- Geschrieben von Wladek Flakin (Unabh. Jugendorganisation REVOLUTION, Berlin)
- Sonntag, 07 Juni 2009
- Guillermo Lora, eine historische Führungspersönlichkeit des bolivianischen Trotzkismus, starb am 17. Mai 2009 in La Paz im Alter von etwa 87 Jahren – sein Alter war nicht ganz klar, weil er in den frühen 1920er Jahren in der Stadt Uncía im Department Potosí geboren wurde und nie eine Geburtsurkunde bekam.
- Seit ihrer Gründung in der Mitte der 1930er Jahre spielte Loras Revolutionäre Arbeiterpartei (Partido Obrero Revolucionario, POR) – auch unter dem Namen ihrer Zeitschrift, „POR-Masas“, bekannt – eine wichtige Rolle in der bolivianischen ArbeiterInnenbewegung, vor allem unter den BergarbeiterInnen. Sie war eine von nur wenigen trotzkistischen Parteien, zusammen mit denen in Vietnam und Sri Lanka, die eine Massenbasis in der ArbeiterInnenklasse gewinnen konnte.
- Der Einfluss des POR wird im Buch „Rebellion in the Veins“ von James Dunkerley beschrieben. Es erzählt, wie Loras Bruder César, ein trotzkistischer Gewerkschaftsführer, Kolonnen von mit Dynamit bewaffneten BergarbeiterInnen bei Kämpfen in der Hauptstadt anführte. Er wurde später von der Militärdiktatur ermordet. In den 1970er Jahren besuchten sowjetische WirtschaftsberaterInnen die bolivianischen Zinnminen und waren schockiert, als sie von Hunderten von BergarbeiterInnen mit roten Fahnen der Vierten Internationale begrüßt wurden!
- Guillermo Lora, sowohl eine Führungsfigur von Avantgardeschichten der ArbeiterInnenbewegung als auch ein Intellektueller, der ausführlich über die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung Boliviens, aber auch über Politik und Kunst schrieb, konnte die Bourgeoisie während seiner fast sieben Lebensjahrzehnte als politischer Militanter nicht korrumpieren. Das ist eine beeindruckende Leistung in einem rückständigen Land wie Bolivien, wo die kapitalistische Klassenherrschaft die kontinuierliche Bestechung von Führungsfiguren der Unterdrückten erfordert: So umfasst die Regierung Morales nicht nur Bauern/BäuerInnenführerInnen, GewerkschafterInnen und ehemalige GuerillakämpferInnen, sondern auch eine Reihe von ehemaligen MaoistInnen und TrotzkistInnen.
- Die alte Generation
- Manche RevolutionärInnen, selbst nach Jahrzehnten der politischen Tätigkeit, sind wegen eines einzigen, kurzen Dokuments bekannt geworden. So Karl Liebknecht mit seinem Ruf „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“. Bei Guillermo Lora waren es die „Thesen von Pulacayo“ (1). Diese Thesen, mit denen Lora das Übergangsprogramm von Trotzki der Situation in Bolivien anpasste, wurden von der Gewerkschaftsföderation der BergarbeiterInnen Boliviens (FSTMB) auf ihrem Kongress im Jahr 1946 angenommen.
- Lora betonte immer wieder, dass die Thesen nichts anderes waren als ein Spiegelbild des Bewusstseins der BergarbeiterInnen („Ich habe sie nicht geschrieben, die BergarbeiterInnen haben sie mir diktiert, und ich überarbeitete sie“ (2)), was Ausdruck seiner syndikalistischen Tendenzen war. Aber trotz einiger Schwächen bleiben diese Thesen bis heute das wichtigste programmatische Dokument der bolivianischen BergarbeiterInnenorganisationen (deren Ideologie als „trotzkisierter Syndikalismus“ bezeichnet wurde), und jedeR FunktionärIn kann ihre grundlegenden Prinzipien zitieren. Die Thesen beschreiben die Notwendigkeit, den Kampf für demokratische Aufgaben mit dem Kampf für den Sozialismus zu verbinden.
- Zum Zeitpunkt seines Todes war Lora wahrscheinlich einer der Letzten der Generation der TrotzkistInnen (in einer Reihe mit Mandel, Healy und Grant), die vor oder während des Zweiten Weltkriegs aktiv wurden und unter den extrem schwierigen Bedingungen zu Beginn des Nachkriegsbooms versuchten, das trotzkistische Programm wiederzuerarbeiten und die Vierte Internationale wieder aufzubauen.
- Letztlich sind sie gescheitert; auf unterschiedliche Art und Weise passten sie sich sozialdemokratischen, stalinistischen oder nationalistischen bürokratischen Apparaten an. Der Nachkriegs-Trotzkismus in seiner Gesamtheit stellte nicht die Kontinuität des Bolschewismus, sondern eine besondere Form des Zentrismus dar. Das kam dort am besten zum Ausdruck, wo die TrotzkistInnen eine relevante Strömung in der ArbeiterInnenbewegung ihres Landes repräsentierten und in heißen Klassenschlachten auf die Probe gestellt wurden – wie eben auch in Bolivien.
- Eine kurze Geschichte
- Boliviens „nationale Revolution“ von 1952 bestätigte viele Postulate der permanenten Revolution. Die bolivianische Bourgeoisie war im Angesicht längst überfälliger demokratischer Aufgaben unentschlossen. Das bedeutete, dass es die bewaffneten ArbeiterInnen waren, die eine Bodenreform, die Verstaatlichung der Minen und einige BürgerInnenrechte (wie das Wahlrecht) für die indigene Mehrheit des Landes durchsetze.
- Der POR kämpfte jedoch nicht für die Ausweitung der bürgerlich-demokratischen Revolution hin zu einer proletarisch-sozialistischen, sondern wollte die bürgerliche Regierung nach links drängen. Er beschränkte sich auf Druck auf (und damit kritische Unterstützung für) den linken Flügel der nationalistischen Partei, des MNR. Er forderte VertreterInnen der ArbeiterInnen auf, der Regierung beizutreten, um ihre Politik zu beeinflussen, anstatt sie zum Bruch mit ihr aufzufordern (3).
- Nach 1952 kodifizierte Lora diese Anpassung an die demokratische Bourgeoisie mit seiner Theorie der „Revolutionären Antiimperialistischen Front“ (die er als seinen wichtigsten theoretischen Beitrag zum Trotzkismus ansah). Der POR bildete bei verschiedenen Gelegenheiten Blöcke mit linken ReformistInnen und nationalistischen Offizieren und schloss nicht einmal die Möglichkeit eines Blocks mit der „nationalistischen Bourgeoisie“ aus. Diese Blöcke basierten nicht nur auf begrenzten taktischen Abkommen, sondern auf einer vagen Strategie des „Sozialismus“, was zwangsläufig bedeutete, dass der POR seine Forderungen auf das reduzierte, was für seine Verbündeten aus dem Lager des Militärs oder des Stalinismus akzeptabel war.
- Eine neue revolutionäre Erhebung im Jahr 1971 brachte Lora und den POR wieder ins Rampenlicht. Die Volksversammlung, ein Delegiertenorgan mit Elemente eines ArbeiterInnen- und Bauern/BäuerInnen-Kongresses (den Lora zum „ersten Sowjet Lateinamerikas“ stilisierte) spielte eine dominante Rolle im Land unter der kurzlebigen Regierung des sehr linken Generals Torres (1970/1971).
- Lora erkannte später, dass die Erwartung „völlig falsch“ war, dass die Militärregierung Waffen an die ArbeiterInnen verteilen würde. Torres würde lieber auf Vereinbarungen mit seinen Kollegen setzen als auf eine Herausforderung der bürgerlichen Ordnung durch die Bewaffnung der Massen. Doch Lora, als prominentes Mitglied der Volksversammlung und seines Politischen Kommandos, unterstützte die Politik des passiven Wartens darauf, dass der linke Flügel des Militärs dieses Problem lösen würde. Als die militärische Rechte Torres stürzte, war die ArbeiterInnenbewegung unbewaffnet, sowohl militärisch als auch politisch (4).
- In diesem Zeitraum begann Lora, Theorien über den bolivianischen Partikularismus, vor allem in Bezug auf die Armee, herauszuarbeiten. „Die Armee hier ist keine Kaste“ war einer seiner Lieblingssprüche in späteren Jahren, und er schrieb Unmengen über die progressiven Traditionen des Militärs in der Geschichte Boliviens. Das Projekt der ideologischen Gewinnung der Offizierskaste ersetzte tendenziell das Projekt der Bewaffnung der ArbeiterInnen.
- Der Nachruf des POR-Zentralkomitees bezeichnet Lora als „unseren Generalsekretär“ (5), doch in Wirklichkeit hatte er sich schon vor Jahren aus der Tagespolitik zurückgezogen. „Der Zufall hat mir ein paar zusätzliche Jahre geschenkt“, sagte er über sich selbst, und er nutzte die Zeit für literarische Tätigkeit: Seine „Obras Completas“, seine „Gesamten Werke“, bestehend aus über 60 Bänden und noch nicht abgeschlossen, sind bereits umfangreicher als die Lenins!
- Mehr noch als Boliviens geographische Isolation führten Loras Theorien über den bolivianischen Partikularismus dazu, dass der POR von der internationalen trotzkistischen Bewegung isoliert war. Er nahm mehrere Male in der internationalen trotzkistischen Konferenzen teil, aber obwohl er das Internationalen Komitee bei der Spaltung der Vierten Internationale im Jahr 1953 unterstützte, ist der POR ihm nie formell beigetreten. Ab 1971 stand Lora der lambertistischen Strömung nah, aber brach mit ihr zusammen mit der altamiristischen Strömung um den Partido Obrero aus Argentinien im Jahr 1979. Ihre gemeinsame Strömung zerfiel im Jahr 1988, so dass die Verweise des POR auf die Vierte Internationale nur noch Rituale sind.
- Danach hatte der POR praktisch keine Verbindungen mit internationalen Strömungen und somit auch keine Positionen über sie. Als ich ihn im Jahr 2007 traf, war Loras Einschätzung des internationalen Trotzkismus: „Sie haben die bolivianische Erfahrung nicht assimiliert.“ Der POR hat weiterhin Einfluss in zwei Bereichen (in der LehrerInnengewerkschaft von La Paz, die er seit mehr als zwanzig Jahren führt, und in der StudentInnenföderation von Cochabamba), war aber nicht in der Lage, irgendeine Art von Führung in den revolutionären Krisen, die das Land im Jahr 2003 oder 2005 erschütterte, anzubieten.
- Loras Bewertung dieser Krisen, vielleicht typisch nostalgisch für jemanden in seinem Alter, lautete: „Die bolivianischen ArbeiterInnen haben sich immer noch nicht von der Niederlage von 1971 erholt.“
- Eine Schlussfolgerung
- Guillermo Lora widmete sein ganzes Leben der ArbeiterInnenklasse und der sozialistischen Revolution in Bolivien. Als Student zog er in die nicht gerade gastfreundlichen Dörfer der BergarbeiterInnen hoch in den Anden, um für die Verankerung des Trotzkismus unter diesem besonders ausgebeuteten und militanten Teil der ArbeiterInnenklasse zu kämpfen. Er bezahlte seine unnachgiebige Opposition gegen den Kapitalismus mit langen Jahren im Gefängnis und längeren Jahren im Exil.
- Trotz der Tatsache, dass wir schwerwiegende Fehler in seinen strategischen Konzeptionen und Theorien sehen, soll sein Erbe nicht nur geehrt, sondern auch studiert werden. Nur durch das Verständnis der Erfolge und Misserfolge von Führungsfiguren wie Lora wird eine neue Generation von sozialistischen RevolutionärInnen in Bolivien und auf der gesamten Welt in der Lage sein, sein Projekt, die sozialistische Weltrevolution, zu vollenden.
- von Wladek Flakin, unabhängige Jugendorganisation REVOLUTION
- veröffentlicht in Permanent Revolution Nr. 13 , Sommer 2009
- Anmerkungen:
- (1) Verfügbar unter: http://www.permanentrevolution.net/entry/1371 (englische Übersetzung)
- (2) http://www.bolpress.com/art.php?Cod=2007021426
- (3) Siehe „The Bolivian Revolution of 1952 – polemic with the POR“, http://www.permanentrevolution.net/entry/1447
- (4) Für einen Artikel über die POR, Torres und der bolivianischen Krise von 1970-71, siehe: http://www.permanentrevolution.net/entry/1384
- (5) http://gor-contralacorriente.blogia.com/2009/051801-ha-fallecido-guillermo-lora-el-programa-de-la-revolucion-boliviana-sigue-en-pie-.php
- Quellen:
- James Dunkerley: Rebellion in the Veins. La Paz 2003 und London 1984.
- Eduardo Molina: „Obituario: Falleció Guillermo Lora.“ http://www.lorci.org/article.php3?id_article=726
- Workers Power / Irish Workers‘ Group: The Death Agony of the Fourth International and the Tasks of Trotskyists Today. London 1983. http://www.permanentrevolution.net/entry/2247
- „A Revolution Betrayed: The POR and the Fourth International in the Bolivian Revolution.“ Revolutionary History. Vol. 4. No. 3. Summer 1992. pp. 58-85. http://www.marxists.org/history/etol/revhist/backiss/vol4/no3/villa.htm
W. Flakin: Nachruf auf Guillermo Lora.
– 7. Juni 2009Eingestellt unter: Grundsätzliches