Das ‚schlimmste’ Szenario für alle bosnischen PolitikerInnen scheint sich anzubahnen: ArbeiterInnen, Jugendliche und Arbeitslose haben sich gegen die korrupten PolitikerInnen aller führenden nationalistischen kroatischen, serbischen und bosnischen Parteien und das ganze faule System erhoben, mit dem diese herrschende Schicht das Land seit Kriegsende unter dem von USA und EU aufgezwungenen Dayton-Abkommen 1995 ausgeplündert hat.
Die gegenwärtige Welle von Massenprotesten, Demonstrationen und Angriffen auf Ministerien und die Büros der nationalistischen Parteien begann an 5. Februar in Tuzla. Die Protestierenden versammelten sich vor dem Gebäude der Bezirksregierung, nachdem etliche bankrotte Firmen die Entlassung von 10.000en ArbeiterInnen verkündet hatten – in einer Stadt mit 120.000 EinwohnerInnen! Sie forderten Entschädigungen und die Auszahlung von Beiträgen für Krankenvorsorge und Renten, nachdem die privatisierten Firmen, für die sie gearbeitet hatten, pleite gegangen waren. Zu ihrer Zusammenkunft stießen Arbeitslose, StudentInnen und Jugendliche hinzu.
Die Protestierenden besetzten Gebäude der lokalen Verwaltungen und forderten, dass die Funktionäre zu ihnen sprechen und ihnen Arbeitsplatzgarantien in den Firmen geben. Die PolitikerInnen brachten zwar ihre ‚Sympathie’ und ‚Verständnis’ zum Ausdruck, weigerten sich aber, konkrete Zusagen zu geben, ja mit den Protestierenden überhaupt zu sprechen. Daraufhin kam es zu Zusammenstößen von DemonstrantInnen mit der Polizei. Mindestens 10 Personen mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Das war der Funke, der eine landesweite Bewegung entzündete, besonders in den bosnisch/kroatischen Gemeinden. In den folgenden Tagen ereigneten sich Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei in den meisten Städten, so in Zenica, Bugojno, Casin, Bihaz, Banja Luka, Brzko, Mostar und auch in der Hauptstadt Sarajevo.
Wie in Tuzla, wo die Behörden sich weigerten, die Abordnungen der Protestierenden vorzulassen und damit die Stimmung gegen sich weiter anheizten, distanzierten sich auch etliche andere Mitglieder der politische Elite von den Massen. Alle bürgerlichen SpitzenpolitikerInnen schoben ihren jeweiligen Rivalen die Schuld an der ‚Manipulation’ der Bevölkerung zu, die ihrer Meinung nach ja sonst wenig Grund für Proteste gehabt hätte.
Suad Seljkovic, der Bezirksgouverneur von Sarajevo, gab ein besonders übles Beispiel für diese Mischung aus Ignoranz, Zynismus und Idiotie ab. Am Donnerstag, dem 6. Februar, sagte er: „In Sarajevo hat niemand Grund zu Unruhe und Aktionen wie diesen. Nicht ein Lohn ist unbezahlt, und kein Teil der Gesellschaft hat irgendeinen Grund zur Unzufriedenheit.“
Schon am nächsten Tag wurde er treffend widerlegt, als Tausende sich in der Hauptstadt versammelten und ihre tiefe Unzufriedenheit demonstrierten. Mehr als hundert von ihnen wurden durch den Polizeieinsatz verletzt. In Tuzla wurde das Bezirksregierungsgebäude niedergebrannt. Nach den ersten Protesttagen erklärten die Bezirksregierungen von Tuzla, Sarajevo und Zenica ihren Rücktritt.
Geeint durch Hunger und Armut
Die gesellschaftlichen Hintergründe für diese Proteste sind einfach erklärbar. Die überwältigende Mehrheit der Moslems, Kroaten und Serben in Bosnien leiden alle unter Armut und Hunger. 40% sind erwerbslos. Die Jugendarbeitslosigkeit erreichte bereits 2011 58%. Der Durchschnittsverdienst liegt bei 420 Euro im Monat.
Die Privatisierungen der vergangenen Jahrzehnte haben sich noch verheerender auf das Land ausgewirkt, das durch den blutigen Bürgerkrieg verwüstet und danach von der eigenen Elite und den europäischen und amerikanischen Imperialisten ausgeplündert worden ist. Die Privatisierung bedeutet meist nur den Aufkauf von Unternehmen durch neue Besitzer, die Auspressung der Altvermögen und Ressourcen, dann werden sie fallen gelassen. Die Nichtzahlung von Löhnen ist für viele ArbeiterInnen bereits zum Normalfall geworden.
Was in Tuzla geschah – die Androhung des Verlustes von 10.000 Arbeitsplätzen – ist kein Einzelfall, sondern typisch für die Lage. Entlassungen und Privatisierungen werden überall angekündigt. Das bedeutet nicht nur weitere Arbeitsplatzverluste; in Bosnien heißt das auch Verlust aller Sozialversicherungsrechte und -leistungsansprüche.
Das Elend trifft nicht nur die städtische Arbeiterklasse und die Mittelschicht, sondern auch die ländlichen Gegenden. Dort ist die Produktivität niedrig, die Schulden liegen hoch, und die Kredite sind teuer. Viele Bauern sind zur Eigenversorgungswirtschaft gezwungen – wie auch in anderen osteuropäischen Ländern.
ie Armut der Vielen geht Hand in Hand mit dem Reichtum der Wenigen. ArbeiterInnen verdienen nur wenige hundert Euro, ein Manager erhält dagegen 20.000 Euro Monatsgehalt für seine ‚Arbeit’.
Parasitäre Staatsstruktur und EU-Herrschaft
Das Land unterhält bei gerade einmal 3,8 Millionen EinwohnerInnen einen stark aufgeblähten Verwaltungsapparat. Nach dem Bürgerkrieg wurde das Land in zwei Halbstaaten geteilt, der bosniakisch-kroatischen Föderation mit etwa 2,4 Millionen Einwohnern und der serbischen Republik mit 1,3 Millionen. Der Distrikt von Brzko steht unter direkter föderaler Kontrolle. Ferner existieren 10 Bezirke, die auch noch ihre eigenen ‚Parlamente’ und ‚Regierungen’ haben.
Auf nationaler Ebene gibt es ein Zweikammer-Parlament aus dem föderalen Parlament und der Volkskammer sowie ein Präsidium mit VertreterInnen jeder Nationalität, dessen Vorsitz alle 8 Monate wechselt.
All dies häuft sich zu einer weitverzweigten Struktur, einer Vielzahl von Regulierungen. Zusätzlich verlangt das Dayton-Abkommen, auf dem dieses Konstrukt basiert, die automatische Repräsentanz von nationalen Parteien, selbst wenn sie keinen Sitz bei Wahlen erlangt haben.
Von daher haben die großen nationalen Parteien und ein paar ‚sozialdemokratische’ Entsprechungen die Ämter und politischen Einflusssphären seit zwei Jahrzehnten unter sich aufgeteilt. Wahlen sind praktisch nichts anderes als der Zugang zu Prüden und Vermögen. Die Abgeordneten bekommen z.B. ein Anfangssalär von 3.200 Euro, also das Mehrfache eines Arbeiterdurchschnittslohns.
Deshalb überrascht es kaum, dass keine der etablierten politischen Parteien dieses System ändern will, denn es sichert ihnen und ihrer Klientel Wohlstand.
Die andere Hauptwirkung dieses Systems ist die Lähmung des Landes. Jede größere Reform kann leicht auf verschiedenen Ebenen blockiert werden. Nur Veränderungen wie Privatisierungen, die die gemeinsame Ausplünderung durch Kapitalisten und bürgerliche Parteien in Aussicht stellen, werden in Gang gesetzt.
Doch die diesem System innewohnende Korruption und die politischen Parteien, die den Staatsapparat unter sich aufgeteilt haben, sind keine bosnische Erfindung. Sie sind Resultat des Dayton-Abkommens, das durch NATO, UNO, USA und EU nach dem Krieg 1995 durchgedrückt wurde.
Die Westmächte haben dieses System eingerichtet, das sie nun den Bosniern anlasten. 1997 wurde zusätzlich eine Kontrollinstanz inthronisiert, das ‚Amt des Hohen Repräsentanten’, das die UNO repräsentiert und die Durchführung des Dayton-Abkommens überwacht.
Zur Zeit hat der österreichische Diplomat Valentin Inzko diesen Posten inne. Er hat die Befugnis, alle Entscheidungen von bosnischen Institutionen zu annullieren. Er kann auch gewählt Repräsentanten des Landes entlassen, Gesetze und Verwaltungseinrichtungen einführen, wenn ihm dies notwendig erscheint.
Inzkos Macht ist sehr spürbar. In Fällen, wo bosnische PolitikerInnen und Institutionen sich gegenseitig lähmen, was nicht selten vorkommt, kann und macht er Gebrauch davon, politische Entscheidungen für das ganze Land zu treffen.
Sein Amt ist eng verbunden mit der 1.000 Mann starken Auslandstruppe EUFOR, die die EU seit 2004 aufgestellt hat. Sie übernahm die Verantwortung für die ‚Sicherheit’ von der NATO.
Bosnien ist also ein UN-Protektorat, verwaltet von der EU, praktisch eine EU-Kolonie. Die überbewertete Landeswährung ist an den Euro zu festen Kursen gekettet. Eine der wenigen Entscheidungen, die die bosnische Föderalregierung treffen durfte, war die Zustimmung zum Kürzungsprogramm des Internationalen Währungsfonds (IWF), das mit einem Einfrieren des Haushalts, weiteren Einschränkungen für den Verbrauch und einem Anstieg der Staatsverschuldung verbunden war. Wie der IWF in seinem jüngsten Länderbericht selbst sagt, wird keine dieser Vorgaben den Wohlstand wiederherstellen oder die Einkünfte vermehren. Stattdessen sollen das Rentenalter gesetzlich heraufgesetzt, die Arbeitsflexibilisierung gesteigert und die Privatisierungspolitik fortgesetzt werden.
Heuchlerisch, wie Imperialisten sind, erklärte Inzko die Proteste für ‚gerechtfertigt’, Jedoch schiebt er dies nicht auf das aufgezwungene politische System, sondern auf die ‚Inkompetenz’ und Korruptheit der bosnischen Parteien. Welche Tragödie! Von Afghanistan bis Bosnien werden die wohl erwogenen Pläne der Imperialisten zur Schaffung ‚neuer demokratischer Ordnungen’ durch die Gier und Kurzsichtigkeit ihrer Marionetten sabotiert!
Im selben Interview machte Inzko auch deutlich, dass er das System verteidigen will. Wenn die bosnische Polizei und Militäreinheiten sich als unfähig erweisen sollten, die Ordnung aufrecht zu erhalten und „wenn der Hooliganismus andauert, könnten EUFOR-Truppen gefordert sein zu intervenieren“, drohte er.
Ob aber Inzkos Befehlsgeber in Berlin und Paris so versessen darauf sind, mehrere tausend Soldaten nach Bosnien zu entsenden, um den Arbeiterprotest zu ersticken, ist fraglich. Dies würde auch den Rest der demokratischen Fassade bei Millionen Menschen auf dem Balkan zerstören und eine massive Ausweitung der Proteste und Solidarisierung in Osteuropa und darüber hinaus riskieren. Wir sollten jedoch die Bereitschaft der EU und der USA, offen zu intervenieren, keine Sekunde unterschätzen, falls die Massendemonstrationen und Aktionen sich zu einer vorrevolutionären oder gar revolutionären Lage zuspitzen.
Die bosnischen Proteste bedrohen nicht nur die Herrschaft der reaktionären Parteien im Land und deren Klientelsystem, sondern die gesamte, vom Imperialismus erzwungene Ordnung und Herrschaft über das Land.
Wie vom 8. Februar an zu beobachten war, begann die Polizei nicht nur gegen Protestierende auf den Straßen vorzugehen, sondern hat auch bedeutende Führer des Protests wie Aldin Siranovic von Udar in Tusla verhaftet und verprügelt, was wiederum zu einer weiteren Protestdemonstration mit etwa 6.000 TeilnehmerInnen führte.
Entwicklung der Proteste und ihre Forderungen
Die Proteste in Tusla wurden nicht von bestehenden Massenorganisationen geführt. Dennoch waren sie keine isolierten oder völlig spontanen Ausbrüche. Bereits im vergangenen Sommer gab es in Sarajevo Unruhen nach dem Tod eines Kindes, das nicht zur Behandlung ausgeflogen werden konnte, weil seine Eltern keinen Pass erhielten.
Nun hat dieser Zorn das ganze Land erfasst. Die Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina ist im Hunger ‚vereint’, wie es eine der Führerinnen der Bewegung, die Wirtschaftswissenschaftlerin Svetlana Cenic aus Banja Luka, ausdrückte: „Es ist der Albtraum der politischen Eliten, dass die Leute sich in Protesten zusammenschließen. Sie werden der Bevölkerung von Banja Luka sagen, dass sie nicht die von Sarajevo unterstützen können und umgekehrt.“
Sie hat völlig recht: Es gibt keine Garantie, dass nicht etwa Nationalisten u.a. Demagogen es schaffen könnten, die Bewegung auf Abwege zu führen oder sie zu spalten. Die Größe dieser Gefahr ist an der Tatsache abzulesen, dass die Proteste bislang im serbischen Landesteil viel schwächer ausfallen, wo in Städten wie Banja Luka nur einige Hundert zu den Kundgebungen kamen.
Nichtsdestotrotz erhebt sich die Bewegung eindeutig über nationale Schranken hinweg und sogar über die bosnischen Grenzen hinaus. In den letzten Tagen kam es zu Solidaritätsaktionen in Kroatien, Serbien und auch zu ersten Protesten in Montenegro, die durch die Vorfälle in Bosnien ermuntert wurden.
Von Anfang an haben DemonstrantInnen und AktivistInnen ihre Forderungen und Losungen vorgebracht. Obschon sie im Einzelnen von Stadt zu Stadt sich unterscheiden mögen und die Nachrichten darüber noch spärlich sind, haben sie dennoch einige Gemeinsamkeiten.
Die Kernforderungen sind: keine weiteren Privatisierungen, eine Wiederverstaatlichung von privatisierten Unternehmen, Beschlagnahme des Vermögens aus ‚krimineller Privatisierung’ sowie Arbeit und Sozialversicherung für alle.
Darüber hinaus wird auch der Rücktritt von Regierungen auf Bezirks- und Bundesebene gefordert, sofern sie nicht schon zurückgetreten sind, ein Ende der Bereicherung von Staatsbeamten, Kürzung von Gehältern und Ausgaben für die Staatsverwaltung, Angleichung der Löhne und Einkommen im privaten und öffentlichen Sektor sowie die Abschaffung der kantonalen Strukturen und das Verbot von nationalistischen und religiösen Parteien.
Es überrascht jedoch nicht, dass einige der Forderungen auch die Unreife und Illusionen der Bewegung zum Ausdruck bringen, d. h. einen Mangel an politischer Führung offenbaren. Die ‚Erklärung der Arbeiter und Einwohner des Tuzla-Kantons’ vom 7. Februar etwa ruft auf zur „Zusammenarbeit mit der Bevölkerung, mit Polizei und Zivilschutz (auf), um jede Kriminalisierung, Politisierung und Manipulation der Proteste zu vermeiden.“
Perspektiven und Programm
Es ist augenscheinlich schwierig, Geschwindigkeit und Vorankommen des bosnischen Kampfes vorauszusagen. Aber es ist klar, dass diese Bewegung anders als manch andere in Osteuropa in den vergangenen Jahren tief in der Arbeiterklasse verankert ist.
Die meisten ihrer Hauptforderungen richten sich gegen die Kapitalisten und die bürgerliche und pro-IWF-Politik der verschiedenen Regierungen und politischen Parteien. Das drückt sich auch in vielen Losungen gegen ‚Politik’, ‚PolitikerInnen’ und ‚regierende Parteien’ aus. Daraus geht unmissverständlich hervor, dass für die bosnischen ArbeiterInnen, Jugendlichen und Bauern Politik ein schmutziges Geschäft ist.
Der andere wichtige Umstand ist der internationale Charakter der Bewegung. Sie weist die nationalistischen Parteien zurück, die die Arbeiter und Armen Jahrzehnte lang mit nationalistischen Lügen gespalten haben und sich dadurch bereichern konnten.
Wie in anderen Balkan-Ländern, v. a. in Bulgarien, erleben wir nun den Aufstieg einer neuen Militanz in der Arbeiterklasse, die sich von den verheerenden Niederlagen der 90er Jahre zu erholen beginnt. Natürlich spiegeln eine Reihe von Forderungen die Unreife der Bewegung wider und müssen bekämpft werden, z. B. die Forderung nach einer ‚Regierung der Experten’. Dies würde auf der Basis einer etwas reformierten Staatsstruktur nichts anderes bedeuten als eine weitere kapitalistische Regierung, die das IWF-Diktat und neoliberale Politik durchdrücken würde.
Aber die gegenwärtige Bewegung hat offenbar die entscheidende gesellschaftliche und politische Frage nach der Umgestaltung der gesamten bosnischen Gesellschaft aufgeworfen.
Ein Schlüsselproblem liegt in der Formulierung von Forderungen, um der weiteren Verarmung der Arbeiterklasse und der Jugend Einhalt zu gebieten. Einige zentrale Forderungen sind dabei:
– Nein zu allen Privatisierungen, Rückverstaatlichung der privatisierten Unternehmen, entschädigungslose Verstaatlichung aller bosnischen oder ausländischen Unternehmen und Banken unter Arbeiterkontrolle! Progressive Besteuerung der Reichen, ihrer Profite und Vermögen!
– Für ein Programm nützlicher öffentlicher Arbeiten, um die Bevölkerung in Arbeit zu bringen! Aufteilung der notwendigen Arbeit auf Alle!
– Soziale Absicherung für Alle, einschließlich freier Gesundheitsfürsorge und Bildung! Mindestlöhne, Arbeitslosengeld und Renten, festgesetzt durch Ausschüsse von ArbeiterInnen, Bauern und Armen!
Um diese gesellschaftlichen Forderungen zu verstärken, muss die Bewegung weiter ausgebaut und über das ganze Land verbreitet werden. Dazu ist ein politischer Generalstreik in allen Bezirken und Staaten vonnöten. Zur Organisierung eines solchen Streiks und zur Führung der Bewegung darüber hinaus müssen gewählte Aktionsausschüsse in jeder Fabrik, an jedem Arbeitsplatz, in jedem Staat, in Stadt und Land formiert werden!
Diese Aktionsräte müssen verallgemeinert und auf kantonaler und Landesebene zusammengefasst werden. Das muss auf Grundlage von Arbeiterdemokratie vonstatten gehen, d.h. Wahl per Mehrheit mit voller Rechenschaftspflicht und Abrufbarkeit durch die Basis.
Um die Protestaktionen gegen Polizei und Provokationen zu schützen, müssen Selbstverteidigungsorgane für die Demonstrationen, Streiks und Besetzungen aufgebaut werden.
Wie die Bewegung schon ansatzweise in Bezirken, wo die lokalen Administrationen zurückgetreten sind, gezeigt hat, würde ein solcher Streik unweigerlich die Machtfrage aufwerfen. Mit fortschreitender Bewegung müssen deshalb die unmittelbaren gesellschaftlichen Forderungen verknüpft werden mit einem Programm zur Umgestaltung des Landes und zum Kampf gegen seinen neokolonialen Status. Dabei sind Forderungen wie diese wichtig:
– Veröffentlichung aller Verträge, Öffnung aller Geschäftsunterlagen und Konten der Unternehmen, der Ministerien und Bezirksverwaltungen, der EU und des IWF! Streichung aller Auslandsschulden und Ablehnung der IWF-Programme!
– In der EU u.a. imperialistischen Ländern muss die Arbeiterklasse sich gegen jegliche finanzielle Erpressung von Bosnien und jede militärische Drohung gegen die Arbeitererhebung wenden!
– Annullierung des Dayton-Abkommens! Imperialisten raus aus Bosnien! Sofortiger Rückzug des ‚Hohen Repräsentanten’ und der EUFOR-Truppe sowie aller übrigen ausländischen Einheiten und Militärberater!
– Für einen Notplan, der auf den Bedürfnissen der Arbeiter, Jugend und Bauern fußt und unter Arbeiterkontrolle gestellt ist, um die Wirtschaft wieder flott zu machen und entsprechend dem wirklichen Bedarf zu investieren!
– Ermittlung durch Arbeiterausschüsse gegen kriminelle Aktivitäten und Korruption von Staatsbeamten. Gehaltskürzung von Staatsbediensteten, Durchschnittslohn für gewählte VertreterInnen!
– Das bosnische politische System ist durch den Imperialismus aufgezwungen worden, es kann weder den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht werden, noch die hauptsächlichen demokratischen Fragen, wie z.B. die nationale Frage, lösen. Um dies anzusprechen, fordern wir die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung!
– Wahlen und Kampagnen für eine solche Versammlung muss unter die Kontrolle von Ausschüssen aus Arbeitern, Jugendlichen und Bauern gestellt werden, nicht durch den derzeitigen Staatsapparat, nationalistische Parteien oder bürgerliche Medien.
In seiner Gesamtheit wirft ein solches Programm die Frage auf, wer, d. h. welche Klasse, das Land beherrschen soll: die Imperialisten und Kapitalisten oder die Arbeiterklasse im Bündnis mit der Bauernschaft?
Organe wie Aktionsausschüsse oder Kontrollkomitees müssen zu Arbeiterräten, sowjetartigen Gremien ausgebaut werden, die nicht nur Kampforgane sind, sondern auch Keimformen der künftigen nichtkapitalistischen Gesellschaft. Solche Organe müssen nicht nur in den Fabriken und auf dem Land geschaffen werden, sondern auch in der Armee. Wir rufen die Mannschaftsgrade der Armee auf, sich an die Seite der Arbeiter zu stellen, Soldatenräte zu bilden und beim Aufbau von Arbeitermilizen für die Verteidigung gegen jede konterrevolutionäre Bedrohung mitzuwirken.
Nur solche sowjetähnlichen Organe könne eine wirklich stabile Grundlage für eine Arbeiter- und Bauernregierung abgeben, die eine gesellschaftliche Umwandlung vollziehen kann, die nicht nur Korruption und neoliberale Politik beendet, sondern die wirkliche Ursache für das Elend in Bosnien beseitigt: den Kapitalismus.
Die Entfaltung des proletarischen Klassenkampfs in Bosnien und erst recht eine Arbeiterrevolution würde einen Wendepunkt für das politische Leben der Region heute und hoffentlich für das gesamte Europa bedeuten.
Eine solche Bewegung darf und kann sich nicht auf Bosnien beschränken. Schließlich können die demokratischen und sozialen Probleme und die imperialistische Beherrschung des Balkans nicht durch den Kampf in einem Land gelöst werden. Eine erfolgreiche Revolution in Bosnien muss nationale Grenzen überschreiten, will sie ein Anknüpfungspunkt für den Kampf um eine Sozialistische Föderation des Balkan sein.
Wir haben am Ende unseres Artikels eine kurzes Programm entworfen, und dies aus einem guten Grund. Die Lage in Bosnien ist gefüllt mit revolutionärem Sprengstoff. Aber sie stellt auch in aller Schärfe die Frage nach dem Aufbau eines politischen Instruments für die Arbeiterklasse, einer revolutionären Arbeiterpartei. Die ‚revolutionäre Linke’ ist auch in Bosnien schwach und zersplittert. Die wenigen Militanten stehen vor riesigen Aufgaben. Mit unserem Vorschlag wollen wir zur notwendigen Diskussion beitragen, wie der gegenwärtige Massenaufstand der Arbeiter und Jugend voran getrieben werden kann, wie er in eine erfolgreiche Arbeiterrevolution umgemünzt werden kann.