Liebe Labournet-Austria-Redaktion!
„Heute bin ich auf die Rede gestossen, die Alexis Tsipras letzten Herbst in Wien gehalten hat und die Ihr verdankenswerterweise dokumentiert habt…“ (www.labournetaustria.at/alexis-tsipras-vorsitzender-von-syriza-auf-der-veranstaltung-des-kreisky-forum-in-wien-am-20-9-2013/). Man kann die Entwicklung in Griechenland gar nicht aufmerksam genug verfolgen. Tsipras macht darin einige Festellungen, die zweifellos richtig sind. Beispielsweise, dass Griechenland kein Sonderfall sei, sondern das schwächste Glied der Eurozonen-Kette. Einprägsam ist auch sein Vergleich mit dem sterbenden Kanarienvogel im Bergwerk, der wie ein Sündenbock behandelt werde, statt dessen Tod als Alarmzeichen zu werten, dass mit dem Bergwerk etwas nicht stimmt.
Ganz offensichtlich sieht sich Alexis Tspiras in den Fussstapfen von Bruno Kreisky, Willy Brandt und Olaf Palme. Hinzufügen können hätte er getrost einen weiteren Namen: Salvador Allende. Denn die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse damals in Chile sind eher mit der heutigen Lage in Griechenland vergleichbar als jene in Österreich, Deutschland oder Schweden zu den Zeiten der Wirtschaftsblüte. Vor allem aber markiert der 11. September 1973, der Tag als der „chilenische Weg zum Sozialismus“ im Blut ertränkt wurde, einen weltgeschichtlichen Wendepunkt: der Beginn jener globalen Krise, deren Ausbruch noch einige Jahrzehnte lang, bis 2008, hinausgezögert werden konnte – und damit verbunden (in den Ländern des nördlichen Europas) das Ende der Beteiligung der Arbeiterklasse, repräsentiert durch die Sozialdemokratie, an der politischen Macht als Interessenausgleich zwischen den gesellschaftlichen Klassen. In der Zwischenzeit ist der Begriff „Reform“ zu einem Synonym für soziale Verschlechterungen geworden und deren Vollstreckter sind an vorderster Front ausgerechnet die ehemals reformistischen Parteien der „Sozialistischen Internationale“, zu deren Protagonisten einst die von Tsipras genannten Namen gehörten. Seine Auffassung allerdings, wonach Europa nicht zu einer „neoliberalen Wüste“ geworden wäre, wenn die Sozialdemokraten ihren Vorgängern gefolgt wären (Min. 4:17 im Video), halte ich für einen verhängnisvollen Irrtum. An der Macht beteiligte Arbeiterparteien (oder sozialistische Parteien) sind stets am Gängelband der Bourgeoisie geblieben, die allein den Verteilungsspielraum bestimmte. Vor die Alternative gestellt, entweder weiterhin für die Interessen jener einzustehen, von denen sie gewählt worden waren, oder den „Sachzwängen“ der „Politik des kleineren Übels zu folgen“ und dafür ihren Anteil an der Macht zu behalten, haben sich diese Parteien in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs – wie die Geschichte zeigt – stets auf die Seite der Bourgeosie geschlagen. Mit andern Worten wird die Politik der Sozialdemokratie weniger vom guten Willen ihrer führenden Köpfe bestimmt als vielmehr von den wirtschaftlichen und politischen Umständen, vom Verteilungsspielraum, den die Bourgeoisie festlegt, und von der politischen Rolle, die sie ihnen zuweist.
Eine illusionslose Klarheit über diese Zusammenhänge ist von entscheidender Wichtigkeit angesichts der bevorstehenden Umbrüche namentlich in Griechenland – und als Folge davon in ganz Europa. Mit Tsipras stimme ich überein, dass Syriza die nächsten Wahlen gewinnen wird, auch wenn das Datum dieser Wahlen noch offen ist. (Nicht allein, weil gemäss den neuesten Umfragen bei Neuwahlen die Regierungsparteien keine Mehrheit mehr hätten und Syriza zur stärksten Partei würde, sondern vor allem auch aus dem Grund, dass es sich bei dem von Samaras präsentierten „Primärüberschuss“ um ein potemkinsches Dorf handelt, um einen Taschenspielertrick, eine Zahlenakrobatik, die nicht verhindern kann, dass die Troika in wenigen Wochen neue Sparmassnahmen durchdrücken wird, die womöglich die Regierung ihre hauchdünne parlamentarische Mehrheit kosten wird.) Es ist somit lediglich eine Frage der Zeit, bis eine wie auch immer zusammengesetzte Linksregierung unter Führung von Syriza Wirklichkeit wird. Ob dann eine solche Regierung auch den von Tsipras versprochenen „grundlegenden politischen Wandel“ herbeiführen wird, ist hingegen eine andere Frage.
In dem von Euch verlinkten Interview mit Tsipras vom 8. September 2013 (www.nachdenkseiten.de/?p=18658) erwähnt er zwar die „notwendige Beteiligung der Menschen selbst“ („Der jetzige Zustand kann nur durch Kämpfe, durch Konflikte und eine veränderte Mentalität überwunden werden. Was aber vor allem nottut, ist die Beteiligung der Menschen selbst. Wo immer die Gesellschaft ihre Passivität überwunden und eine aktive Rolle gespielt hat, da ist es vorangegangen, und zwar in ziemlich schnellem Tempo.“). Gleichzeitig glaubt und hofft er vor allem auf die Vernunft der europäischen Entscheidungsträger: „Wenn das Zinsmoratorium nicht akzeptiert würde, hieße das doch, dass sie selber (die Mitglieder der Troika) jeden Ausweg verstellen wollen. Das aber halte ich für irrational. Und zwar nicht, weil sie Mitleid mit uns haben, sondern weil eine solche Perspektive schlichtweg nicht in ihrem Interesse liegt, denn damit wäre ja die ganze Eurozone in ihrem Zusammenhalt gefährdet. (…) … werden wir richtig harte Verhandlungen führen, um tatsächlich eine tragfähige Lösung für alle zu finden. Und ich glaube, dass wir das am Ende schaffen werden. Da bin ich mir sicher.“ Die Troika und die hinter ihr stehenden Regierungen handeln jedoch keineswegs rational, sondern sind in einer Denkweise gefangen, die Tomasz Konicz treffend als „irre Ideologie“ bezeichnet hat (www.jungewelt.de/2013/11-18/028.php).
Grosse Hoffnungen setzt Tsipras auch auf die Unterstützung durch andere europäische Länder: „Ich glaube auch, dass wir, wenn wir (die Wahlen in Griechenland) gewinnen, keineswegs allein gegen die Merkel dastehen werden. Diese Lösung werden breitere Kräfte begrüßen und unterstützen. Und das nicht nur im Süden, sondern sogar in Deutschland selbst.“ Dazu wäre ein vorgängiger (oder mehr oder weniger gleichzeitiger) Regierungswechsel in andern südeuropäischen Staaten erforderlich, was aus heutiger Sicht höchstens für Portugal ein einigermassen realistisches Szenario ist, wobei es selbst dort keine mit Syriza vergleichbare politische Konstellation gibt. Die Frage, ob Griechenland als „schwächstes Glied der Eurozonen-Kette“ im Falle einer Syriza-Regierung eine Art „Dominoeffekt“ auslösen würde, ist zweifellos entscheidend für das Schicksal ganz Europas. Die von Tsipras (auch im besagten Interview) entwickelte Vision einer Art Renaissance des sozialdemokratischen Reformismus, der die politischen Kräfte in Europa soweit umgestalten würde, dass eine Neuauflage der Londoner Konferenz von 1953 ein Zinsmoratorium für Griechenland und einen neuen „Marshallplan“ beschliessen würde, verkennt den Charakter der globalen Krise, die auch in ihrem sechsten Jahr, nicht nur in Europa, sondern weltweit zu einer Verfestigung jener Politik geführt hat, die man gemeinhin unter dem Begriff „Neoliberalismus“ zusammenfasst.
So wahrscheinlich eine Syriza-Regierung in absehbarer Zeit ist, so unwahrscheinlich ist gleichzeitig ein Einlenken der Troika, mögen die Verhandlungen noch so hart geführt werden. Ein Ultimatum der Troika (wie im Falle Zyperns) aber würde eine Syriza-Regierung vor die Wahl stellen, entweder zu kapitulieren oder in einem zahlungsunfähig gewordenen Land der Bevölkerung vorerst das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Die zweite Alternative würde unweigerlich Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse notwendig machen – mit andern Worten den Klasssenkampf in Griechenland selbst massiv verschärfen. Wie mir anlässlich der Solidaritätsreise vom letzten September eine Syriza-Abgeordnete erzählt hat, befasse sich die linke Strömung von Synaspismos seit vier Jahren intensiv mit den wirtschaftlichen Problemen, die im Falle eines „Embargos“ durch das übrige Europa entstehen würden. Anfänglich seien sie deswegen von der (Tsipras nahestehenden) Mehrheit belächelt worden, inzwischen sähen jedoch auch diese Leute deren Notwendigkeit ein. Und jemand anders hat mir gesagt, Tsipras nehme Privatstunden bei einem Wirtschaftsprofessor, um sich in die Materie zu vertiefen…
Anlässlich jener Solidaritätsreise hatten wir auch die vorzügliche Gelegenheit, mit Panagiotis Lafazanis, einem Protagonisten der Linken Plattform innerhalb von Syriza, ein Gespräch zu führen. Während man bei Tsipras (im zitierten Interview, ebenso seine Rede an der Veranstaltung in Wien) den Eindruck nicht los wird, er glaube und hoffe – etwas überspitzt formuliert – auf die Vernunft und das Einlenken des Klassenfeindes, argumentiert Lafazanis als ehemaliger Mathematiker sehr nüchtern und glasklar. Auch der Frage nach den Parallelen zwischen einer griechischen „Linksregierung“ (der Linken Plattform schwebt bekanntlich eine Koalition aus Syriza, KKE und Antarsya vor) und der Allende-Regierung in Chile weicht er keineswegs aus. Seiner Meinung nach sei die chilenische Volksfrontregierung vor allem daran gescheitert, dass sie geglaubt hatte, sie könne sich an der Macht halten, indem sie immer weitere Zugeständnisse nach rechts mache. Eine künftige Linksregierung in Griechenland dürfe daher die gleichen Fehler nicht wiederholen, sondern müsse konsequent an den eigenen Zielen festhalten und sich dabei „auf die Bevölkerung stützen“. Auch wenn Lafazanis Reizwörter wie Klassenkampf geschickt vermeidet, so besteht kaum ein Zweifel, dass er sehr genau weiss, wovon er spricht…
Hält man sich die Meinungsverschiedenheiten am Syriza-Kongress vom Juli 2013 und den gescheiterten Versuch, die Linke Strömung zu marginalisieren, vor Augen, dann ist leicht einsehbar, dass nach einem Wahlsieg von Syriza diese Auseinandersetzungen nicht zu Ende sein, sondern in voller Schärfe ausbrechen werden. Wird erst der Weg zur Macht frei sein, dann wird der Kampf zwischen jenen, die unbeirrt an den ursprünglichen Zielen festhalten, und den andern, die „Realpolitik“ betreiben wollen, mit unerbittlicher Härte geführt werden.
Vom „Unruhe-Barometer“ des ‚economist‘ (http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/01/01/economist-erwartet-2014-soziale-unruhen-in-vielen-euro-staaten/), der für Griechenland die höchste Alarmstufe ausgegeben hat, mag man halten, was man will. Wir gehen zweifellos spannenden Zeiten entgegen.
In diesem Sinne
Herzlich Rainer