten Hindernisse auf dem Weg Richtung Westen beseitigt: Außenhandelsmonopol, Restriktionen im Kapitalverkehr und Investitionsbeschränkungen wurden aufgegeben, persönliche Bewegungsfreiheit folgte bald.
 
Der Eiserne Vorhang, Symbol der Herrschaft osteuropäischer Diktaturen und gleichzeitig Schutz vor ökonomischen Übergriffen aus dem Westen, brach an seiner schwächsten Stelle. In Ungarn, dem Land mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung Europas, durchschnitt die offiziell noch nicht reformierte Staats- und Parteiführung jenen Stacheldraht, der 40 Jahre lang den Osten vom Westen getrennt hatte. Am 11. September 1989 genehmigten Ministerpräsident Pozsgay und Außenminister Horn die Ausreise von DDR-Bürgerlnnen ohne gültige Paßdokumente. Der Damm war gebrochen. Und während tausende Ostdeutsche über die von Hitler erbaute Autobahn von Wien Richtung München fuhren, ergoß sich ein Milliarden-DM-Kredit von Frankfurt Richtung Budapest. Der exakte Kaufpreis ist ebensowenig bekannt wie die Kosten der Freiheit.
 
In Berlin (Ost), Leipzig, Dresden …funktionierte indes nichts mehr. Die Besten waren geflohen. Im Spital fehlten Krankenschwestern und Ärzte, in der Fabrik die Facharbeiter, jeder fünfte Geschäftsladen stand ohne Verkäuferlnnen da. Und die „Deutsche Welle“ gab den Bedarf der bundesdeutschen Wirtschaft an ostdeutschen Arbeitskräften über den Äther bekannt: „Im Raum Hamburg mangelt es an medizinischem Hilfspersonal. Braunschweig benötigt Fachkräfte für …“. Als österreichische Hoteliers in bayrischen Auffanglagern nach sächsischen und brandenburgischen Serviererinnen und Köchen Ausschau hielten, stellten sie verdutzt fest, daß die meisten bereits in der Budapester Zeltstadt von westdeutschen Unternehmern angeworben worden waren.
 
Der Aderlaß an spezialisierten und gut ausgebildeten Fachkräften gab der DDR den Todesstoß. Die Leipziger Montagsdemonstrationen trugen dann noch zur Beschleunigung des SED-Selbstrnordes bei.
 
Fall der Mauer, Währungsunion, kalter Anschluß – die politischen Spuren wurden verwischt. Die ehemalige DDR kennt keine Verantwortlichen für die Ereignisse des ‚heißen Herbstes‘. Mehrmalige Führungswechsel in SED/PDS (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, später: Partei des demokratischen Sozialismus), CDU (Christlich-demokratische Union, Blockpartei) und SDP/SPD (Sozialdemokratische Partei) haben schon vergessen gemacht, wer denn nun eigentlich worüber die Entscheidungen getroffen hat. Honecker, Krenz, Modrow; Schnur, Eppelmann, de Maiziere; Böhme, Meckel …alle waren sie im entscheidenden Moment als Parteigänger oder – vermeintliche – Stasispitzel enttarnt und von ihren Posten enthoben worden. Die DDR wurde ausradiert, mit Stumpf und Stiel, geblieben ist nicht einmal die Erinnerung an die hauseigenen Totengräber.
 
Den anderen entkommunifizierten Ländern, die im Unterschied zur DDR eigene nationale Identität besaßen, war der Mythos wichtiger als das Vergessen. Das neue staatliche Selbstverständnis brauchte ihn. Der Mythos hieß Revolution. Und er schreckte nicht vor dem Instrument des Todes zurück. So produzierte die Prager Gerüchteküche des Bürgerforums am 17. November 1989 einen Toten am Wenzelsplatz – von Sicherheitskräften erschlagen -, um den Gang der Ereignisse zu beschleunigen. Am selben Tag war im bundesdeutschen Heidelberg eine antifaschistische Demonstrantin von prügelnden Polizeieinheiten auf eine stark befahrene Straße unter die Räder eines PKW getrieben worden: Die tote Antifaschistin kam in den Medien nicht vor, der – wie sich später herausstellte – inexistente tote Prager Student machte zwei Tage lang Headlines.
 
Auch Havels kometenhafter Aufstieg vom Dramaturgen zum Republiksgründer ist Teil einer Inszenierung, die aus drei Massenkundgebungen und zwei Stunden Generalstreik eine Revolution gemacht hat.
 
Noch krasser ist der Widerspruch zwischen Mythos und Wirklichkeit in Rumänien. Der Hinrichtung des Ehepaars Ceausescu am Christtag des Jahres 1989 folgte die christliche Welt unter dem Weihnachtsbaum mit Genugtuung. Dem blutrünstigen Dracula war Gerechtigkeit widerfahren. In den Tagen zuvor hatten seine Chargen, so sah man’s beim Abendbrot vor dem TV-Bildschirm, 10.000 großteils ungarisch stämmige Rumän/nn/en bestialisch ermordet. Schnell ausgegrabene Leichen wurden hautnah ins Wohnzimmer gesandt.
 
Später, als sich die revolutionäre Aufregung in Rumänien und das Interesse der Voyeure gelegt hatte, taten rumänische und französische Berichte kund, daß die einprägsamen Friedhofsleichen nicht Revolutionsopfer, sondern Spitalstote gewesen waren. Ein westliches Fernsehteam hatte den Wärter gebeten, für ein paar Dollar Leichen auszugraben und revolutionär zu drapieren. Der Stacheldraht im Fleisch des Kindes stammte vom Friedhofszaun.
 
Untersuchungen von Ärzten aus Temesvar/Timisoara straften die Behauptung Lügen, daß am 17. Dezember 1989 10.000 Demonstrant/inn/en von der Securitate getötet wurden. Das Leichenschauhaus registrierte 96 Opfer des Blutbades. Beim Überfall der US-Streitkräfte auf Panama, der zeitgleich stattfand, tickerten die internationalen Nachrichtenagenturen eine Opferbilanz von 200 bis 300 über den Fernschreiber. 7000 tote Panamar/nnen wies eine US-amerikanische Studie aus, die Monate später von ExJustizminister Ramsey Clark vor Ort erstellt wurde.
 
Einverstanden, Tote gegenseitig aufzurechnen, ist unschön, unmoralisch. Wenige Tote sind nicht besser als viele Tote. Aber viele Tote, denke ich, sind schlechter als wenige. Das weiß die neue rumänische Führung genauso wie George Bush. Der Mythos Revolution, der die Mannen um Ion Iliescu an die Macht getragen hat, konnte viele Opfer gebrauchen. Opfer, die den Beweis für die Grausamkeit Ceausescus lieferten. Bis heute gilt der rumänische Diktator als 10.OOOfacher Mörder von Temesvar, während US-Präsident Bush seine Invasion in Panama als bloße Gefangennahme General
Noriegas darstellen konnte – tausende ermordete Zivilisten bleiben vergessen.
 
Mythos und Wirklichkeit. Die unzufriedenen Massen auf den Straßen von Berlin, Prag, Temesvar, Bukarest und – erst nach erfolgter Wende – Sofia prangerten ein verhaßtes Regime an, das sich nicht mehr zur Wehr setzte, weil es schon längst am Ende war. Honecker, Husak und Schivkoff sahen für ihre Länder keine wirtschaftliche Perspektive mehr, deretwegen es sich gelohnt hätte, mit letzter Konsequenz an der politischen Macht zu kleben. Nur Ceausescu wollte das Feld nicht kampflos räumen. Er hatte gerade einen großen wirtschaftlichen Triumph gefeiert. Zehn Jahre lang bürdete er seinem Volk die härtesten sozialen Bedingungen des Internationalen Währungsfonds auf, um sämtliche Auslandsschulden zurückzahlen zu können. Exportoffensive und Importstopp, Lohnstopp, staatlich verordneter Konsumverzicht und verdeckte Massenarbeitslosigkeit. Im April 1989 war es soweit: Rumänien war schuldenfrei. Zu spät, denn ringsum begann sich der osteuropäische Wirtschaftsraum aufzulösen. Allein konnte Ceausescu der Brandung der Wende, die bereits alle Nachbarn ergriffen hatte, nicht standhalten.
Ein halber Kontinent wechselte – mit Ausnahme Rumäniens – friedlich das politische System. In Polen und Ungarn benötigte diese sogenannte Revolution nicht einmal Straßenproteste. Eine ganze Riege als Stalinisten beschimpfte Parteiführer ließ sich abwählen; was der Namensgeber dieser allesamt unehrenwerten Herren so freilich nicht zugelassen hätte. Weil sie wußten, wie es wirtschaftlich um ihre Länder bestellt war, wie düster die Zukunft aussehen würde, warfen sie das Handtuch.
 
Die düstere Zukunft hat schon begonnen. Die Verschuldungsspirale dreht sich weiter (auch Rumänien hat mittlerweile wieder Auslandskredite aufgenommen), konkurrenzunfähige Industriekombinate schließen ihre Pforten, die einheimischen Landwirtschaften stehen vor dem Ruin, Arbeitslosigkeit wird zum Massenphänomen, Preise steigen und Reallöhne sinken, westliche Investoren – als Rettung in der Not umworben – bleiben aus. Die wirtschaftliche Sanierung, die man sich mit der Übernahme der Marktwirtschaft erhoffte, klappt nicht. Besser gesagt, sie wird so selektiv durchgeführt, daß sie regionale und soziale Gräben aufreißt und vertieft, die damit den Keim für künftige Konflikte in sich tragen.
 
Nur besonders lukrative Betriebsteile finden Westpartner. Eine mögliche Konsolidierung beschränkt sich auf wenige Regionen. Die ehemalige DDR, die böhmischen Länder und Westungarn könnten mittelfristig von der Wende profitieren. Der Rest wird europäisches Randgebiet, wie bereits vor und zwischen den beiden Weltkriegen. Dort wird eine Phase der politischen Instabilität Einzug halten, wie wir sie seit Jahrzehnten aus Lateinamerika kennen. Populisten, Generäle und Nationalisten werden sich die Klinken der Regierungspaläste in die Hand geben. Die parlamentarische Demokratie bleibt als den kapitalistischen Zentralräumen adäquate Herrschaftsform dem angeschlossenen Osten Deutschlands sowie Ungarn und der CSFR vorbehalten. Wobei nicht auszuschließen ist, dass politische Glücksritter a la Tyminski auch an Moldau und Donau Fuß fassen.
 
Den bevorstehenden sozialen Unruhen in Osteuropa kann eigentlich nur mit autoritären Mitteln begegnet werden. Zu sehr diskreditiert hat der ‚reale Sozialismus‘ jedes solidarische gesellschaftliche Engagement. Nicht nur der Sozialismus, die soziale Frage als solche ist durch ihre 40jährige propagandistische Überreizung in Mißkredit geraten. Niemand in Polen, Ungarn oder der CSFR will im Moment etwas von Sozialprogrammen hören. Die Formel des ‚Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied‘ läßt in diesen Ländern eine schmale Mittelschicht entstehen, die die allseits akzeptierte neoliberale Ideologie für sich selbst zu barer Devisenmünze macht. Den zunehmend verarmenden Proletariern, Bauern und Rentnern bleiben, wenn sie schon keine DM und Dollar haben, zumindest nationale Parolen. Und Nationalismus bringt allemal autoritäre Regime an die Macht.
 
Die Propagierung eines antikommunistischen Nationalismus, wie er von Vilnius bis Zagreb, von Bratislava bis Kiew die Massen in Atem hält, hat für die reformierten politischen Verantwortlichen einen entscheidenden Vorteil: Die Schuld an der sozialen Misere kann – je nach Bedarf – der alten KP-Nomenklatura, den Juden oder den Zigeunern, den Nachbarn oder den ethnischen Minderheiten zugeschoben werden.
 
Und diesen Vorteil weiß auch der eigentliche Profiteur des Umbruchs zu nützen. Der radikale Nationalismus widerspricht den Plänen zur Neuordnung Europas, wie sie zur Zeit in Brüssel beraten werden, keineswegs solange er sich auf die Peripherie beschränkt. Denn die (west- )europäische Integration bedeutet gleichzeitig Desintegration für Osteuropa. Zwischen dem reichen Wohlstandseuropa und dem armen, verelendeten Ostrand muß zwar der Waren- und Kapitalverkehr frei fließen können, der Verkehr von Menschen soll jedoch möglichst kontrolliert bleiben. Dafür wurden im Jahre 1990 Visabestimmungen für Bulgar/inn/en, Rumän/inn/en und teilweise auch für Pol/inn/en eingeführt, dafür patrouillieren 4000 österreichische Soldaten an der Grenze zu Ungarn, um sogenannte illegale Einwanderer zu stoppen. In Polen wird gerade ein mehr als 1000 Kilometer langer Maschendraht verlegt, zur Abhaltung der ehemaligen Genossen aus Weißrußland. Am schmalen Grenzstreifep zur Ukraine heben ungarische Zöllner einen tiefen Graben aus, um parallel dazu einen hohen Zaun zu setzen. Das Einfangen illegal genannter Grenzgänger gehört auch in der neuen CSFR zur Routine – schon demokratisch, noch Kalaschnikow.
 
Der Feind steht im Osten. Wie seit jeher. Waren es vor Jahrhunderten die Osmanen und vor einer Generation die Russen, die uns bedrohten, so sind sie es heute wieder: Türken, Russen, Rumänen, Bulgaren. Unbewaffnete Zivilisten auf der Suche nach Arbeit und Wohnung, die – so heißt es unseren Wohlstand gefährden.
 
Was sich niemand wirklich zu sagen getraut: Der Eiserne Vorhang war – auch – ein Schutzwall für den Westen. Solange neben dem kapitalistischen im Osten ein zweiter, relativ abgeschotteter Wirtschaftskreislauf hinter Mauer und Stacheldraht funktioniert hat, war es möglich, dort ein Lohn- und Preissystem aufrechtzuerhalten, das den Menschen einen bescheidenen Lebensunterhalt garantierte. Mit sozialistischen Idealen hatte diese Form von Protektionismus nur wenig zu tun. Nun, nach der Öffnung und dem Zusammenbruch des gesamten gesellschaftlichen Gefüges in Osteuropa, prallen die Gegensätze zwischen westlichem Zentrum und östlicher Peripherie ungebremst aufeinander. Durchschnittliche Monatslöhne von 30 Dollar in Rumänien und 60 Dollar in Polen reichen in Gesellschaften, die sich an EG und Weltmarkt orientieren, nicht zum Überleben.
 
Der Leiter der Europaratsabteilung für sozioökonomische Fragen, Jean Claude Chesnais, hat Ende Jänner 1991 auf der Wiener Ost-West-Wanderungskonferenz Schreckensszenarien an die Wand gemalt. Demnach haben 50 Prozent der Ost-Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren keine Chance auf einen Arbeitsplatz in ihrer Heimat. Für das zukünftige Polen hat Chesnais fünf Millionen Arbeitslose errechnet, für die Sowjetunion gar 40 Millionen.
 
Angesichts dieser Entwicklung herrscht Panik im Westen. Die EG hat noch keine gemeinsame Linie gegenüber Ost-Immigranten. Abschottung oder Grenzöffnung – für beide Strategien gibt es Fürsprecher. Die Abschottungsstrategie zielt wohl eher auf den störungsfreien Aufbau des Gemeinsamen Marktes, der sich soziale Unruhe – wie sie durch die Einwanderung hunderttausender Osteuropäer/innen entstehen würde – nicht leisten kann. Umgekehrt steckt hinter der liberalen Grenzöffnungsforderung oft der Wunsch der Industrie nach billigster, östlicher Arbeitskraft, die für die weitere Deregulierung des westeuropäischen Arbeitsmarktes instrumentalisierbar wäre.
 
Daß es eine neue Grenze zwischen West- und Osteuropa geben wird, steht außer Frage. Wo diese verlaufen wird, darüber herrscht noch keine Einigkeit. Am wahrscheinlichsten wohl östlich der Oder/Neiße und nordwestlich des Balkans.  Hie ‚Europa‘, da ‚geschichtslose Völker‘; die Zugehörigkeit richtet sich nach der Nützlichkeit fürs Kapital, und sogar Marx und Engels hätten mit ihrer Charakterisierung der Völker im Osten Europas – nachträglich – recht gehabt.
 
Die Neuordnung Europas gäbe folgendes Sozialporträt: Bürgerkriege im Osten und Wohlstandsfriede im Westen. Die Lissaboner Slums, die Farbiken in Brixton/London, die arabischen Jugendlichen in Paris, Lyon und Marseille lassen sich darin noch allemal mit selektiver Gewalt integrieren. Der unvermeidliche Aufstand der unter kapitalistischen Verwertungsbedingungen unbrauchbaren Massen zwischen Warschau, Sofia und Moskau scheint sich in gegenseitigem nationalistischen Haß zu entladen. Osseten, Russen, Gagausen, Ungarn, Zigeuner, Kosovo-Albaner, Serben …schon geht die Opferbilanz im Kampf zwischen den Nationalitäten in die Hunderte. Ein den ganzen europäischen Kontinent umspannender Krieg wäre an jenem Tag nicht mehr fern, an dem sich ein von seinen Nachbarn diktatorisch unterdrücktes Volk an Westeuropa um Hilfe wendet. Litauer, Slowenen, Rumänenungarn …ihre existentielle Bedrohung  könnte allen voran das erstarkte Deutschland, das eben 16 Millionen Ostdeutsche aus den Klauen der Barbarei befreit hat, auf den Plan rufen. Wenn sich dann dieses große Deutschland verpflichtet fühlte, den Lauf der  Geschichte zu beschleunigen, den von russischen Militärs, serbischen Nationalisten oder rumänischen Diktatoren Bedrängten zu Hilfe zu kommen, dann könnte es wieder losgehen. Und wieder würde Krieg sein, kein aggressiver,  versteht sich, sondern ein Befreiungskrieg. Anders als 1914 und 1939, aber Krieg.