Offener Brief an François Hollande: Nein zum „Fiskalpakt“, kein Europa ohne die Bürgerinnen und Bürger! (W.Hanser)

Die europäische Krise ist an einen entscheidenden Punkt gelangt. Freiwillig blind, versteifen sich unsere führenden Politiker_innen auf brutale Sparpolitik, während die Krise von dem Treiben des Finanzsektors ausgeht. Der „Fiskalpakt“ ist von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy ausgearbeitet worden, um der Wirtschaftspolitik definitiv ein Korsett anzulegen.

François Hollande möchte ihn von dem neu gewählten Parlament ratifizieren lassen, wenn es ihm gelingt, den „Wachstumspakt“ insgesamt oder zum Teil durchzubringen, den er den übrigen europä­ischen Staatschefs vorschlägt. Doch kann nur nach einer demokratischen Debatte mit einer breiten Beteiligung der Bevölkerung legitim über so wesentliche Angelegenheiten entschieden werden.

Auf Initiative von Attac [Frankreich] und der Fondation Copernic, richten leitende Mitglieder von Verbänden, Gewerkschaften und politischen Parteien sowie Forscher_innen einen offenen Brief an François Hollande, in dem die Organisierung einer Debatte gefordert wird, die mit einem Referendum ent­schieden werden soll.

(Bisher– 26.6. – haben rund 12.000 Menschen diesen offenen Brief unterschrieben.)

Herr Präsident der Republik,

Während des Wahlkampfs haben Sie angekündigt, dass Sie den „Vertrag über Stabilität, Koordinie­rung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion der Eurozone“, bekannter als Fiskalpakt, den Nicolas Sarkozy und 24 weitere europäische Staatschefs am 2. März diesen Jahres unterzeichnet haben, neu verhandeln wollen.

Dieser Vertrag würde die Austeritätspolitik in Europa verschärfen und unumkehrbar machen, indem jedes „strukturelle“ Defizit über 0,5 % untersagt wird. Das „strukturelle“ Defizit, ein für die Bürger_­innen unverständlicher und unter den Wirtschaftswissenschaftler_innen umstrittener Begriff, sollen die Expert_innen der Kommission eigenmächtig einschätzen. Der Fiskalpakt sieht automatische Sank­tionen gegen die Länder vor, die die Bestimmungen nicht einhalten, so dass jede Debatte abgewürgt wird. Hilfen für Länder in Schwierigkeiten, wie sie von dem Europäischen Stabilitätsmechanismus vorgesehen sind, werden an die Umsetzung von Austeritäts-, Privatisierungs- und Liberalisierungs­plänen gebunden sein. Die Finanzmärkte und die Banken werden mit aktiver Unterstützung der Euro­päischen Zentralbank den Regierungen weiter ihren Willen aufzwingen. Europa würde so noch mehr in die Depression und das Vorenthalten von Demokratie hineintreiben und würde für die Mehrzahl Elend bedeuten. Die extreme Rechte würde weiter stärker werden und ihre autoritären und fremden­feindlichen Auffassungen in den Scherben der Europäischen Union durchsetzen.

Um das zu vermeiden, möchten Sie dem Fiskalpakt „einen Teil über das Wachstum“ hinzufügen. Wachstum? Wir wollen dieses Wachstum nicht mehr, das Ausplünderung und Ungleichheit bedeutet und das der Neoliberalismus befördert. Unter uns gibt es unterschiedliche Einschätzungen über die Möglichkeit und die Wünschbarkeit eines grünen Wachstums. Doch können die Austeritätsmaßnah­men, die in allen Ländern gleichzeitig ergriffen werden, nur die Arbeitslosigkeit verschärfen und den ökologischen Umbau blockieren, und die Bestimmungen des Stabilitätspakts stehen im Widerspruch zu Ihrer Forderung nach Wachstum. Sie wissen zudem, dass die „Strukturreformen“ – Prekarisierung der Arbeit, Privatisierung der sozialen Sicherung und der öffentlichen Dienste – von der EZB und dem IWF bereits als notwendige Schritte zur „Wiedererlangung des Wachstums“ hingestellt werden. Wir denken, dass Europa heute im Gegenteil angesichts der Herausforderungen anspruchsvolle soziale und ökologische Ziele verfolgen muss, indem ein umfangreicher Plan zum Erhalt der natürlichen Ressour­cen und zur Energieumstellung sowie für Beschäftigung und dringende soziale Maßnahmen finanziert wird. Zu diesem Zweck muss Europa sich eine viel anspruchsvollere und solidarische Steuer-, Haus­halts- und Währungspolitik schaffen.

Sie hoffen, Angela Merkel und die übrigen Staatschefs von der Einführung der „Projekt-Bonds“ und „Eurobonds“ zur Finanzierung großer europäischer Projekte überzeugen zu können. Aber wird, selbst wenn Ihnen das gelingt, der Umfang dieser Anleihen die enormen rezessiven Auswirkungen des Pakts bemerkenswert kompensieren können? Und da diese Anleihen an den Finanzmärkten aufgenommen werden müssen, welche Bedingungen werden diese durchsetzen? Die so konzipierte Vergemeinschaft­lichung der europäischen Schulden wird die exorbitante Macht des Finanzsektors kaum vermindern, im Gegenteil. Um die Fesseln zu lösen, die die Finanzmärkte den Staaten anlegen, muss die EZB die Schulden der Mitgliedsstaaten in großem Umfang aufkaufen und diesen Staaten zur Einleitung des ökologischen und sozialen Umbaus Kredite zu niedrigen Zinssätzen gewähren. Dies impliziert die Korrektur einer Anomalie unter demokratischem Gesichtspunkt: Die EZB muss unter politische Kon­trolle der Bürger_innen und ihrer gewählten Repräsentant_innen gestellt werden. Darüber hinaus sind ein wirklicher Gemeinschaftshaushalt und eine Harmonisierung der europäischen Sozial- und Steuer­politiken nach oben notwendig. Unserer Auffassung nach würde der Fiskalpakt es verhindern, in diese Richtung zu gehen, und er muss abgelehnt werden. Dies ist die Bedingung für die notwendige Neube­gründung Europas.

Sie kann nur von einem demokratischen Aufbruch der europäischen Gesellschaften ausgehen. Daher ist eine öffentliche Debatte nötig: Dem Volk das Wort zu geben, ist ein Imperativ. Soziale und Bürger-Widerstände gegen die Austeritätspolitik bilden sich in zahlreichen Ländern. In Anbetracht des Auf­stiegs der extremen Rechten ist dringend nicht weniger, sondern mehr Teilhabe der Bevölkerung nö­tig, mehr Demokratie in Frankreich und in Europa. Sie können dazu beitragen, indem Sie ein Referen­dum einberufen, mit dem der Europavertrag mit seinen eventuellen Ergänzungen, deren Inhalte die Zukunft Europas bestimmen werden, zur Debatte gestellt wird. Damit würden Sie dem französischen Volk die Gelegenheit geben, seine Erwartungen zu äußern und seine Vorschläge für die Neubegrün­dung Europas auszuarbeiten. Sie würden ähnliche Ansätze zur Äußerung des Volkswillens für eine Veränderung in Europa in den anderen Ländern ermutigen. Sie würden zeigen, dass für Sie wie für uns die Europäische Union und der Euro nur dann wieder eine Zukunft haben werden, wenn wir die demo­kratische Souveränität der europäischen Völker aufbauen.

Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried Dubois

http://www.france.attac.org/lettre-ouverte-francois-hollande-pour-un-referendum-sur-le-pacte-budgetaire

http://www.fondation-copernic.org/spip.php?article695