Interview mit Seyfi Öngider, türkischer Autor, Verleger und revolutionärer Sozialist, über die aktuelle Situation in der Türkei

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In türkischer Sprache!

Hier der deutsche Text des Interviews:

Über Erdogan, das palästinensische und kurdische Selbstbestimmungsrecht, den AKP-Militär-Konflikt und über die türkische, kurdische Linke und die türkische ArbeiterInnenbewegung

 

1.Frage: Als der palästinensische Fatah-Führer Abbas die Anerkennung des palästinensischen Volkes und einen Sitz in der UNO-Vollversammlung forderte, unterstützte ihn der türkische Ministerpräsident Erdogan. Er forderte sogar das volle Selbstbestimmungsrecht für das palästinensische Volk. Westeuropäische JournalistInnen stellten dann die Frage: „Erdogan, was ist mit dem kurdischen Volk in der Türkei?“ Was war in den türkischen Medien und in der Linken die Reaktion auf diese doppelzüngige Rede Erdogans?

 

Seyfi:

Wir sind daran gewöhnt, dass unsere Politiker im Ausland solche Aussagen machen. Sie fangen damit schon im Flugzeug an, ohne die Wirkung im Inland zu beachten. Und das ist nicht nur typisch für Erdogan. Als er auf der UNO-Vollversammlung über die Palästinenserfrage sprach, achtete er nicht darauf, welche Parallelitäten dies für die Kurdenfrage hat. Er hat auch über Syrien geredet und dabei Ratschläge an Assad erteilt und Assad hat ihm mitgeteilt, dass es in Syrien nur 80 Gefangene gebe, die freigelassen würden. Das hat er natürlich nicht getan. Erdogan sollte besser über die politischen Gefangenen in der Türkei  reden. Es gibt viel mehr politische Gefangene in der Türkei als in Syrien. „Unsere“ Politiker sind eben inkonsequent. Die türkischen Medien sind daran gewöhnt, sich mit dem Thema der politischen Gefangenen nicht auseinanderzusetzen. Die Medien wissen, dass „unsere“ Politiker im Ausland anders reden als im Inland. Besonders in der Türkei vertreten die Mainstream-Medien die Interessen des Staates. So haben sie zum Beispiel über die Ermordung von 35 kurdischen Zivilisten  vor ein paar Tagen ganze 12 Stunden lang nicht berichtet. Die Menschen haben davon nur in den sozialen Netzwerken erfahren. Erst nachdem der türkische Generalstab dies publik gemacht hat, haben die Medien auch nur als Vermutung darüber berichtet. Deswegen kann Erdogan auch im Ausland sorglos solche Aussagen machen, weil sich die Medien in der Türkei ohnehin nicht kritisch damit auseinandersetzen.

 

2.Frage:  Die AKP ist seit zehn Jahren an der Staatsmacht. In den westlichen Medien bekamen wir in den letzten  Monaten, im vergangenen Jahr, viele Informationen über den Konflikt zwischen der AKP-Regierung und dem Militärsystem. Hunderte Oberoffiziere und Offiziere wurden eingesperrt. Was ist der Hintergrund dieses Konfliktes, und vielleicht noch wichtiger die Frage, findet in der Türkei ein fundamentaler Umsturz innerhalb der Staatsmacht statt?

 

Seyfi:

Zuerst muss man feststellen, dass die AKP keine traditionelle rechte Partei ist. Sie vertritt zwar die Interessen einer Kapitalgruppe, ist aber vor allem Ausdruck der Globalisierung. In den 1990er-Jahren hat die Globalisierung die Machtverhältnisse in der Türkei neu gestaltet. Die traditionellen rechten Parteien haben dies nicht geschafft. Bei den Wahlen 2002 sind die alten Parteien aus dem Parlament rausgefallen. Mittlerweile ist die AKP bereits in der dritten Legislaturperiode. Sie war nicht Vertreterin des Istanbuler Großkapitals, sondern der anatolischen Bourgeoisie, die in Konflikt mit dem Großkapital stand. Das Großkapital bediente sich bisher des Staates und dessen Finanzquellen. Die AKP erhielt hingegen nicht nur die Unterstützung der anatolischen Bourgeoisie, sondern wurde auch von breiten religiösen Massen gewählt. Als die AKP an die Macht kam, musste sie sich gegen das Großkapital und das Militär durchsetzen. Das Militär sah sich ja stets als die eigentliche Macht im Staat und lehnte die AKP ab und versuchte sie zu kontrollieren. Die AKP ging langsam und klug gegen Militär vor. Wichtig ist, dass die Macht des Militärs durch die AKP nicht geschmälert wurde, ihr gelang es aber, hohe einflussreiche Posten im Militär zu besetzen. Dieser Konflikt zwischen AKP, Militär, Großkapital und anatolischer Bourgeoisie hätte neue Möglichkeiten für Linke geschaffen, Einfluss in den Massen zu bekommen.  Sie haben diese Chance aber  nicht genützt. Die Liberalen, viele ehemalige Linke und Intellektuelle, haben nämlich fälschlicherweise die Politik der AKP als eine Demokratiereform gesehen. Wenn es eine echte Opposition und breite Massenbewegung gegeben hätte, wäre es möglich gewesen, diesen Konflikt auszunützen und eine Demokratiereform auch durchzusetzen. Die AKP hätte auch ihre Kurdenpolitik nicht derart unterdrückend, militaristisch und nationalistisch durchgeführt. Die Kurdenfrage ist eine demokratische Frage, trotzdem ist von der AKP ist in dieser Frage nichts zu erwarten. Die AKP hat jene Generäle, die einige Putschversuche unternommen hatten, abgesetzt, vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilen lassen. Aber es ist auch klar, dass die AKP eine Versöhnung mit dem Militär sucht. Die Generäle könnten auch wieder freigelassen werden. Die große Macht der AKP führt inzwischen zu Willkür in der Politik und droht in einem Einparteiensystem zu enden, Die Macht des Militärs wurde nicht eingeschränkt, aber Militär, Polizei und Verwaltung sind AKP-durchsetzt.

 

3.Frage: Nun zur letzten Frage. Wie reagiert die Opposition auf die politische Situation in der Türkei? Ist die Kemalistische CHP eine wirkliche Opposition? Die BDP, die kurdische Partei, wurde immer wieder vom Staat unterdrückt. Was ist heute ihre Politik gesellschaftlich und im Parlament ? Und schließlich, wie steht es um die türkische Linke und  … die ArbeiterInnenbewegung?

 

Seyfi

Für die AKP im Parlament sind CHP und MHP keine Herausforderung.  Die MHP ist eine faschistoide Partei, nähert sich aber in letzter Zeit an die CHP an.  Die CHP stellt sich noch immer als linke Partei dar und ist Mitglied der sozialdemokratischen Zweiten Internationale. Im Konflikt AKP und Militär stellt sie sich allerdings auf die Seite des Militärs und beharrt auf den republikanischen Werten. Es gibt zwar republikanische Werte, dass z.B.  die Türkei kein Sultanat mehr ist, aber trotzdem steht die AKP den Massen näher als die CHP. Die anderen republikanischen Werte beziehen sich auf den autoritären Kemalistischen Staat mit einem Einparteiensystem: „Für das Volk entscheiden wir“. Die CHP ist noch immer diesem Denken verhaftet.   Im Vergleich damit erscheint die AKP vielen Menschen fortschrittlicher. Die CHP ist also keine wirkliche Opposition. Die wirkliche Opposition ist die kurdische BDP (Partei für Frieden und Demokratie) , die einen Block mit einigen Linken gebildet hat. Neben der BDP gibt es im Parlament keine linke Arbeiterinnenopposition. Die Linke wurde im 1980er-Putsch von den Panzern überrollt. Von dem hat sie sich nicht mehr richtig erholt. Nachdem sich die Linke wieder etwas erholt hatte, wurde sie 1989 unter den Trümmern der Berliner Mauer begraben. 1994 gründete sich die Linke neu. Die Mehrheit der Linken vereinigte sich in der ÖDP,  aber auf Grund einiger Probleme brach sie in schlimmster Form auseinander. Nachher hat sich die Linke wieder zersplittert und wurde weiter geschwächt. Daher haben sie keine Verbindungen zur ArbeiterInnenklasse und werden das auch in nächster Zeit nicht haben. Zugleich ist die ArbeiterInnenklasse geschwächt auf Grund der Gewerkschaftspolitik. Früher gab es die DISK – eine sozialistische Gewerkschaftsföderation, die heute ebenso geschwächt ist. Die größte Föderation, Türkis, ist eine gelbe Gewerkschaft, die sich immer mit der Regierung verständigt hat. Die Plattform „Arbeit“ ist die Zusammenkunft aller Gewerkschaften, um Aktionen gegen die neuen neoliberalen, prekären Arbeitsverhältnisse zu unternehmen: Demonstrationen nach Ankara, Kundgebungen usw., ohne politische Ziele und Wirkung.

 

Für die  letzten Wahlen am 12. Juni 2011 bildete die Massenpartei BDP mit Linken einen Block „Für Arbeit, Freiheit und Demokratie“. Dieser Block wurde als echte Opposition gesehen. Sie machten eine gute Kampagne und erhielten mehr Stimmen als erwartet. Die BDP ist nun mit 36 Abgeordneten im Parlament vertreten. Ich habe die BDP ebenfalls als echte Opposition verstanden, aber inzwischen muss gesagt werden, dass die BDP sich nicht bewährt hat. Sowohl in der Kurdenfrage als auch in der türkischen Linken, ArbeiterInnen- und Friedensbewegung könnte sie sich breiter und wirksamer einsetzen. Inzwischen hat sich der BDP-Block als „Demokratiekongress der Völker“ konstituiert. Dessen Chance ist nicht völlig vertan. Wenn er sich nicht allein auf die kurdische Frage konzentriert, sondern auch die Fragen der ArbeiterInnenbewegung und die Schwäche der Regierung in seine Politik einbezieht, könnte der Block ein politischer Faktor werden. Einerseits haben wir diese Kritik, wollen ihm aber unsere Unterstützung nicht entziehen.

 

Es gibt mehrere Gründe, warum der Block innerhalb der letzten sechs Monate nicht erfolgreich war: Der erste Grund war meiner Meinung nach, dass sie keine Visionen zukünftiger Politik besaßen. Zweitens gibt es ein Missverhältnis, dass die kurdische Bewegung viel stärker vertreten ist als die türkische Linke und ArbeiterInnenbewegung. Daher gibt es im Block keine kritische Unterstützung von türkischer Seite, sondern mehr eine anpasslerische Zusammenarbeit. Eine (nicht-kurdische)  kritische Unterstützung für die KurdInnen ist notwendig, damit sich der Block anderen gesellschaftspolitischen Fragen öffnet. Wenn es das nicht gibt, dann beschränken sich die Kurdinnen im Block weiterhin auf die Probleme der kurdischen Bevölkerung. Daher sind sie auch nicht fähig, eine richtige Friedenspolitik mit entsprechenden Argumenten zu entwickeln. Zum Beispiel, kurz nach der Wahl gab es einige militante PKK-Aktionen, die heftige Aktionen ausgelöst haben. Viele türkische Militärs sind bei diesen Angriffen umgekommen. Das war ein Wendepunkt. Der kurdisch-linke Block hat sich dazu kaum geäußert. Es wäre seine Chance gewesen, für eine neue(!) Friedenspolitik diese PKK-Aktionen als unzweckmäßig zu kritisieren. Außerdem hat der Block auch zu den sozialen Problemen der ArbeiterInnenklasse kaum Stellung bezogen. Auf diese Kritik werden VertreterInnen des Blocks darauf hinweisen, dass sie ohnehin im Parlament und auf Pressekonferenzen sich zu diesen Vorfällen geäußert und Gesetze eingebracht hätten. Dies genügt aber nicht, denn wichtiger wäre gewesen, dass der Block die einfachen BürgerInnen mit Argumenten für eine neue Friedenspolitik erreicht hätte. Viele Menschen hatten den Block in der Hoffnung für eine Wende in der Friedenspolitik gewählt.