Italien: Die wunderliche Welt des Beppe Grillo (akin / WSWS)

Zur politischen Bedeutung der Fuenf-Sterne-Bewegung

Die Ursachen und die Folgen des Erfolgs der Fuenf-Sterne-Bewegung von
Beppe Grillo bei den juengsten italienischen Wahlen erfordern eine
sorgfaeltige Analyse. Das 2009 gegruendete MoVimento 5 Stelle (M5S)
hat auf Anhieb einen Viertel aller Stimmen gewonnen und ist im
Abgeordnetenhaus staerkste Einzelpartei geworden.

Viele Arbeiter und Angehoerige der Mittelschichten haben aus
Opposition gegen den Sparkurs der Regierung Monti sowie gegen die
verbreitete Korruption der etablierten Parteien fuer das M5S gestimmt.
Grillos Programm steht allerdings in krassem Widerspruch zu ihren
Klasseninteressen. Sie werden schnell merken, wie rechts seine Politik
tatsaechlich ist.

Um Grillos Aufstieg zu verstehen, muss man zwei Dinge
beruecksichtigen: Die tiefe Krise des italienischen und europaeischen
Kapitalismus und den voelligen Bankrott der traditionellen „linken“
Parteien.

Die Austeritaetspolitik, mit der die herrschende Klasse Europas die
Folgen der Finanzkrise 2008 auf die Masse der Bevoelkerung abwaelzt,
zeigt auch in Italien verheerende Folgen. Unter Mario Monti, der Ende
2011 als Vertrauensmann der internationalen Banken die Fuehrung der
Regierung uebernahm, ist die Industrieproduktion in einem Jahr um 5,4
Prozent gesunken. Die Regierung Monti hat das Renteneintrittsalter
erhoeht, Arbeitnehmererrechte abgebaut und Arbeiter und
Mittelschichten mit hohen Steuern belastet. Die Arbeitslosenrate ist
von 8 auf 11 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar von 30 auf 37
Prozent gestiegen. Die Zahl der Armen hat sich, bei 60 Millionen
Einwohnern, von 9 auf 10 Millionen erhoeht.

Die Nachfolgeorganisationen der einst einflussreichen Kommunistischen
Partei haben Montis Politik nichts entgegengesetzt. Im Gegenteil, die
Demokratische Partei Pier Luigi Bersanis war Montis wichtigste und
zuverlaessigste Stuetze. Seit das italienische Parteiensystem vor
zwanzig Jahren in einer Flut von Korruptionsskandalen implodierte,
haben die KP-Nachfolger immer wieder Technokraten-Regierungen
getragen, die die sozialen Errungenschaften der Arbeiter massiv
angriffen.

Die Partei Rifondazione Comunista (PRC), die ebenfalls aus der
Kommunistischen Partei hervorgegangen ist und das gesamte pseudolinke,
kleinbuergerliche Milieu des Landes in ihre Reihen aufgenommen hat,
spielte eine noch ueblere Rolle. Sie bezeichnete sich als linke
Alternative zu den Demokraten, verschaffte deren arbeiterfeindlichen
Politik aber regelmaessig die erforderliche parlamentarische Mehrheit.
Mit dem Eintritt in die Regierung von Romano Prodi, eines Vorgaengers
von Mario Monti, diskreditierte sie sich 2006 endgueltig.

Grillo ist in das Vakuum vorgestossen, das die Demokraten und
Rifondazione hinterlassen haben. Er hat die Wut, Empoerung und
Frustration ueber alle politischen Parteien und die Europaeische Union
ausgebeutet und versucht, sie fuer seine Zwecke zu
instrumentalisieren.

Die Waehler des M5S stammen aus sehr unterschiedlichen sozialen
Schichten. Neben Mitgliedern der oberen und unteren Mittelschicht
haben es auch viele Arbeiter unterstuetzt, die frueher traditionell
„links“ waehlten.

Besonders erfolgreich war das M5S unter jenen 20- und 30-Jaehrigen,
die in Italien als „Generation 1000 Euro“ und in Deutschland als
„Generation Praktikum“ bezeichnet werden – unter jungen, gut
gebildeten Akademikern, die sich nach dem Studium von Praktikum zu
Aushilfsjob und Projektvertrag hangeln, hoechstens 1.000 Euro im Monat
verdienen und keine Aussicht auf einen regulaeren, vernuenftig
bezahlten Arbeitplatz haben.

Die 160 Senatoren und Abgeordneten des M5S entstammen groesstenteils
diesem Milieu. Mit 37 Jahren sind sie im Schnitt um zwanzig Jahre
juenger als die uebrigen Parlamentarier. Dafuer ist der
Akademikeranteil mit neun Zehnteln ueberdurchschnittlich hoch.

Das Programm des M5S

Grillos Auftreten ist stark auf diese jungen, gebildeten Schichten
ausgerichtet. Mit seinen heftigen Angriffen auf die Korruption und
Selbstbedienungsmentalitaet der gesamten politischen Kaste trifft er
die Stimmung einer Generation, die alle politischen Parteien,
einschliesslich der angeblich „linken“, nur als Verteidiger von
Kapitalinteressen erlebt hat.

Viele seiner Forderungen hat das M5S kleinbuergerlichen
Protestbewegungen entlehnt, die ebenfalls unter Studenten und
Akademikern Anklang finden – der Umwelt- und der Occupy-Bewegung sowie
den Piraten. So tritt es fuer eine oekologische Energiewende und
umfangreiche Massnahmen zur Verringerung des CO2-Austosses ein. Es
fordert den Stopp von Grossprojekten wie der Bruecke vom Festland nach
Sizilien und der Schnellbahnstrecke von Turin nach Lyon. Der
motorisierte Privatverkehr in Staedten soll bestraft und die
Infrastruktur fuer den oeffentlichen Nahverkehr und fuer Fahrraeder
ausgebaut werden.

Der Wirtschaftsteil und eigentliche Kern des Programms ist dagegen
unmissverstaendlich rechts. Unter dem Mantel des Kampfs gegen
Korruption, Monopole und Buerokratie tritt es fuer einen historischen
Angriff auf die Arbeiterklasse und den gesamten Rahmen des
Sozialstaats der Nachkriegszeit ein. Waehrend es sich scheinbar gegen
die korrupte politische Kaste wendet, sind sein wirkliches Ziel die
sozialen Errungenschaften der italienischen Arbeiterklasse.

So sollen im Namen des Kampfs gegen Verschwendung und ueberfluessige
Buerokratie Hunderttausende oeffentliche Arbeitsplaetze abgebaut
werden, ohne die Macht des buergerlichen Staats zu schmaelern. Unter
anderem will das M5S saemtliche Provinzen abschaffen und alle
Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern aufloesen.

Auch viele staatliche Aufsichtsbehoerden sollen aufgeloest werden, was
einer weiteren Deregulierung und Privatisierung den Weg ebnet. Im
Bildungsbereich wird mit der Forderung nach einer engeren Integration
von Universitaeten und Unternehmen die Privatisierung vorangetrieben.
Im Medienbereich will das M5S nur einen oeffentlichen Fernsehkanal
erhalten, was das Recht auf Information empfindlich einschraenken
wuerden.

Unter dem Vorwand, die oeffentliche Gesundheitsversorgung zu erhalten,
will das M5S den Zugang zu medizinischen Leistungen einschraenken. Es
fordert „Zuzahlungen fuer nicht essentielle Leistungen“ und eine
Einschraenkung der „sekundaeren Praevention (Vorsorgeuntersuchung,
Frueherkennung, praediktive Medizin)“ zugunsten der
„Primaerpraevention (gesunde Ernaehrung, koerperliche Aktivitaet,
Raucherentwoehnung)“.

Sehr stark werden im Wirtschaftsprogramm die Interessen kleiner und
mittlerer Unternehmer betont, die sowohl die Arbeiterklasse wie die
grossen Monopole als Gegner betrachten. Neben der Aufloesung von
privaten Monopolen wie Berlusconis Mediaset-Konzern und von
staatlichen Monopolen wie der Eisenbahn findet sich darin die
Forderung nach einer Deckelung von Managergehaeltern, nach der
Entflechtung von Banken und Unternehmen, nach der Staerkung der
Stellung kleiner Aktionaere und nach der Foerderung der Produktion
fuer den heimischen Markt.

Gezielte Spaltung der Arbeiterklasse

Grillo versucht sehr gezielt, die Arbeiterklasse zu spalten, indem er
Jugendliche ohne Zukunft, verarmte Schichten und Kleinunternehmer
gegen aeltere Arbeiter und oeffentliche Beschaeftigte ausspielt. In
einem Blog vom 26. Februar, der das Wahlergebnis kommentiert, spricht
er das unmissverstaendlich aus.

Danach gibt es in Italien „zwei soziale Bloecke“. Block A, der
ueberwiegend M5S gewaehlt habe, bestehe „aus Millionen Jugendlichen
ohne Zukunft, mit einer prekaeren Beschaeftigung oder arbeitslos, oft
mit Studienabschluss, die sich fuehlen, als wuerden sie unter einer
Decke leben“. „Diese jungen Menschen“, so Grillo, „suchen einen
Ausweg, sie selbst wollen zu Instituierenden werden, den Tisch
umwerfen, ein Neues Italien aus Ruinen erschaffen.“

Zu Block A zaehlt er auch „die Ausgeschlossenen, die Ausgesteuerten,
die die eine Hungerrente beziehen sowie die kleinen und mittleren
Unternehmer, die unter einem Regime der Steuerpolizei leben, ihr
Unternehmen schliessen muessen oder sich aus Verzweiflung selbst
umbringen“.

Block B besteht dagegen aus jenen, „die den Status quo beibehalten
wollen, die die Krise seit 2008 mehr oder weniger unverletzt
ueberstanden haben, in dem sie ihre Kaufkraft erhalten konnten, aus
einem Grossteil der staatlichen Bediensteten, aus denen, die eine
Pension ueber 5.000 Euro brutto je Monat beziehen, aus den
Steuerhinterziehern, aus dem immensen Kreis an Personen, die Politik
als Lebensgrundlage betreiben und ihr Einkommen unmittelbar aus
Kommunalbetrieben, Konzessionen und Staatsbeteiligungen beziehen.“

Die Spaltung der Gesellschaft verlaeuft laut Grillo nicht zwischen der
Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, sondern zwischen diesen beiden
Bloecken. Gruppe A wolle Erneuerung, Gruppe B Kontinuitaet. Gruppe A
habe nichts zu verlieren, Gruppe B wolle nichts loslassen, habe „oft
zwei Wohnungen, ein annehmbares Girokonto und eine gute Rente oder die
Sicherheit einer oeffentlichen Anstellung“.

Es zeichne sich „ein Generationenkonflikt ab, in dem es statt um
Klassen um das Alter geht“. Die junge Generation trage die Last der
Gegenwart, ohne eine Zukunft zu haben. Es koenne nicht erwartet
werden, dass sie das noch lange tun werde. „Jeden Monat“, schreibt
Grillo, „muss der Staat 19 Millionen Renten und 4 Millionen
Staatsgehaelter auszahlen. Diese Last ist nicht mehr tragbar.“ Der
Status quo koenne nur mit neuen Steuern und einer groesseren
oeffentlichen Verschuldung erhalten werden. Das aber sei eine
teuflische Maschinerie, die die Ressourcen des Landes austrockne.

In diesen Zusammenhang stellt Grillo das bedingungslose Grundeinkommen
von 1.000 Euro, das oft als sozialistisches Element im Programm des
M5S betrachtet wird. Tatsaechlich soll es an die Stelle der bisherigen
Renten und Staatsgehaelter treten und diese auf das Existenzminimum
reduzieren.

Unterstuetzung durch Unternehmer

Grillo selbst gehoert nicht zu jenem Block A, den er gegen staatliche
Angestellte und sozial abgesicherte Arbeiter mobilisieren will. Er
zaehlt zu den reichsten Einwohnern Italiens. Im Jahr 2005, in dem die
Daten veroeffentlicht wurden, versteuerte er ein Jahreseinkommen von
4,3 Millionen Euro. Dabei gilt er nur als Lautsprecher und nicht als
eigentlicher Kopf der Bewegung. Diese Rolle wird Gianroberto
Casaleggio zugeschrieben, einem wohlhabenden IT-Unternehmer aus
Mailand, der oeffentlich kaum in Erscheinung tritt und als graue
Eminenz im Hinterrund agiert.

Sein 2004 gegruendetes Kommunikations-Unternehmen Casaleggio Associati
ist gut vernetzt. In seiner Fuehrung sass bis vor kurzem auch Enrico
Sassoon, langjaehriger Chef der amerikanischen Handelskammer in
Italien und Chefredakteur der Harvard Business Review Italia. Im
September letzten Jahres zog sich Sassoon mit der Begruendung aus
Casaleggios Unternehmen zurueck, er wolle Grillo durch moegliche
Enthuellungen ueber seine Beziehungen zum US-Establishment keinen
Schaden zufuegen.

Casaleggio und Grillo fuehren das M5S streng autoritaer wie ein
privates Unternehmen. Waehrend sie oeffentlich die „direkte
Demokratie“ und die ueber das Internet und oertliche
Mitgliederversammlungen stattfindende Meinungsbildung preisen, gibt es
keine demokratischen Strukturen. Alle personellen und programmatischen
Entscheidungen werden von ihnen persoenlich getroffen.

In der Satzung des M5S, die offiziell „Nicht-Satzung“ heisst, wird
Grillos totale Kontrolle ueber die Organisation ausdruecklich
festgelegt. Ursprung, Zentrum und Sitz der Organisation ist der Blog
www.beppegrillo.it. Zweck des M5S die Aufstellung und Wahl von
Kandidaten, „die die sozialen, kulturellen und politischen
Aufklaerungskampagnen von Beppe Grillo umsetzen werden“ (1). Und der
Name „MoVimento 5 Stelle“ sowie das Logo der Organisation sind „auf
den Namen von Beppe Grillo registriert als alleinigem Inhaber aller
Nutzungsrechte“. Regionale und nationale Gremien gibt es nicht, und
damit auch keine Moeglichkeit, Grillo zu kontrollieren oder zur
Einhaltung von Parteibeschluessen zu verpflichten.

Viele italienische Unternehmer haben verstanden, das Grillo durchaus
ihre Interessen vertritt. Einige, wie der 77-jaehrige Milliardaer und
Luxottica-Gruender Leonardo Del Vecchio, haben sich offen zu Grillo
bekannt. Der Stahlunternehmer Francesco Biasion aus Vicenza sagte, er
habe das M5S gewaehlt, weil „die Unternehmen heute im Griff der
Buerokratie und der Gewerkschaften“ seien.

Die Sueddeutsche Zeitung kommentiert das unter der Ueberschrift
„Grillonomics“ mit den Worten: „Waehrend die meisten Waehler Grillo
ihre Stimme geben, weil sie einen Ausbruch aus den sklerotischen
Strukturen ihres Landes ersehnen, verfaengt in der Wirtschaft die
Aussicht, von den Fesseln eines aufgeblaehten Staates erloest zu
werden.“

Auch die deutsche aussenpolitische Zeitschrift IP ist der Ansicht,
dass Grillos Erfolg „eine Chance fuer Italien und Europa“ biete. Falls
es zu einem Buendnis der „Grillini“ mit den Demokraten komme, koenne
Bersani jene Reformen anpacken, die das Land wirklich brauche –
„strengere Gesetze gegen Korruption, Steuerhinterziehung und
Wirtschaftskriminalitaet“, „eine Liberalisierung der Berufswelt“ und
„eine Aufhebung der mehr oder weniger versteckten Monopole und
ueberfluessigen Kontrollinstanzen, die die Wirtschaft laehmen“.
„Ausserdem muesste Bersani unter dem Druck der ‚Grillini’ einen
strikten Sparkurs fahren.“

Waehrend Bersani um die Unterstuetzung Grillos wirbt, hat dieser
bisher gezoegert, den Demokraten eine Zusammenarbeit zuzusagen. Er
rechnet mit einem baldigen wirtschaftlichen Zusammenbruch Italiens,
wie er dem deutschen Magazin focus erklaerte: „Ich gebe den alten
Parteien noch sechs Monate – und dann ist hier Schluss. Dann koennen
sie die Renten nicht mehr zahlen und auch die oeffentlichen Gehaelter
nicht mehr.“

Unter solchen Bedingungen rechnet sich Grillo offenbar bessere Chancen
aus, seine Kahlschlagplaene im oeffentlichen Dienst zu verwirklichen.
(Marc Wells und Peter Schwarz, World Socialist Web Site / gek.)

Originaltext: http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/09/gril-m09.html

(1) Anm. akin: Diese Passage erscheint unglaubwuerdig, aber es steht
wirklich so bei Beppe Grillo (auf italienisch natuerlich) nachzulesen.
Immerhin besteht aber die Moeglichkeit, dass es sich dabei um eine
bewusste Karikatur von Politik handelt:
http://www.beppegrillo.it/iniziative/movimentocinquestelle/Regolamento-Movimento-5-Stelle.pdf