Rüdiger Safranski hat mit der vorliegenden Goethe-Biograhie – nach eigenen Worten- seinen „Mount Everest“ bestiegen. Wie immer bei ihm erfährt, lernt man/ frau eine Menge- und zwar mit Genuß! —————————-
Safranski setzt sich eingehend und umfassend sowohl mit dem Werk als auch dem Leben Goethes auseinander. Die Behandlung des „Werther“, von „Torquato Tasso“: differenziert, toll. Sehr schön die Interpretation des „West-östlichen Divan“- Goethes literarischer Ausflug in die „Patriarchenwelt des Ostens“. Auch die Analyse des „Faust“ ist tief- zum Teil erinnert sie an Oskar Negts Interpretation in „Die Faustkarriere“.
Das Leben Goethes führt im dem Buch von Safranski wie gesagt kein Schattendasein. Im Gegenteil- es wird ausführlich geschildert: Goethes Weiterentwicklungen, ja die Brüche in seiner vita: seine stürmischen Jugendjahre, die Übernahme der Ämter in dem Zwergstaat Weimar, die Reise nach Italien- die einer Flucht gleichkam, die persönliche „Entdeckung der Sexualität“, die- anfänglich wilde- Ehe mit dem „Bettschatz“ Christiane Vulpius, die durchaus nicht friktionsfreie Freundschaft mit Schiller usw.
All das findet in dem poetischen Schaffen Gothes eine nicht lineare Resonanz. Ein reichhaltiges Schaffen- ein pralles Leben. Safranski schildert dies mit viel Material und zum Teil neuen Einsichten.
Kritisch läßt sich anmerken, daß der Autor zu behutsam mit dem politischen Agieren Goethes bzw. dessen Abstinenz umgeht (in Hans Mayers Goethe-Biographie aus dem Jahr 1973 läßt sich diesbezüglich weit mehr erfahren). Goethe war zwar alles andere als ein Philister- aber er hatte in seiner Ausblendung des „Draußen“ (um sein „inneres“, künstlerisches Schaffen zu ermöglichen) philisterhafte Züge: sein anpaßlerisches Verhalten am Weimarer Hof und insbesonders sein äußerst problematisches Verhältnis zur französischen Revolution 1789. Anders als viele seiner Zeitgenossen (Hegel, Höderlin,…) konnte er den revolutionären Stürmen wenig abgewinnen- Napoleon hingegen bewunderte er Zeit seines Lebens.
Mir drängte sich bei der Lektüre dieser Passagen des Buches der Eindruck auf: hier argumentiert Safranski wie ein Alt-68er der mehr „Ruhe“ mit/ in der der Welt sucht. Das Ende seines -hervorragenden- Buchs über die deutsche Romantik weist ebenfalls in diese Richtung.
Trotz dieser Schranken: Safranski unbedingt lesen! Eine Auseinandersetzung mit dem – bürgerlichen- „inkommensurablen“ Geistesriesen Goethe kann nur hilfreich sein. Gerade für Linke- damit sie ja nicht im politischen Tageskampf steckenbleiben. Erinnern wir uns an Antonio Gramsci, der sich stets an Bettino Croce gerieben hat- von Marx ganz zu schweigen, der Spanisch lernte, um den „Don Quichote“ im Original zu lesen!
Hermann Dworczak
Rüdiger Safranski GOETHE. Kunstwerk des Lebens. Biographie.
Carl Hanser Verlag München 2013. 751 Seiten. 27, 90 Euro