Mein Interesse fuer den in der vorletzten akin publizierten Text der SLP bezieht sich nicht auf die in ihm skizzierte Programmatik als solche, sondern nur auf eine darin zum Ausdruck kommende Form von gesellschaftskritischer Radikalitaet, mit der ich Pro-bleme habe. In diesem Sinne fokussiert der folgende Kommentar zu einigen Aspekten des in der akin (Nummer 18) veroeffentlichten Textes nicht auf das Forderungsprogramm selbst, sondern auf die von ihm signalisierte politische Haltung.
Radikalitaet und Maximalismus
Die SLP fordert in jedem Politikbereich das Maximum und will damit offenbar zeigen, dass sie die radikalste aller Parteien ist. Die durchschnittliche Wohnkostenbelastung der Einkom-men von Mieterhaushalten liegt aktuell weit ueber 20% – die SLP befielt eine Senkung auf hoechstens 10%. Die uebrigen Parteien gehen mit Mindestlohnforderungen zwischen 1.400 EUR (KPOe) und 1.600 EUR (FPOe) in den Wahlkampf, die SLP deklariert, dass 1.700 EUR her muessen. Bei mir entsteht der Eindruck, dass die ProgrammautorInnen hier auf die in der buergerlichen Demokratie regierende Logik des Konkurrenzkampfs der politischen Angebote hereinfallen: Man beteiligt sich am Marktgeschrei, um gekauft (sprich: gewaehlt) zu werden.
Radikalitaet und Reflexion
Die etablierten Parteien begruenden ihre Forderungen nie bloss mit der Bedienung der Inter-essen ihrer eigenen Klientel, sondern reflektieren stets auch die jeweiligen Effekte fuer das Gesamtsystem mit. Die SPOe etwa betont bei ihren einkommensbezogenen Forderungen die Kaufkraftrelevanz der Masseneinkommen, und ihre bildungspolitischen Anliegen werden mit der besseren Ausschoepfung des in der Volkswirtschaft vorhandenen Begabungspotentials legitimiert. In Analogie dazu muesste auch eine radikale, d.h. nicht an der Optimierung son-dern Ueberwindung des herrschenden Wirtschaftssystems orientierte Partei die Systemeffekte ihrer Forderungen mitreflektieren. Diese bestehen aber oft in einer Vertiefung der System-widersprueche, welche dann zu weiteren Forderungen fuehrt, bei denen sich dasselbe Spiel auf hoeherer Ebene wiederholt, usw., usw.
Ein wirklich radikales Programm muesste die angesprochene Widerspruchsdynamik themati-sieren und signalisieren, dass man bereit ist, sich von ihr immer weiter zu treiben zu lassen, um schliesslich alle von den aktuellen Herrschafts- und Eigentumsverhaeltnissen gesetzten Schranken zu ueberschreiten. Bei der erwaehnten Mindestlohnforderung der SLP vermisse ich entsprechende Hinweise auf die von ihr tangierten Systemwidersprueche. Da wird einfach deklariert, dass ein Mindestlohn von 1.700 EUR einzufuehren sei, ohne auf die makrooekonomi-schen und betriebswirtschaftlichen Folgen der Realisierung dieses Anliegens einzugehen. Das Programm faellt daher in reflexiver Hinsicht sogar hinter die Programmatik der eta-blierten Parteien zurueck.
Gleichsam als Kompensation fuer das Fehlen der Reflexion auf die Widerspruchsdynamik von Forderungen fluechtet man sich in ein uebermenschlich grosses Mass an Kaempfertum: Auf den zwei Seiten des Programms begegnen die LeserInnen nicht weniger als dreizehn Mal Woer-tern mit Bezug auf ‘Kampf’ oder ‘Kaempfen’.
Radikalitaet und Sachkenntnis
Einige Passagen des vorliegenden Programms sind nicht nur durch das eben angesproche-ne Reflexionsdefizit gekennzeichnet sondern weisen auch auf grosse sachliche Unkenntnis hin. Ich moechte das am Beispiel der bereits erwaehnten Forderung einer maximal 10%igen Belastung der Einkommen durch Wohnkosten belegen:
Die Durchschnittsbelastung der Haushalte durch Wohnkosten ist in den letzten Jahren tatsaechlich stark gestiegen, was natuerlich scharf zu kritisieren ist. Das draengendste Pro-blem bei den Wohnkosten besteht aber nicht in der zu hohen Durchschnittsbelastung aller Mieter, sondern in den im Programm unerwaehnt bleibenden Spaltungen des Woh-nungsbestands in Sektoren mit unterschiedlich hoher Belastung.
Eine der wichtigsten diesbezueglichen Spaltungen betrifft Alt- und Neumieter von privaten Mietwohnungen. Hier gaelte es Forderungen zu entwickeln, die Alternativen zu der von den Vermietern ge-wuenschten Lockerung der Preisbindung bei Altmietvertraegen aufzeigen.
Viele Ursachen des Anstiegs der Wohnkostenbelastung liegen ausserhalb der eigentli-chen Wohnungspolitik. Man denke nur an die Effekte der Grundstueckspreise, und damit der Bodenpolitik, oder an die Auswirkungen von Geld- und Finanzpolitik auf das Niveau der Zinsen und das Volumen der fuer den Wohnbau zur Verfuegung stehenden Foerdermit-tel. All diese maechtigen oekonomischen Einfluesse werden bei der Forderung einer drasti-schen Senkung der durchschnittlichen Wohnkostenbelastung nicht einmal erwaehnt. Wenn man sich ueberlegt, an wie vielen dieser Schrauben zu drehen waere, damit die Durchschnittsbelastung aller Haushaltseinkommen auch nur um einige wenige Prozent-punkte sinkt, verweist die forsche Forderung einer Reduktion um weit mehr als 10 Pro-zentpunkte eher auf mangelndes Problembewusstsein als auf mutige Entschlossenheit.
Im Kontext der Kritik an der zu hohen Wohnkostenbelastung unterscheidet das vorlie-gende Wahlprogramm zwischen gutem Gemeindewohnungsbau und schlechter Foerde-rung von Genossenschaftsbauten. Diese Polarisierung geht voellig an den aktuellen Pro-blemen der Ballungszentren vorbei. Die bestehen naemlich darin, dass hier der wachsen-de Nachfrageueberhang auf einen Rueckgang der fuer Neubaumassnahmen bereit stehen-den oeffentlichen Mittel stoesst. Die Folge ist ein deutliches Sinken des Anteils des langfri-stig preiskontrollierten gefoerderten Wohnungsneubaues zugunsten eines entsprechend starker Anteilsanstiegs des fuer untere und mittlere Einkommensschichten kaum leistba-ren frei finanzierten Wohnbaues.
Mein Resuemee
Gesellschaftskritische Radikalitaet zeichnet sich nicht dadurch aus, dass Forderungen aufge-stellt werden, die besonders weit ueber das, was ist, hinausgehen. Radikal ist, wer sich durch den Erwerb von Sachkenntnis und die Entwicklung von vorurteilsloser Reflexionsbereitschaft sehr tief auf das Bestehende einlaesst, ohne ihm verhaftet zu bleiben.
*Karl Czasny*