Nach der Abschiebung
Ein besonderes Selbsthilfeprojekt stellt sich vor
Aus Deutschland abgeschobene Flüchtlinge kämpfen in Sierra Leone im Netzwerk NEAS gegen ihre Stigmatisierung und die Abschiebepraxis der EU.
In einem Theaterstück verarbeiten die NEAS-Aktivisten ihre Erfahrungen und klären in Sierra Leone über die deutsche und europäische Abschiebepraxis auf.
Abschiebung ist erst der Anfang
Darüber, in welcher Lage sich aus der EU abgeschobene Menschen nach ihrer erzwungenen Rückkehr in ihren Herkunftsländern befinden, ist häufig wenig bekannt. Ein Netzwerk ehemaliger Asylsuchender (Network of Ex-Asylum Seekers Sierra Leone – NEAS) ist eine Selbsthilfegruppe von aus Deutschland zwangweise abgeschobenen Sierra Leonern. Sie hat das Ziel, der Stigmatisierung und Ausgrenzung der Abgeschobenen in ihrem Herkunftsland entgegen zu wirken. Die Betroffenen befinden sich in einer ausgesprochen schwierigen Situation: Nach der brutalen Erfahrung der Abschiebung treffen sie in Sierra Leone auf Ablehnung und müssen mit sozialer Isolation umgehen.
Ihre Verbundenheit mit Deutschland ist auch Jahre nach der Abschiebung noch sehr eng. „Hallo, ich bin John aus Greifswald. Und ich bin Lahai aus Berlin“ – so stellten sich die Mitglieder von NEAS bei dem ersten gemeinsamen Treffen in Freetown vor und dann begannen sie, ihre Geschichten zu erzählen: Sie berichteten von der grauenvollen Erfahrungen während des Bürgerkrieges in ihrem Land, von der Flucht nach Europa, ihren leidvollen Jahren als Geduldete mit ungesichertem Aufenthaltsstatus in Deutschland. Viele haben in den Jahren in Deutschland Familien gegründet, die sie – weil sie nicht verheiratet sind –zurück lassen mussten. Besonders schmerzhaft ist es für die meist jungen Männer, dass der Kontakt zu ihren Familien in Deutschland durch die Abschiebung abgerissen ist – die Kosten für Telefon oder Internet sind einfach zu hoch.
Während der Abschiebung haben John, Lahai und die anderen NEAS-Mitglieder gewaltsame Erfahrungen gemacht. Einem wurde von einem Polizisten die Hand gebrochen, viele wurden gefesselt und bekamen gegen ihren Willen Beruhigungsspritzen. Nach dieser demütigenden Prozedur wurden sie am Flughafen mittellos ausgesetzt.
Die Stigmatisierung begann mit der oft sehr brutal durchgeführten Abschiebung und geht nach der Rückkehr weiter. „Ich war 10 Jahre in Deutschland und auf einmal stehe ich vor der Tür meine Familie mit nichts in den Händen. Wie kann ich da wieder Teil der Community werden?“ fragt Mustapha während eines Gesprächs in Freetown. Nach der traumatischen Erfahrung der Abschiebung war er mit einer ablehnenden Haltung der Familie konfrontiert. „Die Nachbarn haben mich mit missbilligendem Blick angestarrt und gesagt, er gehört zu denen, die es in Deutschland nicht geschafft haben.“ In Unkenntnis der Asylgesetzgebung in Europa wird den jungen Männern und Frauen wird unterstellt, dass sie selbst an der Abschiebung selbst schuld seien, weil sie kriminell wurden oder sich anderes zuschulden kommen ließen. Die Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung führt dazu, dass die Abgeschobenen versuchen, sich unsichtbar zu machen und ihre Erfahrungen zu verschweigen. Für einige waren die emotionalen Belastungen nach der Abschiebung so groß, dass sie psychisch krank wurden.
Die Isolation zu überwinden ist das Ziel von NEAS. Für die Betroffenen stellt die Selbsthilfegruppe die Möglichkeit dar, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. Die Gruppe bietet einen geschützten Raum, wo sie ihre Geschichten erzählen können. Um die belastenden emotionalen Erfahrungen aufzufangen und die rechtliche Situation besser zu verstehen, werden die Workshops von einer psychosozialen Fachperson sowie einem Menschenrechtsanwalt begleitet.
Aufklärung schafft Verständnis
Nach diesen internen Prozessen trat NEAS 2012 mit einem Symposium erstmals an eine größere Öffentlichkeit in Sierra Leone. Die Abgeschobenen berichteten Medienvertreter_innen und Menschenrechtsaktivist_innen von ihren erschütternden Erfahrungen. Oft ist es Unwissenheit, die zu Diskriminierung führt. Selbst lokale Menschenrechtsorganisationen kennen die restriktive europäische Asylgesetzgebung nicht und wissen nicht, dass Menschen abgeschoben werden, ohne dass sie eine Straftat begangen haben.
Die Teilnehmer_innen des Symposiums reagierten schockiert auf die Berichte darüber, wie unmenschlich und demütigend in Europa mit Asylsuchenden umgegangen wird. Mitglieder der NEAS wurden daraufhin eingeladen, in interaktiven Radioprogrammen über ihre Situation zu berichten. Ziel ist es, sich für menschenwürdige Aufenthaltsbedingungen von Asylbewerber_innen in Europa einzusetzen und ein erträglicheres Umfeld für die Rückkehrer_innen in Sierra Leone zu schaffen. In Zusammenarbeit mit dem Tabule Theater aus Freetown hat NEAS ein Drama zum Thema Abschiebung entwickelt. Die Entwicklung des Theaterstücks war eine große Herausforderung für die Beteiligten: Sie spielen ihre eigene Geschichte nach und durchleben den Prozess der Abschiebung erneut. Gleichzeitig brechen sie das öffentliche Schweigen über das Erlebte, indem sie das Theaterstück öffentlich vor engen Freunden und den Theaterleuten aufgeführt haben. Nach dieser ermutigenden Erfahrung entschloss sich die Gruppe, eine Aufführung des Dramas zu filmen und damit einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Die kritische Stimme von NEAS ist nicht mehr zu überhören. Regierungsvertreter/-innen aus Sierra Leone luden NEAS ein, an einem Ausschuss zu Migration im Außenministerium teilzunehmen und versprachen ihre Kritik ernst zu nehmen und ihre Anliegen eingehend zu prüfen. „Heute erzählen NEAS-Aktivisten ihre Geschichte nicht mehr vor allem als Opfer, weil wir aktiv daran beteiligt sind, im Austausch mit anderen Organisationen die gegenwärtigen Bedingungen zu kritisieren und zu verändern“, sagte Tejan Lamboi, internationaler Koordinator und Gründungsmitglied von NEAS.
Gemeinsam mit den anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen schloss sich NEAS zum Civil Society Network on Migration and Human Rights zusammen, das gemeinsam kontinuierlich eine kritische Reflexion des Migrationsthemas international vorantreiben möchte. Mit einer eigenen Website hat die noch junge Organisation eine wichtige dafür Vorraussetzung geschaffen, sich mit anderen Initiativen zu vernetzen. Die Aktivist/-innen von NEAS werden als Teil der Zivilgesellschaft Sierra Leones den öffentlichen Druck aufbauen, der nötig ist, um für ihre Rechte als Abgeschobene zu kämpfen.
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Lo’Nam
Spendenstichwort:
medico international arbeitet seit der Gründung mit NEAS zusammen und unterstützt ihre Arbeit.
Wir bitten um Ihre Unterstützung unter dem Spendenstichwort: Sierra Leone.