e.p.: Russische Revolution – Kronstadt und Machno-Bewegung. Bolschewismus oder „dritte Revolution“?

Von:   carlaurel@hotmail.com

Datum: 2002-08-12
An: labournetaustria@utanet.at
Betreff: Gescannt aus „ergebnisse & perspektiven“ 8/1979
 
aus ergebnisse & perspektiven nr. 8

Russische Revolution: Kronstadt und Machno-Bewegung

Bolschewismus oder „dritte Revolution“?

(siehe auch I.Deutscher: L.Trotzkis Position zu Kronstadt)
 
Machno und Kronstadt sind für die politischen Gegner des Bolschewismus zu Fanalen der Russischen Revolution bzw. zum Beweis geworden, dass nur eine evolutionäre Entwicklung der Menschheit Fortschritt bringe. „Die Revolution frißt ihre Kinder.“ Anarchisten und Bürgerliche haben sich längst festgelegt, der Stalinismus betet, da für ihn unverfänglich, Lenin nach, und bei der Sozialdemokratie sind neben ihrer chronischen Aversion gegen Revolutionen und ‚Exzesse‘ bloß die alten Positionen der 2 1/2. Internationale bemerkenswert, die zwar die bolschewistische Politik ablehnten, in Sowjetrußland jedoch eine Errungenschaft für die internationale Arbeiterbewegung sahen. (…)
 
BERÜHUNGSPUNKTE ZWISCHEN DER ANARCHISTISCHEN UND BÜRGERLICHEN POSITION
 
1m Sinne der anarchistischen „Dritten Revolution“ – die erste wäre die Februar-, die zweite die Oktoberrevolution gewesen, die von den Bolschewiki verraten worden sei und eben die „dritte“ erforderlich gemacht hätte – verstehen diese Genoss(inn)en den späteren stalinistischen Terror als Fortsetzung der bolschewistischen Repression gegen Kadetten, Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Anarchisten vor 1923. Ihrer Meinung nach ist die bürokratische Degeneration der Sowjetunion letztlich ein Auswuchs des Bolschewismus.
 
Die Bürgerlichen verurteilen mit Lenins Partei zugleich den Oktober. Die Anarchisten indessen konstruieren ihre „Dritte Revolution“ hinzu, die ihrer Meinung nach schon vor dem Oktober notwendig gewesen wäre. Sie sind dabei gezwungen, sich um einige Fakten des Jahres 1917 herumzudrücken. Für bürgerliche Autoren sind die Bolschewiki richtigerweise die eindeutigen Träger der Revolution und gesellschaftlichen Umwälzung gewesen, während die anarchistischen Vertreter deren Rolle leugnen müssen, um die Bedeutung ihrer ‚Revolution‘ hervorzuheben. Hier befinden sie sich nicht bloß in Gesellschaft von Geschichtsfälschern, sondern geraten auch bedenklich in die Nähe der Verurteilung der Oktoberrevolution selbst.
 
DIE ‚TROTZKISTEN‘
 
Im trotzkistischen Sprachgebrauch ist über die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution sehr viel von proletarischer Demokratie und Internationalismus – im Gegensatz zum Stalinismus – recht wenig jedoch von der bolschewistischen Unterdrückung von Arbeiterorganisationen und von fehlender Sowjet- und Parteidemokratie die Rede. Kronstadt und Machno erzeugen des öfteren Verlegenheit, gerade in einer Situation in der das spontaneistische Gewicht in der Linken sehr schwer ist. Zutreffend drückte diese Verlegenheit einmal ein österreichischer trotzkisierender Sozialdemokrat aus: „Ich will mich überhaupt nicht verantwortlich fühlen für das, was der alte Leo in Kronstadt oder sonstwo(?) aufgeführt(!) hat.. .“ (H.O.)
Sicher, wir verstehen uns nicht deswegen als ‚trotzkistisch‘, weil Trotzki im Bürgerkrieg dies oder das getan und zu verantworten hatte, und werden ebenso nicht, selbst wenn wir der Meinung wären, er hätte in Kronstadt oder „sonstwo“ falsch gehandelt, unseren politischen Ausgangspunkt woanders als bei der trotzkistischen Linksopposition und der IV. Internationale setzen. Die für uns entscheidenden Punkte sind die programmatischen Errungenschaften, die diese Bewegung in Anknüpfung an den Bolschewismus weiter entwickelt hat.
 
Die politische Präpotenz obiger Aussage liegt woanders. Der Genosse ignoriert in seiner Oberflächlichkeit schlicht und einfach ein Grundproblem der Russischen Revolution, das oftmals (und in dieser Ausschließlichkeit falsch) mit der Frage formuliert wird: “Diktatur der Kommunistischen Partei“ oder “Diktatur der Masse“?
 
Diese Frage ist aus zweierlei Gründen wesentlich. Zum einen wegen des schon erwähnten Vorwurfes, das Übel in der Russischen Revolution liege in den Bolschewiki – sie hätten ihre „Parteidiktatur“ errichtet und damit den Stalinismus vorbereitet. Andererseits ergaben sich in Rußland Probleme, die in modifizierter Form auch für die siegreichen Arbeiter- und Bauernmassen eines heute kolonialen bzw. halbkolonialen Landes auftreten könnten: Schwaches Proletariat, zahlenmäßig starke ländliche Massen, Zerstörung, bzw. Schwäche der Industrie, niedrige Produktivität in der Landwirtschaft, Krieg, Isolierung. Radek weitete diese Problematik 1921 sogar auf das westeuropäische Proletariat aus. “Die proletarische Revolution bringt keine sofortige Linderung der Not, unter Umständen kann sie vorübergehend eine Verschlechterung der Lage des Proletariats bringen.“ (K. Radek, Kronstadt) Breite Arbeitermassen könnten in einer solchen zugespitzten Situation zu schwanken beginnen, wo „sie an Kapitulation vor der Bourgeoisie denken werden.“ (ebenda) Ist in einer solchen Lage die Arbeiterdemokratie (!) ein Selbstzweck und muß daher um alles in der Welt aufrechterhalten werden, oder ist sie als Mittel der proletarischen Diktatur momentan untauglich geworden?
 
Die Trotzkisten des ‚Vereinigten Sekretariates‘ (VS) haben nicht einmal das grundsätzliche Wesen der proletarischen Diktatur begriffen – daß sie  eben Diktatur gegen den Klassenfeind ist und dazu repressive Maßnahmen wird setzen müssen (siehe unsere Kritik am Dokument des VS über die „Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats“). Sie legen sich schon heute fest, daß Kommunisten an der Macht keine „administrative Repression“ ausüben dürften.(‚Inprekorr‘, Nr. 84-85/1977)
 
Die Problematik, daß die Selbstbehauptung der Revolution sogar so weit gehen kann, Arbeiter und Arbeiterorganisationen unterdrücken zu müssen, stellt sich dem VS noch weniger. Es kapriziert sich darauf, daß seinem Sozialismus keine Verbote von Organisationen voranzugehen haben, „bei denen die Mehrheit der Mitglieder aus der Arbeiterklasse stammt.“ (ebenda) Es ist kein Zufall, daß das Dokument des VS völlig ungeschichtlich abgehandelt wird und daß es auf den ‚Sozialismus‘, der aus den hochentwickelten kapitalistischen Ländern ‚erstehen‘ soll, zugeschnitten ist. Kein Wort fällt darin über die Probleme, die sich für Kommunisten der ‚Dritten Welt stellen könnten.
 
Außerdem muß ihre Kritik an der Bürokratie deformierter Arbeiterstaaten, die in ‚unterentwickelten‘ Ländern entstanden sind, flach bleiben. Sie werfen ihr ’nur‘ Bürokratisierung, fehlende Arbeiterdemokratie und Parteidiktatur vor. Radek sagte 1921, daß solches in der kommunistischen Politik notwendig sein kann. Hier gilt es den qualitativen Unterschied zwischen der russischen Bürokratie des Kriegskommunismus bis 1922 und jener dieser deformierten Arbeiterstaaten, den Wesenszug der Parteien in ihren Strukturen und Traditionen, festzustellen.
 
ANARCHISMUS UND REVOLUTION
 
Im Folgenden soll ein Überblick über die ökonomische und politische Entwicklung der Russischen Revolution nach 1917 gegeben werden. Selbstverständlich kann hier nicht allzusehr ins Detail gegangen werden. Nichts desto trotz ist ein allgemeines Eingehen darauf notwendig, um die Ereignisse in der Ukraine und in Kronstadt im Zusammenhang zu begreifen.
Dies ist auch die erste prinzipielle Differenz zur anarchistischen Strömung, deren Stellungnahmen stets im großen und ganzen den allgemeinen Zusammenhang der Lage negieren. Die verschiedenen Positionen der Anarchisten zu den Etappen der Russischen Revolution sind ein guter Beweis dafür. Im Juli 1917 wollten sie die Demonstrationen der Petrograder Arbeiter bis zum Sturz der Regierung weiter treiben. Sie bezeichneten die Julitage als „fehlgeschlagenen Aufstand“ und bezichtigten die Bolschewiki des Verrats. Die bolschewistischen Führer hätten nur „inoffiziell“ an ihnen teilgenommen. „Lenin beschränkte sich auf einige ermutigende Worte vom Balkon aus und verschwand. Trotzki und anderer Führer verzichteten auf jede Einmischung und stahlen sich davon(!).“ (Volin, Die unbekannte Revolution / II) In Wirklichkeit besaßen die Bolschewiki  die Führung der Demonstration, sie verlief unter ihren Losungen, was Volin auch zugibt. Lenins Partei ‚bremste‘ die Empörung der Arbeiter und leitete sie in eine machtvolle Demonstration über und bewußt nicht zum Aufstand, weil sie die Isoliertheit Petrograds von den „schweren Reserven“ der Bauern und der Masse der Soldaten sah. Der Konterrevolution wäre es sonst ein leichtes gewesen, genügend Truppen gegen die Hauptstadt zu werfen. Die Bolschewiki vermieden so eine schwere tiefe Niederlage der Petrogader Avantgarde, die Anarchisten hätten sie hingegen geradezu hinein gehetzt, wären sie nicht bloß einige Wenige in den Sowjets gewesen (siehe Die Julitage“, ‚permanente revolution‘ Nr.9/Juni 1977).
 
Der Sieg über Kornilow im August 1917 ging nach Meinung der Anarchisten auf ihr Konto. Warum jedoch die Massen der Arbeiter und Soldaten in dieser Zeit von den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu den Bolschewiki überwechselten, können sie indes nicht erklären. Und schließlich die Oktoberrevolution selbst. Nach anarchistischer Auffassung hatte die“bolschewistische Regierung … nur noch die vollendeten Tatsachen zu sanktionieren” (Volin, ebd.)  Es stimmt, die Sowjets, Fabrikkomitees und die Aufteilung des Landes waren keine direkte Schöpfung‘ der Bolschewiki gewesen. Sie waren größtenteils ohne Zutun der KPR entstanden. Zum Machtorgan, das die Bourgeoisie stürzte und nicht mit ihr kooperierte, wurden die Sowjets erst durch die revolutionäre Politik der Bolschewiki, nur sie sanktionierten die Aufteilung des Landes – und waren dazu auch in der Lage.“Die Bolschewiki … führten einen rein politischen Akt durch, indem sie die Macht übernahmen, die im Zuge dieser Volksrevolution ohnehin stürzen mußte. Durch ihren politischen Handstreich brachten die Bolschewiki die wirkliche Revolution zum Stillstand und führten sie auf eine falsche Bahn“ (Volin, ebd.)
 
Diesen Euphorismus gegenüber den Massen werden wir später noch öfters bei den Anarchisten vorfinden. Für sie stellten sich gar nicht die Fragen, was geschehen wäre, wenn die von den Bolschewiki geführten Arbeitermilizen und Soldatenbataillone am 25. Oktober 1917 nicht die zentralen Stellen der kapitalistischen Macht schlagartig besetzt hätten. Sie verstehen nicht, daß die Spontaneität der Massen, die in einem bestimmten Stadium der Revolution (z.B. in den Februartagen) die Stärke der Bewegung sein kann, zu einer zukünftigen Schwäche werden muß. Das Problem heißt die Eroberung der Macht. Selbst die stürmerischsten Streiks lösen dieses Problem nicht. Wird der günstigste Zeitpunkt verpaßt, so steigt die Gefahr der Auflösungserscheinungen in den Reihen der Arbeiter, und mit ihrer Passivität würde das Selbstbewußtsein und die Macht der noch nicht völlig geschlagenen Gegenrevolution wieder anwachsen. Diese Gefahr, in der zum Zerreißen angespannten Situation der Oktobertage, war mit den Händen zu greifen. Indessen. ‚eingefleischte‘ Anarchisten verfügen über keinen Tastsinn.
 
DAS JAHR 1918
 
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution ging die bolschewistische Partei davon aus, daß in Rußland eine Reihe wichtiger Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus fehlten: Ein zu niedriger Grad der industriellen Produktion, eine riesige, zutiefst rückständige Landwirtschaft und die Isoliertheit vom Weltmarkt. Sie formulierten die Ziele der Arbeiterkontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verschmelzung der Banken zu einer Nationalbank unter Kontrolle des Sowjets der Arbeiterdeputierten. Damit wollte man der Krise der industriellen Produktion und dem ungeheuren Niedergang der Landwirtschaft durch den Krieg und die Aufteilung des Landes auf die Bauern Herr werden.
 
Noch im Jahre 1917 hatten die Arbeiter in den meisten Betrieben selbsttätig die Leitung der Produktion übernommen, ohne sie jedoch im nationalen Maßstab zu koordinieren. Die Fabrikkomitees walteten und schalteten zumeist in ihrem Bereich isoliert und produzierten mit den ohnehin geringen Mitteln nur für den regionalen Bedarf. Die Produktionskräfte wurden keineswegs optimal eingesetzt und das Elend der Städte führte oft genug dazu, daß die Arbeiter durch die „Aneignung“ von Produkten und Werkzeugen versuchten, ihre persönliche Not zu lindern.
 
Viele kapitalistische Eigentümer, die 1917/18 noch nicht ausgeschaltet waren, begannen gemeinsam mit dem technischen Personal, ihre ihnen noch verbliebenen Positionen auszunutzen und die Wirtschaft zu sabotieren. Die russische Industrie befand sich im völligen Zusammenbruch.
 
1918 spitzte sich der Konflikt mit dem deutschen Imperialismus dramatisch zu. Am 3. März unterzeichnete Sokolnikow für die sowjetische Seite den Vertrag von Brest-Litowsk. Kurze Zeit später besetzten die Deutschen Kiew und große Teile der Ukraine. Auch nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages in Brest-Litowsk stellten die Deutschen die Feindseligkeiten nicht ein. Sie besetzten die Nordküste des Schwarzen Meeres,  Odessa und marschierten in Richtung des Donez-Kohlebeckens. Weiter ostwärts vordringend erreichten sie den Don, den Nordkaukasus und die unteren Wolgaprovinzen. Petrograd wurde von den deutschen Luftschiffen bombardiert und musste evakuiert werden.
 
Die Lage verschärfte sich weiter durch das Losschlagen der ‚Tschechischen Legion‘. Die Tschechen, Kriegsgefangene, die von den Bolschewiki nicht entwaffnet wurden, waren eine politisch unbeständige Gruppe. Ursprünglich wollten sie gegen die Reste der österreichisch-ungarischen Armee kämpfen, wandten sich aber im Mai 1918 gegen die Sowjets und besetzten gemeinsam mit der weißen Armee Koltschaks große Teile des Wolgagebietes.
 
Die mehr schlecht als recht ausgerüsteten ‚Anfänge‘ der Roten Armee befanden sich auf einem ununterbrochenen Rückzug. Moskau war schließlich bedroht, das Zentralexekutivkomitee der Sowjets erklärte die Republik „für in Gefahr“. Die Offensive der  ‚Tschechischen Legion‘ gab das Signal zur Eskalierung des Bürgerkrieges, der bis 1920 andauern wird und in dem die Sowjets mehr als einmal kurz vor ihrem Sturz stehen sollten.
 
Der Sommer 1918 war dabei einer der kritischsten Zeitpunkte. “Die meisten Grenzgebiete waren im Besitz der Weißen oder unter deutscher oder türkischer Besetzung. Die besten nahrungsmittelproduzierenden Gebiete waren größtenteils verloren oder von Zentralrußland, wo die Sowjets herrschten, abgeschnitten. Die Intervention der Alliierten hatte begonnen.“ (R.V. Daniels, Das Gewissen der Revolution)
 
Daraufhin verboten die Bolschewiki den Privathandel und griffen zum Mittel der Requisition bei den reichen und mittleren Bauern.
 
DER KRIEGSKOMMUNISMUS
 
Die Bolschewiki begannen „Komitees der Dorfarmut“ zu organisieren. Sie trieben die Klassenspaltung im Dorfe voran und verbündeten sich mit der halbproletarischen Dorfarmut. Erst recht die Versorgung der Armee zwang sie dazu. „Wenn die Requisitionen den Bürgerkrieg zwischen den Kulaki und der Dorfarmut bedeuten, dann ‚Hoch dem Bürgerkrieg! „‚(L. Trotzki)
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, auf die soziale Geographie hinzuweisen. Feste Verbündete des hungernden Proletariats der Städte des Nordens und Zentralrußlands waren die halbproletarischen Schichten, die damals im Moskauer Gebiet, in den oberen Wolga- und den nördlichen Dwinaprovinzen mit ca. 40% der Landbevölkerung vertreten waren – der reiche Kulak aber bloß mit 10%. In den südlichen Provinzen machten hingegen die Kulaken ungefähr 30% im Schnitt aus, die mittlere Bauernschaft 30% und die Halbproletarier rund 20% (aus der „Landwirtschaftlichen Statistik“, Petrograd 1917). Preobrashenski gab ähnliche Angaben für 1921 und zieht folgende Konsequenz: “Vollkommen ruhig sind der Norden und das Industriezentrum, d.h. die getreidearmen Gouvernements. Die Bewegung (der Bauernaufstände -e.p-.) gruppiert sich in den getreidereichen Gouvernements, in denen die Bauernschaft von ausbeuterischen Elementen stark durchsetzt ist.“ (E. Preobrashenski, Ein neuer Zeitabschnitt)
Ab Anfang 1918 revidierte die bolschewistische Parteiführung das alte Konzept der Arbeiterkontrolle. Das wirtschaftliche Chaos in der Industrie verlangte nach einer Zentralisierung der industriellen Produktion. Lenin trat ab dem März 1918 ganz offen für die Stärkung der Betriebsleiter und die Einführung einer straffen Arbeitsdisziplin ein. Der im Dezember geschaffene Oberste Volkswirtschaftsrat sollte autonom handeln und die Wirtschaft organisieren können, ohne zu sehr von den Organen der Arbeiterkontrolle abhängig zu sein. Im Eisenbahnwesen, das so gut wie funktionsunfähig war, erhielt das Volkskommissariat für das Verkehrswesen „diktatorische Vollmachten“, um eine arbeitsfähige Verwaltung zu schaffen. “Die Revolution fordert eben im Interesse des Sozialismus die unbedingte Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses.“ (Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht)
 
Mit der Politik des Kriegskommunismus geriet die KPR in einen scharfen Konflikt mit der begüterten Bauernschaft und über sie schließlich auch mit den Kleinbauern samt jenen proletarischen Schichten, die noch in Verbindung mit dem Dorf standen. Preobrashenski berichtet über diese Zeit Mitte 1918, daß einzelne Teile der Arbeiterschaft, „die in ihrer Lebenshaltung dem Kleinbürgertum am nächsten standen, offen in das Lager der Tschechoslowaken übergingen (ein Teil der Arbeiter aus den Werken Wotkinsk, Ishesk, Polewsk, Slatoustowsk u.a.m.).”
 
Weiter entwickelten sich Widersprüche zur Stimmung von Teilen des städtischen Proletariats. Die bolschewistische Politik stieß mit jenen Schichten der Arbeiterklasse zusammen, die sich nicht der straffen zentralisierten Wirtschaftsführung und den Forderungen nach einer strengen Arbeitsdisziplin fügen wollten. Die anhaltende Lebensmittelkrise der Städte weitete diesen Unmut selbst auf Kernschichten des Proletariats aus. Ebenso wie die Krise im Verhältnis zur Bauernschaft, wird diese Problematik der Unzufriedenheit in Arbeiterschichten die Bolschewiki den ganzen Bürgerkrieg hindurch bis 1921 beschäftigen, wo sie sich erneut zum Äußersten zuspitzte. Hunderttausende Bauern, Handwerker usw. gingen während des 1. Weltkrieges in die Städte, um sich dem Militärdienst zu entziehen, bzw., um mit Fabriksarbeit höhere Verdienste zu erlangen. Der Bürgerkrieg wiederum, mit seinem Elend und den Hunger der Städte, drängte massenweise proletarische Schichten auf das Land. Ebenfalls Hunderttausende von Arbeitern aus der Avantgarde der Russischen Revolution ‚verschwanden‘ in der Roten Armee, im neuen Staatsapparat und der Partei. Resultat all dessen war eine Schwächung des proletarischen Elements und der bolschewistischen Positionenin den Fabriken.
 
Im Zusammenhang mit der militärischen Bedrohung durch die Konterrevolution – die Rekrutierungen für die aufzubauende Rote Armee litten unmittelbar unter der regierungsfeindlichen Stimmung in Schichten der Arbeiter- und Bauernschaft – entwickelte sich im Sommer 1918 eine tiefe Krise für die Sowjetherrschaft. „Nie war die Rätemacht ihrem Sturz so nahe, wie im Sommer 1918.” (Preobraschensky)
 
Die Klassen und Schichten der russischen nachrevolutionären Gesellschaft formten sich ihre Organisationen, setzten sie unter Druck, Parteien und Gruppierungen machten sich zu Fürsprechern bestimmter Klassen- und Schichteninteressen. In der Krise des Sommers 1918 konnten diese Konturen überdeutlich wahrgenommen werden.
 
MENSCHEWIKI, SOZlALREVOLUTIONÄRE UND ANARCHISTEN
 
Menschewiki und rechte Sozialrevolutionäre lehnten schon kurz nach der Oktoberrevolution den Sowjetkongreß als einzige legale Macht ab. Am 3. November 1917 brachen sie die Verhandlungen mit den Bolschewiki ab, um gegen die Verhaftungen von Kadettenpolitikern zu protestieren. Man hatte außerdem einige der bürgerlichen Zeitungen verboten, die offen zum bewaffneten Aufstand aufgerufen hatten. Nachdem Kadetten und rechte Sozialrevolutionäre Ende November einen Putschversuch unternahmen, wurden zuerst die Kadetten illegalisiert, nicht aber der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre. Den letzten Schritt ins Lager der Weißen setzten die Reformisten schließlich im September 1918, als sie in Samara unter dem ‚Schutze‘ der Tschechenund des weißen Generals Koltschak eine ‚demokratische‘ Gegenregierung bildeten. Ihre soziale Basis waren die Kulaken, von denen sie die Hauptparole von der „Freiheit des Getreidehandels“ unter Ausschaltung der Sowjets übernahmen. Der Ruf nach „Freiheit“ verband sich engstens mit der Forderung nach der Zerschlagung der Sowjetmacht. die sie daran hinderte. Gewinne aus ihren Lebensmittelreserven zu schlagen. So scharten sie sich vor allem im südlichen Wolgagebiet um die Konstituierende Versammlung in Samara, in der Hoffnung. von ihr die Handelsfreiheit zugestanden zu bekommen. Die Folgen konnten nicht ausbleiben. Indem sich die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiki in die Arme der Weißen geworfen hatten, um sich gegen die Sowjetmacht zu stärken, wurden sie schließlich selber Opfer der Konterrevolution Koltschaks. Hinter ihm standen die adeligen Emigranten, die sich nun in London und Paris aufhielten und nicht gewillt waren, den Bauern der rechten Sozialrevolutionäredie Privilegien des Großgrundbesitzes abzutreten. Am 18. November putschte Koltschak und errichtete seine Militärdiktatur, die offen die alte feudale Ordnung wieder installierte. Eine Reihe sozialrevolutionärer und menschewistischer Führer wurde erschossen.
 
Die Mittelbauern schwankten zwischen dem Kulaken und der Sowjetmacht und orientierten sich zuerst an den Erfolgen der weißen und roten Armeen. Das Kleinbauerntum fürchtete sich vor einer konterrevolutionären Entwicklung. Seine Masse unterstützte keineswegs die Konstituierende Versammlung, da es dahinter die feudale Ausbeutung erkannte. Auf der anderen Seite sahen die Kleinbauern ihre Interessen durch die Sowjetmacht bedroht, die unter dem Druckdes Krieges und der allgemeinen Not mit ihren Arbeiterabteilungen und den Halbproletariern des Dorfes oftmals die letzten Lebensmittelvorräte mitnahmen. Im Chaos des Bürgerkrieges schürten die Exzesse rotgardistischer Abteilungen die kleinbäuerliche Feindschaft gegen die Diktatur des Proletariats noch weiter. Zwischen Roten und Weißen versuchten sie deswegen, einen eigenen Weg zu gehen. Dem entsprach in der Hauptsache die Politik der linken Sozialrevolutionäre , und mit ihnen in diesen Fragen in enger politischer Verwandtschaft – der Anarchisten. Sie nahmen gegen die Requisitionen des Kriegskommunismus und gegen die Komitees der Dorfarmut Stellung. Die Bolschewiki würden in den Dörfern einen unsinnigen Bürgerkrieg provozieren, anstatt mit den Bauern über eine vernünftige Lösung zu beraten. Der Bauernschaft sollte es freistehen, ungehindert von bolschewistischen Kommissaren, ihre Kommunen aufzubauen.
 
Noch zu Anfang des Jahres liefen in den Landkommissionen der Sowjets solche Diskussionen. Die Bolschewiki hatten mit den linken Sozialrevolutionären eine Regierungskoalition gebildet. Ihr Agrarprogramm wurde übernommen. und die linken Sozialrevolutionäre erhielten 50% der Delegiertensitze in der Landkommission.
Indes, die sich gegen Mitte 1918 verschärfende Situation ließ friedliche Kooperation nicht mehr zu. Die Bolschewiki gaben ihre konziliante Haltung auf, ab da verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Kommunisten und ‚Linken‘ ständig mehr. Die Rote Armee mußte unverzüglich versorgt werden, die Städte waren von Hunger und Verzweiflung aufgestachelt, die Bauernschaft spaltete sich offen auf  auch ohne bolschewistisches Zutun, ob es nun linke Sozialrevolutionäre und Anarchisten wahrhaben wollten. Ein Teil der Kleinbauern stellte sich in dieser Zeit sogar auf die Seite der rebellierenden Kulaken und leistete bewaffneten Widerstand. „In Twer, Tula und Ryasan wurden regelrechte,  Schlachten ausgefochten und die Dörfer halb zerstört.“(M.P. Price, Die russische Revolution)
 
Welche Positionen und Alternativen haben nun die Anarchisten im Sommer 1918 und später anzubieten? Im Kriegskommunismus erblickten sie die bolschewistische Gewalt um der Gewalt willen. Diese „ging auf die Bauern nieder, um ihnen alles abzunehmen, was der Staat(!) brauchte.“ (Volin, Die unbekannte Revolution 11) „Tausende von Bauern und andere ‚Bürger‘ wurden erschossen …Natürlich erwischte man vor allem die armen Teufel, die einen belanglosen Sack Mehl in die Stadt trugen, um mit ein paar Pfennigen ihr tägliches Auskommen zu verbessern, oder man ergriff Bauern, die nur ihren hungerleidenden Angehörigen in der Stadt unter die Arme greifen wollten. Die wirklich gefährlichen Spekulanten nahmen die Sperren mit Leichtigkeit, ein paar Schmiergelder genügten. Wieder einmal spottete die Realität im etatistischen System der ‚Theorie“ (ebenda). Ein ungeheurer Zynismus ist hier mit Lügen vermischt. Oder besser: Hier kommt haargenau die Stellung des bäuerlichen Elements zum Ausdruck, das zwischen Revolution und Konterrevolution zerrieben wird. Die Sowjetmacht erscheint ihm als Fortsetzung des zaristischen bzw. Kerenskiregimes. Alle forderten von ihm Kriegsdienst und hohe Abgaben. Der Zynismus Volins besteht darin, daß die ‚anderen Bürger‘ oft genug jene Zwischenhändler waren, die vom Hunger der Städte profitierten. Price beschreibt die Situation 1918 viel zutreffender. „Am folgenden Abend begegnete ich einem ‚Meschoschnik‘, d.h. einem Menschen, der mit einem Sack auf dem Rücken zwischen der hungrigen Stadt und dem Dorf hin und her wanderte und Getreide zu Wucherpreisen(!) verkaufte. Das war ein anderer, zu dieser Zeit der Revolution sehr verbreiteter Typus. Mein ‚Meschoschnik‘ war ursprünglich Bauer gewesen und hatte sich an dem allgemeinen Gebalge um den Beuteanteil, das eine Begleiterscheinung der Liquidierung der großen Landgüter war, in seinem Dorfe kräftig beteiligt. Er hatte dabei ein paar Stücke erstklassiges Vieh erobert, das er unverzüglich schlachtete, sowie ein paar Zentner Getreide, die er mit einem bedeutenden Obergewinn verkaufte, sich damit auf Kosten der Arbeit anderer bereichernd …Die neue Sowjetmacht schaffte ihm Verdruß. Er schilderte mit Entrüstung, wie ein Kommissar mit zwei Rotgardisten ihm bei einer früheren Gelegenheit seinen Sack weggenommen und ihn einen ‚Wucherer‘ genannt hatte. In der letzten Zeit hätte er jedoch gelernt, auch mit dieser neuen Tyrannei fertig zu werden. Er vermied einfach die Berührung mit der rotgardistischen Postenkette, indem er unterwegs aus dem Zug stieg und das letzte Ende zur Stadt mit einem Sack auf dem Rücken zu Fuß zurücklegte. Genau wie die zaristische Regierung und das Regime Kerenskis für ihn die Unterdrückung selbst gewesen waren, weil damals die Last des Gutsherrn auf ihm lastete und man ihn gegen den äußeren Feind an die Front schickte, so sah er nun in der Sowjetmacht ein bloßes Gegenstück zu jenen vormaligen Regierungsformen, weil sie ihm, nachdem er endlich das Land in seine Hand bekommen hatte, nicht gestatten wollte, seine Erträgnisse nach freiem Belieben zu verkaufen. Freiheit hieß in seinen Augen das Recht, von den hungrigen Städten Tribut zu erheben.“
 
Zur obigen anarchistischen Ignoranz der proletarischen Gesamtinteressen kommt nun noch die Realitätsferne angesichts der Krisensituation von 1918, die selbstverständlich ebenso eine soziale Zerrüttung bedeutete. Die Anarchisten prangern die Korruption und Gewalttätigkeit der Rotgardisten und ihrer Kommandanten an, die ohne Zweifel massenweise vorhanden war. Unzählige Fälle von persönlicher Bereicherung, Unterschlagung usw. kamen vor. Doch statt die Konsequenzen daraus zu ziehen, der Korruption und anderen Übeln mit geeigneten Mitteln zu begegnen (Stärkung der Kontrolle, Zusammenfassung der rotgardistischen  Abteilungen Zentralisierung der Befehlsgewalt u.a.), öffneten sie dem Chaos noch weiter die Tür. Ein Teil von ihnen propagierte offen den „freien Handel“. Und was anderes bedeutete ihre Feindseligkeit gegenüber dem Kriegskommunismus und dem Verbot des Privathandels? Dies war die ‚Lösung‘ des Meschoschniks und Kleinbauern – eine Lösung, die in erster Linie jedoch dem Kulaken zugute gekommen wäre. Andere wieder, die ‚echten‘ Anarchisten. sagten gleich gar nichts, außer ihrem Zetergeschrei gegen die Bolschewiki. Die „Massen“ sollten in den „freien Kommunen“ und den „parteilosen Sowjets“ selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen wollten. Im wesentlichen entsprach das dem Konzept der Narodniki des 19. Jahrhunderts, von der feudalkapitalistischen Klassengesellschaft übergangslos eine freie Bauerngesellschaft zu errichten. Die ‚Linken‘ sprachen 1918 allerdings nur mehr für einen Teil des Dorfes, dessen Gesamtheit in einer „Bauernkommune“ zusammenzufassen wollen, ein Unding war. In der Südukraine sollte sich bald zeigen, daß solche Projekte nur im kleinbäuerlichen Milieu über eine gewisse Zeit lang möglich sind, sie aber auf sich alleine gestellt, abgesehen von den gigantischen Belastungen durch den Krieg, auf längere Sicht nicht bestehen können. Das ist auch ein Grundproblem solcher bäuerlicher Bewegungen, die eine Zeit lang imstande sind, selbständig zu agieren. Die Arbeiterklasse ist bestrebt, die Probleme der Wirtschaft im nationalen Maßstab zu lösen. Ihre Stellung in der industriellen Produktion läßt gar keine andere Erkenntnis zu. Der Bauer hingegen geht die Fragen im lokalen Rahmen an und verhält sich in der Hauptsache der Zentralisierung feindlich gegenüber. Ein Fortschritt ist gerade für den Kleinbauern nur auf zwei Arten möglich. Zum einen, wenn er sich auf die Seite der Arbeiterklasse stellt. Das ist die progressive Perspektive für das ländliche Kleinbürgertum. Indem das siegreiche Proletariat den Bauern wirtschaftlich unterstützt, vermag er die Rückständigkeit seiner zersplitterten Produktionsweise und die Vorteile einer planvollen, zentralisierten Landwirtschaft zu erkennen und sich zum sozialistischen Standpunkt aufzuschwingen. Aber das dauert Jahre, Jahrzehnte, benötigt Zeit und Gelegenheit, die im nachrevolutionären Rußland meistens nicht gegeben war.
Zum anderen hat der kleine Bauer das elementare Interesse aller Kleinbürger, in der Klassenhierarchie emporzukommen. In Rußland hatten sie die Aufteilung des Großgrundbesitzes weidlich dafür ausgenützt, und der Zusammenschluss in Kommunen war oft Ausdruck ihres Interesses eine Stufe höher zu steigen und selber Kulak zu werden. Umgekehrt, wenn dies nicht gelingt, wächst das Abhängigkeitsverhältnis  zum reichen Bauern wieder an, steigt die Schuldenlast usw., das kulakische Element beginnt wieder zu dominieren.
 
Auf die Klassenspaltung in der Bauernschaft und die Unselbständigkeit wußten die ‚Linken‘
nichts zu antworten. In der Frage der Organisierung der Industrie traten sie für die Aufrechterhaltung der Zersplitterung ein, in der Landkommission propagierten sie eben die „Bauernkommunen“ und sprachen sich gegen die Errichtung von Musterfarmen aus. Preobrashenski schreibt über den „blödsinnigen Aufstand“ der linken Sozialrevolutionäre im Juni 1918 ganz richtig,“daß sie selbst nicht wußten, was sie fordern sollte(n) .“ Dem Chaos des Landes hatten sie nichts entgegenzusetzen. „Inmitten des Wirrwarrs stieß man jedoch gelegentlich auf Leute, die sich bemühten, eine gewisse Ordnung in das Ganze zu bringen. Bemerkenswerterweise waren es fast stets Bolschewisten.“(Price, ebd.)
 
Die offene Konfrontation mit den Bolschewiki brachen die linken Sozialrevolutionäre und Anarchisten jedoch nicht in wirtschaftlichen Fragen sondern in der Außenpolitik vom Zaune.
 
DIE UKRAINE NACH DER OKTOBERREVOLUTION
 
Im November 1917 hatte die bürgerliche Rada; gestützt auf die nationalistische Intelligenz und die Bauernschaft, in der Ukraine ihre Staatsgewalt errichtet. Der gesellschaftliche Grund dafür, .daß es nicht dem Sowjetsystem gelungen war, sich, wie im Norden, nach der Oktoberrevolution auszubreiten, liegt in einem hohen Maße an dem relativ großen Anteil der begüterten Bauernschaft. Das Proletariat war zahlenmäßig sehr schwach und auf die wenigen Industriezentren im Norden der Ukraine konzentriert Die Rada Petljuras vermochte in der ersten Zeit einen beträchtlichen Einfluß auf die Bauernschaft auszuüben. Es ist bezeichnend dass Volin diese Verzögerung der Revolution in der Ukraine auf die „Tradition der Wolnitza“ („freies Leben“) zurückführt und über die sozialen Wurzeln kein Wort verliert. “Während sich die Revolution in Großrußland ohne Schwierigkeiten verstaatlichen und schnell in die Zwangsjacke des kommunistischen Staates pressen ließ, stieß diese Verstaatlichung und diese Diktatur in der Ukraine auf beträchtlichen Widerstand.“ (Volin, Die unbekannnte Revolution III) Von wem wohl? ! Die Rada kooperierte zuerst mit der französischen Militärmission, die von ihr die Weiterführung des Krieges gegen die Deutschen verlangte. Dieses Ansinnen war absurd, denn die ukrainischen Massen waren ebenso wie die russischen Arbeiter und Bauern äußerst kriegsfeindlich eingestellt.
 
In der Folge arbeitete die Rada mit den Weißen um General Alexeieff am Don zusammen, um, schließlich im Jänner 1918 die Separatverhandlungen mit den Deutschen zu beginnen.Bis dahin hatten die Bolschewiki das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine respektiert und Brest-Litowsk, bei den Friedensverhandlungen mit dem deutschen Imperialismus, die eigenständige Delegation der Rada anerkannt. Die Gefahr, die sich nun durch einen Separatfrieden zwischen der Rada und dem deutsch-österreichischen Imperialismus anbahnte, relativierte jedoch das Recht auf Selbstbestimmung. Zudem breitete sich vor allem in den Industriegebieten der Ukraine das Sowjetsystem rasch aus, das dabei der brutalen Unterdrückung durch die Rada ausgesetzt war. “Das Recht auf nationale Selbstbestimmung wird von der Kleinbourgeoisie der Ukraine dazu mißbraucht, die Fabrikarbeiter und ärmeren Bauern des Rechts auf soziale Selbstbestimmung zu berauben. Der nationale Konflikt zwischen uns und der Rada ist daher ein Klassenkampf.“ (‚Prawda‘, 24.12. 1917) Die Bolschewiki wollten schließlich das Selbstbestimmungsrecht, das in erster Linie die bürgerliche Rada für sich ausnützte, nicht dem Weiterbestehen der Sowjetmacht und dem Klassenkampf überordnen.
 
ERSTE SOWJETHERRSCHAFT IN DER UKRAINE
 
Anfang 1918 erzielten die Sowjets in den Süd- und Ostprovinzen Fortschritte. Die roten Matrosen der Ostseeflotte überrannten die Don-Front, der Militärrat der Don-Kosaken floh in den nördlichen Kaukasus, und es wurde die Räterepublik am Don ausgerufen. Im Südwesten war die Revolution ebenfalls erfolgreich, doch machte sich hier in der Ukraine die miese Disziplin der roten Truppen äußerst schädlich bemerkbar. M.P. Price berichtete über jene Rotarmisten, die im Februar 1918 Kiew erobert hatten und in die Westukraine eingedrungen waren: “Der Abhub der alten Armee drang hier allmählich ein. Soldaten, deren Heimat weit im Osten war, und die sich an das parasitische Leben auf Kosten der Bevölkerung hinter der Front gewöhnt hatten, ließen sich zu jedem Abenteuer bereit finden. Sie wurden rasch zu Prätorianergarden und traten alsdann, fremd und gleichgültig, wie sie der Ukraine gegenüberstanden, als ‚Befreier des ukrainischen Volkes‘ auf den Plan. Angesichts des Mangels an Lebensmitteln und deren geordneter Verteilung lag es auf der Hand, daß sie bald in den verschiedenen Örtlichkeiten auf ihrem Wege zu plündern begannen.“ Price erzählt weiter, daß das Benehmen der roten Garden „in Kiew jeder Beschreibung spottete.“ Sie plünderten, “verhafteten und erschossen jeden, den sie auf der Straße ukrainisch reden hörten.“ Neben der von Price erwähnten Fremdheit der Rotgardisten in der Ukraine und dem Hunger dürfte auch noch der Gegensatz zwischen dem herabgekommenen Soldaten und dem begüterten ukrainischen Kulaken ein Grund für die Exzesse gewesen sein. Jedenfalls beeinflußte diese Episode das Verhältnis der ukrainischen Bauern, aber auch von Schichten der Arbeiterschaft zur sowjetischen Zentralmacht noch lange und tiefgreifend auf eine sehr negative Art und Weise.
 
BREST-LITOWSK, DIE ‚LINKE‘ UND DIE UKRAINE
 
Hier ist keine Gelegenheit, ausführlich auf die Meinungsverschiedenheiten in der Frage des Friedensschlusses mit der deutschen Kriegsallianz einzugehen. Die Differenzen gingen ebenso mitten durch die bolschewistische Partei. Einige Aspekte sollen doch erwähnt werden, weil zum einen die Kriegsfraktion in der KPR ähnlich argumentierte wie linke Sozialrevolutionäre und Anarchisten, und zum anderen Brest-Litowsk unmittelbaren Einfluß auf die Ereignisse in der Ukraine ausgeübt hatte. Sicherlich besaß Lenins Drängen auf einen sofortigen Friedensschluß, den er schon im Dezember 1917 forderte, gegenüber der Kriegsfraktion um Bucharin letztlich die realistischere Grundlage. Die russischen Schützengräben waren leer. Der deutsche Vormarsch seit dem Februar hatte die Unfähigkeit, revolutionären Widerstand zu leisten, deutlich genug bewiesen. Lenin strebte eine ‚Atempause‘ an und rechnete mit dem baldigen militärischen Zusammenbruch der deutschen und österreichischen Monarchien. Denn der deutsche Imperialismus würde selber an einem Frieden interessiert sein und seine Truppen nicht in der Weite Rußlands vergeuden wollen, die ihm dann im Westen fehlen würden. Doch jetzt Anfang 1918 war er noch nicht zusammen gebrochen und die Gefahr bestand weiter, daß seine Kräfte ausreichten, Sowjetrußland zu zertrümmern. Außerdem fürchtete vor allem Lenin eine all imperialistische Allianz.
 
Die Argumente der Gegner eines Friedensschlusses setzten an der‘ Atempause‘ Lenins an, die sie für eine Illusion hielten. Tatsächlich setzte der deutsche Imperialismus seinen Vormarsch auch nach der Unterzeichnung im März fort. Die ‚Linke‘ in der Partei meinte, daß er sich dadurch schließlich schwächen würde, Hunderttausende seiner Truppen einsetzen müsse und allem voran, seine kriegshetzerischen Absichten offen vor dem internationalen Proletariat offenbaren würde. Die Bedingungen für die deutsche und österreichische Revolution könnten dadurch einen Aufschwung erhalten. Ein Vertrag hingegen würde die Klassenfront zum deutschen Imperialismus nur verwischen, die internationale Arbeiterklasse enttäuschen und die Kampfbedingungen des deutschen und österreichischen Proletariats verschlechtern, ohne die militärische Gefahr wesentlich zu mindern. Bucharin propagierte den revolutionären Krieg und hing damit einem Hirngespinst nach. Trotzki erkannte mit Lenin die wirkliche militärische Verfassung der russischen Armee, aber versuchte trotzdem noch Mitte Februar, also während der zügigen Offensive der Deutschen, eine Unterzeichnung hinauszuzögern. Er hoffte auf revolutionäre Erhebungen in Österreich und Deutschland, bzw. später auch auf ein militärisches Bündnis mit der Entente, was die Bedingungen schlagartig geändert hätte. Nur als Anmerkung gegen die heutige Praxis der Sowjetbürokraten in der Außenpolitik sei an dieser Stelle Radeks Auftreten bei den Friedensverhandlungen erwähnt, der sich selbst in Brest-Litowsk die Gelegenheit nicht nehmen ließ, an die deutschen Soldaten Flugblätter zu verteilen, in denen zum Sturz der deutschen Regierung aufgerufen wurde.
 
Am 18. Februar jedoch verschlechterte sich die Lage akut. Die Deutschen hatten Dwinsk erobert und standen vor der Ukraine. Auf die jetzt den Deutschen angebotenen Friedensverhandlungenerhielt die sowjetische Regierung eine noch ungünstigere Antwort als früher: Die Sowjetmacht sollte demobilisieren, Lettland, Estland, die Ukraine und Finnland müßten aufgegeben werden. Diese Bedingungen wurden vordererst einmal mit knapper Mehrheit im ZK der KPR angenommen.
In der Debatte zum Frieden ging es im großen und ganzen um die Fragen, ob die deutschen und österreichischen Truppen imstande sind, eine genügend starke Offensive vorzutragen, die nicht bloß ausreichen würde, die Sowjets aus Moskau und Petrograd zu vertreiben, sondern sie überhaupt zu vernichten.
 
Nachträglich angestellte Weisheiten, noch dazu wenn sie in Österreich 1979 geschehen, haben immer den Nachteil realitätsfern zu sein. Die einzig‘ relevante Frage, die sich dennoch stellt ist, ob ein Vertragsabschluß bereits im Dezember 1917, wie ihn Lenin verlangt hatte, tatsächlich jene Vorteile gebracht hätte, von denen heute die KP-stalinistische Geschichtsschreibung berichtet. Von Bucharin bis Trotzki seien alle Leningegner in Brest-Litowsk der Revolution in den Rücken gefallen. Etwas anspruchsvoller ist die Problematik hingegen, wenn man in Betracht zieht, daß die Verbitterung und Enttäuschung der revolutionären Massen bedeutend schwerer zu Ungunsten der Bolschewiki gewogen hätten als ohnedies fragwürdige Landbehalte für die Sowjets, wenn der Friede schon vor den März 1918 geschlossen worden wäre. Radek faßte dies auf den Notstandssowjetkongress am 6. März in der Feststellung zusammen, daß die bolschewistische Politik in Brest-Litowsk kein Mißerfolg war, „sondern eine Politik des revolutionären Realismus.“ Es sei viel günstiger gewesen. daß die Sowjets erst nach der deutschen Invasion Frieden geschlossen haben und so den fortgeschrittenen Arbeitern der ganzen Welt demonstrieren konnten. daß sie dazu gezwungen wurden,
 
Damals wie heute ist jedenfalls jede Spekulation müßig. ob sich die russischen Massen durch eine imperialistische Invasion weit in das Land hinein noch einmal hätten aufrütteln lassen, wie dies damals die Bucharinfraktion einschätzte. Ohne Zweifel hat der Bürgerkrieg bewiesen, welche immensen Kräfte in den ausgehungerten Menschen gesteckt haben. Doch mehr als einmal hing der Sieg nur an einem seidenen Faden. der reißen hätte können, wenn etwa Petrograd oder Moskau gefallen wären, wodurch die Mobilisierung der Weißen beschleunigt  worden Eine Mehrheit der bolschewistischen Kriegsfraktion hätte die Spaltung der Partei bedeutet. Die endgültige Niederlage der Sowjetmacht wäre unter diesen Umständen gewiss gewesen.
 
Wie so oft verstanden die Anarchisten nichts von der allgemeinen Lage der Sowjetmacht. Ihre Argumentation zu Brest-Litowsk verbleibt im ukrainischen kleinbäuerlichen Milieu und ignoriert die tragische wirtschaftliche Lage im gesamten Sowjetbereich und die gefährliche Situation an der gesamten Bürgerkriegsfront. Auf der Zentralsowjetexekutive am 24. Februar, nach den Ultimatum der deutschen Stabsführung, revidierten die linken Sozialrevolutionäre ihre frühere Position, mit den Mittelmächten überhaupt nicht zu verhandeln, und verlangten ähnlich den Vertretern der bolschewistischen Kriegsfraktion, den Rückzug der Sowjets in das Landesinnere. Nach ihrer Stimmniederlage zogen sie sich aus den Rat der Volkskommissare zurück. Im März, nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages, hielten sie sich an den Beschluß des Sowjetkongresses , der den Vertrag ratifiziert hatte, ohne aber den Vorwurf vom Verrat der Revolution aufzugeben.
 
Die Anarchisten jedoch beschlossen, nicht stillzuhalten. Die Schärfe erhielt die Kontroverse durch die angespannte Situation in der Ukraine. Die deutsche Kriegsmaschine wütete unerbittlich gegen die aufständischen Arbeiter und Bauern, während die Einheiten der Roten Garden jenseits der ukrainischen Grenze nicht eingreifen konnten. Die Deutschen setzten zuerst wieder die Rada ein, um sie kurz darauf zu zerschlagen und endgültig den Weg für die feudale Restauration und die Errichtung der Marionettenmilitärdiktatur des Hetman Skoropadski zu ebnen. Teile der bäuerlichen Massen resignierten, andere schlossen sich dem verbissenen Abwehrkampf der Partisanenabteilungen an, von denen nun jene Machnos die bedeutendste wurde. Der gestürzte Petljura verfügte ebenfalls noch über Truppen, die sich ebenfalls gegen die Besatzer stellten.
Der Bolschewismus war zu dieser Zeit bei den bäuerlichen Massen ziemlich diskreditiert. Seine Requisitionspolitik und das chauvinistische Verhalten der Rotgardisten während der ersten Sowjetherrschaft Anfang des Jahres, die notgedrungen eine sehr oberflächliche bleiben musste, und jetzt der Brest-Litowsker Vertrag mit dem deutschen Imperialismus stärkte den Nationalismus und die Machnobewegung.
 
‚Russische Partisanengruppen , die unter dem Einfluss der Anarchisten und linken Sozialrevolutionäre standen, drangen immer wieder in die Ukraine ein, griffen die deutschen Militärs an und gefährdeten den Frieden. Zuerst nahmen die Bolschewiki eine kompromißlose Haltung ein und .versuchten, die anarchistischen Provokationen gegen die Deutschen zu unterbinden. Ein grausamer Kleinkrieg entwickelte sich, bolschewistische Vertreter wurden ermordet, die Bolschewiki antworteten mit Gegenmaßnahmen. (Später, im Laufe des Jahres, als sich die militärische Situation des deutschen Imperialismus ständig verschlechterte, begannen die Bolschewiki den Guerillakampf in der Ukraine wieder zu unterstützen) .Im April kam der deutsche Gesandte Graf Mitbach nach Moskau. Daraufhin riefen die Anarchisten offen zum bewaffneten Widerstand auf und unternahmen Anschläge auf ausländische Delegierte. Es sollte an dieser Stelle nicht vergessen werden, daß dies die Zeit des sich zuspitzenden Bürgerkrieges war, sich die soziale Krise auf dem Land verschärfte und auch in den Städten Unmut geäußert wurde. Die Bolschewiki konnten in dieser Situation den Treiben der Anarchisten nicht mehr länger tatenlos zuschauen. Sie lösten die anarchistischen Klubs mit militärischer Gewalt auf und verhafteten die Führer für einige Zeit. Später traten viele der Anarchisten entweder in die Partei der linken Sozialrevolutionäre ein oder verließen Moskau, wo sie relativ stark gewesen waren, I um sich in der Ukraine der Machnobewegung anzuschließen.
 
In den Augen der Anarchisten stellen sich die Aprilereignisse als ein für die bolschewistische Diktatur typischer Tobsuchtsanfall dar. Für Volin sind es“fadenscheinige, absurde Vorwände“, die zur Unterdrückung der ‚Föderation der anarchistischen Gruppen von Moskau‘ u.a. führten.
Die Unterdrückung der linken Sozialrevolutionäre im Juli interpretiert Volin ähnlich, doch interessiert sie ihn nur noch „am Rande“, da es sich um einen „Kampf zwischen zwei Parteien um die Macht“ handelte. (Volin, Die unbekannte Revolution II)
Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen der Bolschewiki mit der ‚ Linken‘ fiel mit der schweren Sommerkrise von 19]8 zusammen. Im Juli fand der 5.Sowjetkongreß statt, dem eine intensive Propagandakampagne der linken Sozialrevolutionäre gegen die Bolschewiki vorangegangen war. Sie verlangten nun die Aufhebung des Friedensvertrages und den revolutionären Krieg. Sie bezichtigten Lenin und Trotzki des Verrats und drohten mit ihrem Terror. Am 6. Juli ermordeten die Sozialrevolutionäre Blunkin und Andrejew den Grafen Mirbach. Kurz darauf versuchten sie, die Regierung zu stürzen. Sie verhafteten die bolschewistischen Führer der Tscheka – sie selbst waren hohe Tscheka-Beamte gewesen – und besetzten Post- und Telegrafenämter. Ihr Putschversuch scheiterte nach zweitägigen Kämpfen, die Moskauer Bevölkerung war gleichgültig geblieben. Noch immer reagierten die Bolschewiki relativ tolerant. Die Führer des Aufstandes wurden zwar verhaftet, jedoch einige Monate später begnadigt. Blunkin etwa schloß sich den Bolschewiki an und trat unter Stalin der trotzkistischen Opposition bei. Ein einziger sozialrevolutionärer Tscheka-Beamter, Alexandrowitsch, der seine Position als stellvertretender Tscheka-Chef mißbraucht hatte,  wurde hingerichtet.
 
1918 -1920: DER BÜRGERKRIEG GEHT WEITER
 
Der Vormarsch der Tschechen hielt weiter an. Anfang September kam es dann zur Wende. Die militärischen Erfolge für die Rote Armee fielen allerdings mit einer Attentatserie auf führende Bolschewiki zusammen, die sich schließlich zu einer ernsten Gefahr ausweiteten: Anschlag auf Lenin (durch die Sozialrevolutionärin D. Kaplan), auf Wolodarski durch einen Sozialrevolutionär und Uritzki wurde durch einen rechten Studenten ermordet. Gelegte Brände, die die Heizreserve Moskaus vernichten, brechen aus. In bürgerlichen Kreisen denkt man an bewaffneten Aufruhr. Eine Katastrophe zeichnet sich ab. Die Bolschewiki greifen jetzt zum letzten Mittel: dem roten Terror. Ehemalige Offiziere der zaristischen Armee, Kadetten, Bourgeois werden als Geisel gefangen genommen. Für jeden ermordeten Kommunisten sollen zehn von ihnen erschossen werden.
 
Vor diesen Septembertagen 1918 beschränkte sich die Tscheka im allgemeinen auf Verhaftungen. In den 6 Monaten nach dem Dezember 1917 verhängte sie bloß 22 Todesurteile, jetzt mitten im Bürgerkrieg und dem gegenrevolutionären Terror ändert sie nicht nur ihre Gangart, sondern ihr Apparat und ihre Macht werden von nun an zügig ausgebaut. In Petrograd werden schließlich 500 bürgerliche Elemente verhaftet und ohne vorherige Untersuchung erschossen. Zweifellos waren viele von ihnen unschuldige Menschen, die mit den konterrevolutionären Machenschaften nichts zu tun hatten. Im März 1920 teilte die ‚Iswestia‘ mit, daß in den letzten vier Monaten des Jahres 1918 etwa 6000 hingerichtet worden waren. Diese Abschreckung stellte sich schließlich als ein machtvolles Mittel heraus.
 
Von Kautsky bis heute (siehe den Artikel Trotzkis „Terrorismus“) waren Leute bereit, sich über den roten Terror zu empören. Exzesse sind im russischen Bürgerkrieg auf beiden Seiten in einem unvorstellbaren Ausmaß vorgekommen. Doch ein grundlegender Gedanke dabei müßte wohl auch sein, die verschiedenen politischen Inhalte beider Seiten voneinander zu unterscheiden. Der weiße Terror versuchte die feudalkapitalistische Militärdiktatur wieder zu errichten, die Sowjetmacht hatte die Kapitalistenklasse gestürzt. Wäre die Russische Revolution der Beginn einer europäischen Revolution gewesen, die jede ausländische Intervention und damit die weiße Gegenrevolution verunmöglicht oder zumindest gehemmt hätte, so wäre sie ohne Zweifel ein relativ unblutiges Ereignis geblieben, das sie im Oktober 1917 noch gewesen war. Doch die Entwicklung verlief anders. Nicht die Bolschewiki hatten den Bürgerkrieg heraufbeschworen. Ihn jedoch zu überleben, benötigte es des „Eisens und Blutes“, von dem Trotzki spricht. “Wer der Tatsache des Sowjetsystems revolutionäre historische Bedeutung beilegt, der muß auch den roten Terror anerkennen.“ (L. Trotzki, Terrorismus) Ja noch mehr, mit der Ablehnung des roten Terrors wird logischerweise auch die Oktoberrevolution abgelehnt, die ja die Weißen und Alliierten zunichte machen wollten, abgelehnt werden da die Kämpfe der russischen Arbeiter und Bauern schon vor dem Oktober gegen Krieg, Hunger und feudale Unterdrückung. Deutlich genug zeigt sich hier, wessen Geistes eigent1ich diese ‚Menschenfreunde‘ waren und sind.
 
Das Wolgagebiet war nun wieder im Bereich der Sowjetmacht. Damit hatte auch die Gegenregierung in Samara ausgespielt. Im November kämpft die Rote Armee gegen Koltschak im Ural, gegen Denikin und Krassnow in Südrußland und am Don. Inzwischen mußten sich die deutschen Truppen aus der Ukraine zurückziehen. Der deutsche Imperialismus war im 1. Weltkrieg endgültig geschlagen worden, und in Deutschland nahm gerade die Novemberrevolution ihren Anfang.
 
.DER BÜRGERKRIEG IN DER UKRAINE
 
In der Ukraine war die Widerstandsbewegung gegen die deutschen Invasoren im November sehr kräftig angeschwollen. Die Partisaneneinheiten Machnos fügten den sich zurückziehenden deutschen Truppen und den Weißen empfindliche Schläge zu. Die Kampfhandlungen der Roten Armee im Nordkaukasus entlasteten Machno in der Südukraine. Dennoch war er nicht in der Lage, in der gesamten Ukraine Fuß zu fassen. Petljura, der bedeutendste Führer der Rada, nützte die Gelegenheit und ließ im Dezember 1918 seine Truppen als Befreier in Kiew einziehen. In den nächsten Wochen vermochte er seine Macht auszudehnen, wobei er im Süden auf den Widerstand Machnos traf.
 
Geschwächt durch seine bürgerliche Unfähigkeit und verräterische Vergangenheit konnte sich das Petljura-Regime allerdings nicht lange halten. Es verlor in der ukrainischen Bauernschaft rasch an Einfluß und wurde zudem mit den aus dem Norden anrückenden roten Truppen konfrontiert. Ende Dezember mußte Petljura Kiew räumen, Charkow wird von der Roten Armee erobert und die 2. Ukrainische Räterepublik ausgerufen. Die Sowjetmacht kann sich über weite Teile der Ukraine ausbreiten.
 
Die Kraft ihrer Herrschaft liegt in den Industriezentren, aber auch in der Bauernschaft trifft sie zuerst nicht auf jene schroffe Feindseligkeit, mit der sie noch im Sommer fertig werden mußte. Große Teile ihrer Truppen bestanden nun aus Einheimischen, und die Bauernmassen hatten die Herrschaft Skoropadskys mitmachen müssen und größtenteils ihre Illusionen in die ‚Selbstbestimmungs‘-Politik Petljuras abgelegt. Dennoch bleibt die Sowjetherrschaft weiter oberflächlich. Der Bürgerkrieg frißt die Sowjetgebiete arm, und die Bolschewiki sind gerade in der fruchtbaren Ukraine gezwungen, die Requisitionspolitik weiter zu führen. Die Stimmung bäuerlicher Schichten schlägt bald wieder gegen die Kommunisten um, was sich sehr negativ auf die Verfassung der roten Truppen auswirkt. Die Ruhe an der militärischen Front dauert ebenfalls nicht lange. Im April beginnen die weißgardistischen Truppen Denikins eine großangelegte Offensive, die sie bis in den Sommer 1919 über Charkow, Oryol und Tula bis knapp vor Moskau bringen wird. Das wirtschaftliche und militärische Chaos der Sowjetukraine wurde zudem noch durch schwere Differenzen in der Partei begünstigt.
 
Die Ukraine war auch nach der innerparteilichen Niederlage in der Frage des Brest-Litowsker Friedens eine Bastion der ‚Linken‘ geblieben. Sie hatten es außerdem verstanden, sich eine gewisse Eigenständigkeit zu bewahren und formal mit der KPR gleichberechtigt zu sein. Im März wurde dies von der Zentrale in Moskau erfolgreich in Frage gestellt. Eine weitere Differenz bestand in der Bauernfrage, in der die ‚Linken‘ der KPU (Kommunistische Partei der Ukraine) unzweifelhaft Recht behalten sollten. Sie warnten seit 1918 eindringlich vor einer zu harten Politik gegenüber den ukrainischen Bauern. J. Jakowlew, der Führer der ‚Rechten‘, machte sich darüber lustig, und Moskau hörte nicht auf die Kritik. “Die Folgen der Zwangspolitik, die 1919 gegen die ukrainischen Bauern betrieben wurde, waren, wie alle Seiten später zugaben, verheerend. Die große Masse der ukrainischen Landbevölkerung wurde dem Regime entfremdet.“ (R.V. Daniels, Das Gewissen der Revolution)
 
Der Milde der ‚Linken‘ gegenüber der Bauernschaft entsprach ein loyalerer Kurs gegenüber den ungebundenen roten Garden und Partisanenabteilungen. Dies widersprach total den Interessen der gesamten Roten Armee. Zum Höhepunkt des Bürgerkrieges Mitte 1919 erreichte die Front, an der die Rote Armee zu kämpfen hatte die kolossale Länge von über 9 000 Kilometern. Schon vorher tritt Trotzki ,der Kriegsvolkskommissar, für eine stärkere Zentralisierung der Roten Armee ein. Koltschak im Ural,  Denikin im Süden, die Franzosen in Odessa, Judenitsch droht aus dem Estland: Die Rote Armee mußte in den verschiedenen Frontabschnitten koordiniert agieren. Isolierte Aktionent ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse und Pläne an der Gesamtfront drohten großen Schaden anzurichten. Gefahren, die in der Bürgerkriegszeit sehr schnell zur Gefahr für die Existenz der Sowjetmacht anwachsen konnten. Trotzki beginnt, die Rote Armee in einheitlich gebildeten Divisionen und Regimentern zu organisieren und einem Oberbefehl zu unterstellen. Er strebt die Eingliederung der losen Partisanenabteilungen an. Als sich viele von ihnen nicht fügen wollen verlangt er ihre Auflösung. Dieser grundlegende Konflikt kommt auch in der Ukraineund hier am bekanntesten in der Problematik der Machnowiade immer wieder hoch. An ihm entzünden sich die wesentlichen Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten, wobei die Anarchisten selbstverständlich auf der Seite Machnos stehen. Ebenfalls in dieser Frage vertreten sie das Konzept der Zersplitterung. Die strategischen Schwierigkeiten im russischen Bürgerkrieg interessieren sie nicht, der gesamten weißen Bedrohung haben sie wieder einmal keinen erfolgversprechenden Gesamtplan entgegenzusetzen. Ihr Metier sind die „freien Partisanen“, wie sie sie in der Machno-Bewegung erblickten.
 
Unter den extrem ungünstigen Bedingungen im März/April 1919 schwindet dem Bolschewismus in der Ukraine mehr und mehr der Boden unter den Füßen.“Keine Agitation und kein Druck kann eine barfüßige, hungrige, verlauste Armee kampffähig machen“, telegraphierte damals Trotzki über den Zustand der Truppen nach Moskau. Der Großangriff Denikins im April fegte schließlich die Rote Armee und die kommunistischen Organisationen vollends hinweg.“Nach zerfahrenen Versuchen, hinter den weißen Linien eine Partisanenbewegung zu organisieren wurde das Zentralkomitee der KPU, jetzt bar jeder Autorität, von der russischen Parteiführung aufgelöst.“ (R.V. Daniels, Das Gewissen der Revolution)
 
In diesen Monaten gelang es der Machno-Bewegung sich bedeutend zu stärken. Noch im März hatte es zwischen  ihr und den Bolschewiki freundschaftliche Beziehungen gegegeben. In einem gemeinsamen Vertrag wurde diese Annäherung formuliert, sodaß die Machnowiade innerorganisatorisch unangetastet bleiben solle, jedoch politische Kommissare der Sowjetmacht aufnehmen müsse. Die Aktionen werden koordiniert und die Versorgungsfragen geregelt. In dieser Zeit, so schreibt Victor Serge, hätte es sogar zwischen Lenin und Trotzki Unterredungen gegeben, „den ukrainischen Anarchisten eine Art territoriale Autonomie zu geben.“ (V. Serge, Leo Trotzki, Leben und Tod)
 
Die Phase der gegenseitigen Loyalität hält jedoch nicht lange an. Denikins Angriff kommt eben dazwischen. Und jetzt prallen die verschiedenen Interessen der Sowjetrepublik und des ukrainischen Partisanenprovinzialismus Machnos voll gegeneinander. Zudem ist diese erste Hälfte des Jahres 1919 die Zeit, in der eine politische Neuausrichtung der Machnowiade erfolgt. Eine große Zahl der aus dem Zentrum und Norden Rußlands vertriebenen‘ Linken‘ und Anarchisten gelangen in die Ukraine (Baron, Arschinoff, Volin u.a.) und vermögen ganz wesentlichen Einfluß auf die Bewegung zu nehmen. Das anarchistische Gedankengut verschwindet ab da nicht mehr aus den Publikationen der Machnoleute. Am stärksten setzt sich die Gruppierung ‚Nabat‘ durch, die auf ihrem Kongreß im April 1919 in Elisabetgrad die gesammelte anarchistische Ideologie zusammenfaßt. Sie entwickelt den ihnen eigenen Haß auf die Sowjetmacht und philosophiert davon, daß die Machnowiade jene Macht sei, die die Bolschewiki stürzen müsse.
 
Die Rote Armee kämpft inzwischen um ihr Überleben. Trotzki warnte wiederholt, daß die “Rotarmisten in der Ukraine… am Verhungern (seien). Die Hälfte habe weder Schuhe noch Wäsche und sehr wenige besäßen Mäntel. Jeder sei bewaffnet, nur nicht die Soldaten. Die Kulaken hätten sich bei den Deserteuren mit großen Waffenmengen eingedeckt. Wenn der hungrige und unbewaffnete Rotarmist dem wohlgenährten Dorfwucherer entgegentrete, müsse seine Zuversicht schwinden… Die ukrainischen Bolschewiki befänden sich in einer defaitistischen Stimmung. Sie meinten, daß es kein schlechter Plan sei,  die Ukraine einmal kurze Zeitlang die Herrschaft der Weißen verspüren zu lassen – das würde die Leute von Illusionen heilen und sie den Bolschewiki wieder in die Arme treiben. Er versicherte dem Politbüro, daß er entschlossen gegen diese Stimmung antrete. Aber die ukrainischen Divisionen benötigten eine Atempause, eine Möglichkeit, sich zu waschen, anzuziehen und auf die Offensive vorzubereiten.” (aus einem Brief Trotzkis an das Politbüro der KPR, I. Deutscher, Trotzki I) Am 4. Juni 1919 gibt das rote Armeekommando den von Trotzki unterzeichneten „Befehl Nr. 1842“ heraus, in dem die Organisierung der Anarchisten unterbunden und ihr 4. Kongreß für illegal erklärt wird: sein Ergebnis könne nur eine neue „Öffnung der Front vor den Weißgardisten“ sein, „vor denen die Brigaden Machnos stets zurückweichen, dank der Unfähigkeit, der verbrecherischen Einstellung und dem Verrat ihrer- Kommandeure.“ (ebd.)
 
Die Konflikte mit den Machno-Truppen mehren sich im Juni 1919. Denikin greift immer wieder von seinen Basen im Nordkaukasus an und bedrängt sowohl Machno als auch die Rote Armee. Ersterer führt seitdem April eine Propagandakampagne gegen die Bolschewiki. Auf dem Territorium Machnos „wird ein scharfer Kampf gegen die bolschewistische Vergewaltigung geführt .“(‚Nabat‘ im Juni 1919) Die rotgardistischen Einheiten der Sowjetrepublik müssen sich oft und oft vor den Weißen zurückziehen und werden dabei zersprengt. Noch dazu von den Machno-Truppen angegriffen, stehen sie in erster Linie im Süden und Südwesten einer feindlich eingestellten Bevölkerung gegenüber, und in großen Teilen der Reste der Roten Armee wächst der Hass auf dieses ‚undankbare‘ Land. Jetzt passiert vieles, was der Führung der Roten Armee nicht recht ist. Die militärische Zusammenarbeit gegen die Weißen funktioniert schon längst nicht mehr. Die Bolschewiki werfen im Juni der Machnokommandatur vor, Denikin die Front geöffnet zu haben, der Vorwurf der anarchistischen Führer lautet genau gegenteilig: “Die Bolschewiki öffnen Denikin die Front, um ihm den Zugang zum freien Gebiet zu ermöglichen.“(‚Nabat‘) Die militärische Situation der Sowjetrepublik war inzwischen erneut prekär geworden. Denikin zog gegen Moskau und Judenitsch kam bis vor Petrograd. Eine fehlerhafte Kriegführung durch den Oberbefehlshaber der Roten Armee Kamenjew verschlechterte die Lage noch mehr. Im Oktober wurde sogar erwogen, Petrograd aufzugeben, um sich nicht vielleicht auch noch aus Moskau in den Ural zurückziehen zu müssen. Die Rätemacht war wieder einmal bedroht.
Im Juli 1919 wendet sich die schwache Rote Armee von ihren Stützpunkten in Kursk – Woronez gegen die Don-Kosaken, um Denikin zu umgehen und von seinen Basen abzuschneiden. Daraufhin  wird ihr Gros selbst von Denikin zurückgedrängt, und die Don-Kosaken fallen in der Südukraine ein. Wieder erheben die Anarchisten gegen die Bolschewiki den Vorwurf, mit den Weißen zu kooperieren. Ein Blick auf die Schlachtkarte des Juli 1919 genügt, um diesen Unsinn zu entlarven.
 
Denikin und die Don-Kosaken bringen die Großgrundbesitzer und ihre Privilegienherrschaft zurück. Der weiße Terror bricht über die Ukraine herein, währenddessen die Rote Armee vor Moskau kämpft. In der Ukraine wächst der Widerstand der bäuerlichen Guerillabewegung und bedroht in einem zunehmenden Maße die Versorgungslager der Weißen, die sich hier befanden. Zurückgebliebene versprengte Rotgardisten stoßen zu Machno und schließen sich ihm an.
Entlang der gesamten von den weißen Truppen besetzten Gebiete rührt sich nun die Gegenwehr.
Denikins Truppen weichen unter den Schlägen Machnos und der Roten Armee, die im Norden kämpft, zurück. Die Machnowiade dringt Anfang Oktober gegen den Norden der Südukraine vor. Ende des Monats tritt die Rote Armee zur Offensive gegen die Hauptstreitmacht der Weißen vor Moskau an. Sie treibt sie südwärts zurück und befindet sich schließlich wieder in der Ukraine.
 
.DIE MACHNO- BEWEGUNG
 
J. Jakowlew, ein Führer der KPU, spricht in seiner Broschüre “Machnowiade und Anarchismus“ von einer beginnenden Spaltung im sozialen Anhang der Machnowiade in der Südukraine zu Beginn 1919, „.. .daß das ärmere und mittlere Bauerntum, das von der Sowjetmacht vereinigt wird, sich allmählich von ihm (Machno -e.p.) lossagt. Dafür treten immer mehr die Dorfreichen zu ihm über, und so wird Machno langsam und fortschreitend aus dem Bauernführer zu einem Führer des eingesessenen Grundbesitzes.“ (aus Russische Korrespondenz Nr. 12/ S 1039)
Diese Direktheit und Kontinuität im Abfall der kleinbäuerlichen Basis von der Machnowiade, wie sie Jakowlew schildert, scheint es vermutlich nicht gegeben zu haben. Außerdem kann der von Jakowlew angegebene Zeitpunkt, mit dem die Degeneration der Machno-Bewegung beginnen soll, nicht stimmen. Soziale Verschiebungen in der russischen, wie auch ukrainischen Klassengesellschaft waren in einem hohen Maße von den Wechselfällen des Bürgerkrieges mit abhängig. Das Bauernland Ukraine wurde nach dem November 1918 in der Hauptsache abwechselnd von der Roten Armee und den Weißen besetzt. Die bürgerliche Rada hatte sich durch ihre Kooperation mit den Weißen bei der ukrainischen Bauernschaft weitestgehend diskreditiert. Die Sowjets brachten Requisitionen ohne Gegenleistung und Exzesse und zeigten sich außerdem vom April bis September 1919 als unfähig, in der Ukraine machtvoll gegen die Weißen präsent zu sein. Die Weißen wiederum boten  Feudalherrschaft, Pogrome, Ausplünderung und Korruption. Aus diesen Widersprüchen erklärt sich die zeitweise Stärke der Machno-Bewegung, deren Basis vorwiegend aus armen und mittleren Bauern bestand. Es gibt Berichte, aus denen eindeutig hervorgeht, wie sich die Machno-Truppen in der ersten Zeit unerbittlich gegen die Kulaken gestellt haben. Den Niedergang erlebte die Machnowiade viel mehr im Kampf gegen Rot und Weiß, mit dem unvermeidlichen Hin und Her des Krieges, indem sich schließlich ihre Unfähigkeit zeigte, den Weißen und den Kulaken zu widerstehen.
 
Der ‚eigene‘ Weg, den auch der ukrainische Klein- und Mittelbauer einschlagen wollte,. nahm notwendigerweise militärische Formen an. Mit der Machno- Bewegung, die sich sowohl gegen Weiße als auch gegen Rote wandte, wuchs eine Militärkaste heran, die gerade durch die Abwesenheit der Sowjetmacht phasenweise große Gebiete der Ukraine beherrschte. In den „freien Kommunen“, die sie kurzfristig Anfang bis Mitte 1919 in der Südukraine zu schaffen vermochten (was ein positiver Aspekt ihrer Tätigkeit war) organisierten sich in erster Linie verarmte Bauern. Des weiteren propagierten sie ihre „parteilosen Sowjets“, die als wichtigste Konsequenz Sowjets ohne Bolschewiki waren. Letztere wurden spätestens ab dem April 1919 von den Machnoleuten brutal verfolgt.
 
In all dem ist das kleinbäuerliche Element enthalten, das die russischen Anarchisten von der Oktoberrevolution bis Kronstadt vertraten. Von den Städten unabhängig zu sein und über die Produkte selbst zu bestimmen. In den „Allgemeinen Thesen der revolutionären (Machnowistischen) Aufständischen“ sind demnach auch alle dahingehenden Forderungen enthalten.
Die Machno- Truppen waren auch zur Zeit der Abwesenheit einer anderen Macht in der Ukraine nicht in der Lage, das gesamte Gebiet zu kontrollieren. Einer ihrer liebsten ideologischen Punkte machte zwar aus dieser Not keine Tugend, deckte sich aber mit einem Wesenszug des Anarchismus: Sich in die Angelegenheiten der Bevölkerung nicht einzumischen, sie nur zu beraten und lediglich die „freien Sowjets“ zu propagieren. Mit diesem ‚liberalen‘ Anspruch kamen sie dann später selber in einen starken Widerspruch – doch dazu weiter unten noch ausführlicher. Eine Folge davon war, daß sich in der Ukraine sozusagen um Machno herum das kulakische Element breit machen konnte, das ungeheuer selbstsicher – und bewaffnet – auftrat. Es drang in die parteilosen Sowjets ein und begann, sie zu dominieren. Anarchistische Ideen alleine vermögen eben nicht die Klassengegensätze auszuschalten, die durch wirtschaftliche Ungleichheit Abhängigkeitsverhältnisse und politische Unterdrückung schaffen.
 
Mit dem militärischen Niedergang der Machnowiade gegen 1920 mußte der Kulak noch mehr an Bedeutung gewinnen. Er war ein mächtiger Opponent gegen die Sowjetmacht, und hier trafen sich die Ideologien. Erst recht in einer Lage, in der Not und Hunger regieren, schlägt die Bestechung und Korruption, wird sie nicht auf das schärfste unterbunden, besonders stark durch. Und wer sollte eine Militärkaste kontrollieren. die sich immer selbständiger machte und sich von der Basis abhob. Krassester Ausdruck dieser ‚Entartung‘ war, daß von dem ursprünglichen Ideal eines gewaltlosen Gemeinwesens, wie es die Anarchisten in der Südukraine errichten wollten. schließlich nicht viel übrig geblieben ist. Selbst Volin muß in seiner „Unbekannten Revolution“ eingestehen. daß die „freie Arbeitskommune“ und der „freie Sowjet“ im Bürgerkrieg mehr und mehr durch autoritäre Machtstrukturen ersetzt wurden.“Im Sommer 1920 unter den besonders unsicheren und mühseligen Bedingungen, in denen sich die Armee zu diesem Zeitpunkt befand, wurde so eine Institution (der „freien Sowjets“ -e.p.) zu hinderlich(!) und unfähig(!) , nutzbringend zu funktionieren. Sie wurde durch einen reduzierten(!) Rat ersetzt.“(Volin, Die Unbekannte Revolution III) Was in diesem Chaos des Bürgerkrieges ihre ‚Freiheit‘ ohne zentralisierte Kontrolle und Anleitung einer konsequenten, revolutionären Führung bedeutet, konnte man bald erfahren. Hinter die Oberflächlichkeit solcher „reduzierter Räte“ blickend, erfuhren die Arbeiter und Bauern das abscheuliche Antlitz des Bürgerkrieges in der spezifischen Form der Machnowiade. Sie baute schließlich starre, hierarchische Unterdrückungsstrukturen auf, ernannte in den von ihr besetzten Gebieten selbstherrliche Kommandanten, deren Clique sich immer mehr verselbständigte. Der Bevollmächtigte des bolschewistischen Revolutionsrates an der Südfront, W. Iwanow. erzählte über die Machnowiade, anläßlich seines Besuches im Hauptquartier Machnos im September 1920, daß keine Wählbarkeit der Kommmandateure besteht, „…alle Kommandeure, bis zu den Rittmeistern werden von Machno und dem anarchistischen Kriegsrat ernannt. Der Revolutionskriegsrat ist zu einer unablösbaren, durch niemand zu kontrollierenden und von niemandem zu wählenden Konstitution geworden. Bei diesem Revolutionskriegsrat besteht eine ‚besondere Abteilung‘, die mit den, den Gehorsam Verweigernden geheim und schonungslos ins Gericht geht.“Volin selber zitiert einen Bauern, der auf einem anarchistischen Kongreß davon berichtet, „daß es in der Armee einen Spionageabwehrdienst gibt, der sich willkürliche und unkontrollierbare(!) Handlungen erlaubt – einige davon sehr schwerwiegend – ein bißchen in der Art der bolschewistischen Tscheka(!): Untersuchungen, Verhaftungen, sogar Folterungen und Hinrichtungen.“ (Volin, Die unbekannte Revolution III)
 
Die lose Organisiertheit der Machnotruppen zeitigte unter den elenden Bedingungen und in dem spezifischen bäuerlichen Milieu alle Begleiterscheinungen des Bandenunwesens und Machnos Frau, Fedora Gaenkot schrieb in ihrem Tagebuch nicht ‚bloß‘ über die Greuel. die „unsere Jungen“ gegen Bolschewiki und „Requisitionsagenten“ begingen, sondern auch über das Verhalten der Truppen überhaupt: „Als er (Machno -e.p.) nach Gulai-Pole (eine Ortschaft in der Südukraine e.p.) kam, gab er in seiner völligen Betrunkenheit den Kavalleristen den Befehl, mit Peitschen und Karabinerkolben alle von ihnen auf der Straße angetroffenen früheren Partisanen zu prügeln. Wie eine wild gewordene Horde stürzten sie sich mit den Pferden auf die unschuldigen Leute und schlugen sie… Zweien wurde der Kopf zertrümmert, einen trieb man in den Fluß …Die Leute wurden von Entsetzen gepackt und liefen auseinander.“
 
Volin füllt ohnehin ganze Seiten seines Buches mit den „tatsächlichen Schwächen Machnos“ und der Bewegung. “Das unvermeidliche Ergebnis dieser Abweichungen und Verirrungen (!) bestand in der Herausbildung eines ‚Soldatenbewußtseins‘, das zu einer Entstehung einer Art ‚militärischen Clique‘ – oder auch eines Kameradschaftskreises (?) um Machno herum führte. Diese Clique gestattete sich, manchmal(?) Entscheidungen zu fällen oder Handlungen zu begehen, ohne sich vorher um die Auffassung des Sowjets oder einer anderen Institution zu kümmern .“ Volin, Die unbekannte Revolution III)
 
In dieser Zeit schwindet die Verankerung der Machno-Bewegung in der Bevölkerung. Im Bürgerkrieg spielte die Machno-Armee sehr oft eine unzuverlässige Rolle. Selbst nach ihren großen militärischen Erfolgen gegen Denikin im September 1919 vermochte sie nicht, über die Grenzen der Südukraine weit hinauszukommen. Im Partisanenkrieg gegen den weißen General fügte sie dessen Truppen immer wieder empfindliche Schläge zu, greift an und weicht geschickt wieder zurück. Diese Phase dauert bis zur Verstärkung der Weißgardisten in der Ukraine durch die rückflutenden Soldaten Denikins von der Kriegsfront gegen die Sowjettruppen. Als Machno gegen eine reguläre Armee zu kämpfen hat (Denikin setzte Ende September in der Ukraine Panzerwagen ein), muß er sich zurückziehen (siehe Volin, Die unbekannte Revolution  III/ S87). Jakowlew analysiert richtig den Machnoverband, „der den Feind wohl verwundet, ihn jedoch nicht vernichtet, der Städte und Dörfer zu besetzen versteht, sie jedoch nicht halten kann.. .“ (J.Jakowlew, Machnowiade und Anarchismus) Keine Frage, daß die Erfolge Machnos zu einem großen Teil durch die Entlastungen durch die Rote Armee im Norden zustande gekommen waren. Die seinerzeitige Kräfteverteilung und die Landkarte des Kampfgebietes lassen gar keinen anderen Schluß zu.
 
KRIEG MIT POLEN
 
Die Unzuverlässigkeit demonstriert Machno am eklatantesten vor und während des Sowjetisch-Polnischen Krieges. Kurz nach einem weiteren militärischen Abkommen zwischen der Roten Armee und Machno gegen den weißen General Wrangel (der nordöstlich von der Krim aus vorstieß), drohte Anfang 1920 ein polnischer Angriff. Das rotarmistische Oberkommando der 14. Armee wollte sich systematisch dagegen wappnen und die Truppenteile geordnet aufbauen. An die Machno-Führung ergeht daraufhin der Befehl, in Richtung Tschernigow (in Richtung der polnischen Grenze) zu marschieren. Wieder weigert sie sich und besteht auf dem Recht auf Bewahrung der “Selbständigkeit“ ihrer Armee. Ihre Abteilungen ziehen sich in die Südukraine und das Don-Gebiet zurück und beginnen ihre „anarchistische Republik auf Rädern“ (Arschinoff) durchzuführen. Die Truppe marschiert von einem Dorf zum anderen, um ihre Ideen zu verwirklichen, wie Volin schrieb. Zur gleichen Zeit bedroht Wrangel das Donezbecken. Der Krieg gegen Polen tobt. Die Lage wird für die Sowjetmacht äußerst bedrohlich. Wieder einmal stellt sich im Bürgerkrieg die Alternative zwischen Revolution und Konterrevolution: Wer nicht für die Sowjetmacht ist, ist gegen sie!. Dennoch entbehrt der damalige Vorwurf der Bolschewiki, Machno würde Hand in Hand mit Wrangel agieren („Wrangel sorgt in großzügiger Weise für die Popularisierung Machnos und macht ihn zu seinem Mitarbeiter und Gehilfen.“ -Jakowlew) einer realistischen Grundlage. Diese direkte Zusammenarbeit hat es wahrscheinlich nie gegeben. Trotzki bestätigt dies im Oktober 1920 („Machno und Wrangel“), „daß die Beschuldigung, Machno hätte mit den Weißen Garden zusammengearbeitet, falsch wäre…‘! (I.Deutscher, Trotzki I)
 
Nach der Niederlage Wrangels rieb die rote Kavallerie Budjonnys die Machno-Abteilungen völlig auf.
 
DAS ENDE DES BÜRGERKRIEGES UND DAS JAHR 1921
 
Die wirtschaftliche Lage hatte sich 1920 keineswegs verbessert. Im Gegenteil: 1920 wurden Zentralrußland und das Wolgagebiet von einer schweren Mißernte heimgesucht. Die Futtermittel gingen aus, und es kam zu einem Massensterben des bäuerlichen Viehbestandes. Die Belastungen der Bauernschaft wuchsen noch stärker an. Dennoch kam es nicht zum offenen Durchbruchder sozialen Krise zwischen der Sowjetmacht und der Bauernschaft. Die bäuerliche Feindlichkeit wurde insofern eingedämmt, als sie die bitteren Erfahrungen mit der Konterrevolution der Großgrundbesitzer gemacht hatten. Denikins, Koltschaks und Judenitsch’s Vormärsche waren durchwegs von einer Restaurierung der alten Strukturen begleitet, wo trotz aller Aversion des Kleinbürgertums gegen die Bolschewiki, die Rote Armee oft der einzige fähige Widerpart gegen die Weißen war. Große Teile der Bauernschaft wurden so notgedrungen auf die Seite der Sowjets gedrängt. Diese soziale Verschiebung beschleunigte die Niederlagen der Weißgardisten. Ende Oktober 1920 begann ihr Rückzug, sowohl im Norden (Judenitsch) als auch an der Südfront (Denikin). Ende 1920 waren die großen Schlachten des Bürgerkrieges geschlagen.
 
Damit fiel allerdings das eindämmende Moment für die Bauernschaft weg, und die soziale Krise trat voll hervor. Neben dem Kriegsbeginn gegen Polen entwickelte sich dies als das wichtigste Hemmnis für die ‚Liberalisierung‘ im Inneren, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde. Die widrigen Umstände erlaubten auch jetzt keine längere ‚Atempause‘. Bäuerliche Rebellionen erschütterten ganze Gouvernements (z.B. in Tambow, südlich von Moskau, wo unter Führung der Sozialrevolutionäre die ‚Roten‘ hingemordet wurden; in Woronesh und Saratow usw.). In Sibirien ging die Macht zeitweise völlig verloren. „Im Frühjahr 1921 verstärkte sich die Aufruhrbewegung, und in Sibirien organisierten die Aufständischen beispielsweise bedeutende Kräfte und unterbanden für die Dauer zweier Wochen den Verkehr dieses Randgebietes mit dem Zentrum.“ (E. Preobrashenski, Ein neuer Zeitabschnitt)
 
In Moskau und Petrograd kam es im Februar zu Arbeiterunruhen, die von Truppen unterdrückt werden mußten. „Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre verteilten Flugblätter, in denen die freie Wahl der Sowjetfunktionäre statt Ernennung durch die Partei gefordert wurden. Über Petrograd wurde am 24. Februar der Belagerungszustand verhängt.“(Oberländer, Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur)
 
An diese Krise des Frühjahres 1921 schloß sich mit lokalen Besonderheiten der Kronstädter Aufstand an.
DER KRONSTADTER AUFSTAND
 
Die Kronstädter Rebellion nahm ihren Ausgang bei den Sympathiekundgebungen der Matrosen der Kriegsschiffe ‚Petropawlowsk‘und ‚Sewastopol‘ mit der Petersburger Streikbewegung. Der Unmut breitete sich über die gesamte Baltische Flotte aus und erreichte schließlich Kronstadt.
Hier nahm die allgemeine Krise des Landes die Formen der lokalen Besonderheiten an, die dem Aufstand das Gepräge gaben. Die Matrosen hatten in der Oktoberrevolution, und schon vorher, zur Avantgarde gezählt und waren durch einen sehr hohen Prozentsatz an hochqualifizierten Industriearbeitern gekennzeichnet gewesen. Im Bürgerkrieg verlor die Kronstädter Besatzung ihre alte Zusammensetzung an die Rote Armee und die Sowjetinstitutionen. Ida Mett und vor allem die Anarchisten verneinen diesen Wandel, der als erstes von Trotzki erwähnt wurde (siehe seinen Artikel über Kronstadt). Ida Mett meint jedoch im Gegensatz zu ihren früheren Ausführungen, daß es solche Abwanderungen nicht nur in Kronstadt gegeben hatte und Volin beschreibt auf seine Art, daß sich die Bewohnerschaft Kronstadts 1921 gegenüber früher verändert hatte. Die bolschewistische Regierung hätte Kronstadt „heimtückisch“ geschwächt. Mit einer Reihe getarnter Maßnahmen beraubte sie Kronstadt seiner besten(!) Kräfte, zog seine kämpferischsten(!) Elemente ab, um es zu zerbröckeln und schließlich auszulöschen.“ (Volin, Die unbekannte Revolution II) Es wäre unverständlich, wenn sich Volin bloß auf militante Eigenschaften der Matrosen der Baltischen Flotte beziehen würde, ohne den sozialen Wandel zu registrieren. Die „besten“ und „kämpferischsten“ waren 1921 weg, wer blieb da nach Volin wohl übrig?
 
Rekrutiert wurde die neue Mannschaft nach 1920 vorwiegend aus dem bäuerlichen ukrainischen Milieu. In der Ukraine brodelte es in dieser Zeit, und die Matrosen, die vom Heimaturlaub zurückkehrten, brachten die Unruhe nach Kronstadt. Andererseits wurden die abgezogenen qualifizierten Arbeiter Kronstadts zu einem guten Teil von bürgerlichen Elementen ersetzt. Es waren studentische Schichten, die wegen des Krieges und der Revolution ihr Studium abbrechen mußten. Der zurückgebliebene Teil der alten Besatzung war ebenfalls unzufrieden. Die bolschewistische Opposition in der Baltischen Flotte stellte schon 1920 fest, daß die „politischen Abteilungen (ernannte Einrichtungen der KPR, die die gewählten Parteikomitees ersetzt hatten -e.p.) …nicht nur den Kontakt zu den Massen verloren (haben), sondern auch (…) ein bürokratisches Organ ohne weitreichende Autorität geworden (sind)“.(Oberländer, Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur)
 
Die Erregung der kommunistischen Arbeiter und Matrosen nahm im Verlaufe der Ereignisse noch um ein Beträchtliches zu. Berkman berichtete: „Selbst einige Kommunisten sind empört über den Ton, den die Regierung anschlägt .“(Berkman, Die Kronstadt-Rebellion) Später traten hunderte Bolschewiki zu den Aufständischen über, „deren Gewissen es ihnen unmöglich machte, “in der Partei des Henkers Trotzki zu bleiben“ .(ebenda)
 
In dieser Situation schwächte sich der bolschewistische Einfluss  wie sich jener der Anarchisten und linken Sozialrevolutionäre auf die Bewegung stärkte. Ihre politische Ausrichtung entsprach am ehesten den subjektiven Interessen der verschiedenen sozialen Schichten in Kronstadt. Petrischenko etwa, der Vorsitzende des Kronstädter Komitees, war ein ukrainischer Bauernsohn und Anarchist. Drei weitere Mitglieder kamen ebenfalls aus der Ukraine. Im Kronstädter Komitee saßen sonst noch Intellektuelle und Arbeiter.
 
Auf der ‚Petropawlewsk‘ wurde dann am 28. Februar ein Dokument von der Mehrheit der Matrosen angenommen, in dem neben einer Reihe demokratischer Forderungen (Rede- und Pressefreiheit usw.) hauptsächlich Neuwahlen zu den Sowjets, „volle Aktionsfreiheit in bezug auf ihr (der Bauern -e.p.) Land“ und gleiche Lebensmittelrationen verlangt wurden. Die freie Wahl zu den Sowjets verwandelte sich bald im Zuge der Verschlechterung des Verhältnisses zu den Bolschewiki zur Forderung nach Sowjets ohne Kommunisten. Eine freie Wahl zu dieser Zeit hätte auch unzweifelhaft eine Abstimmungsniederlage der Bolschewiki bedeutet. Am 1. März legten die Petropawlewsker ihr Dokument einer Vollversammlung auf dem Jakornyplatz in Kronstadt vor, an der auch der Vorsitzende des Kronstädter Sowjets, der Kommunist Wassiljew und der Präsident der Sowjetrepublik, Kalinin, teilnahmen. Kalinins Auftreten wird von Victor Serge als „ungeschickt“, von Issac Deutscher als „robust“ beschrieben, beim Anarchisten Berkman protestierte Kalinin gegen das Dokument, und Robert V. Daniels bezieht sich auf die ‚Prawda‘ vom 6. März 1921, nach der Kalinin gesagt haben soll, daß die Resolution der Petropawlewsker “mit gewissen Korrekturen mehr oder weniger akzeptabel“gewesen sei. Wie auch immer, die Situation spitzte sich zu, als Gerüchte ausgestreut wurden, daß die Bolschewiki aus Petrograd anrückten, daraufhin die bolschewistischen Funktionäre (Kalinin war inzwischen nach Petrograd zurückgekehrt) Kusmin und Wassiljew in Kronstadt und eine Kronstädter Delegation in Petrograd von den Bolschewiki verhaftet wurden.
 
In den nun folgenden Tagen fällt unter anderem die Politik der Bolschewiki auf, die eine ungemein demagogische Propagandakampagne gegen die Kronstädter Bewegung entfalteten. Die Kronstädter Rebellion wird als Akt der weißen Konterrevolution verstanden. Am 2. März steht in der Erklärung der Bolschewiki, daß die Matrosen „Werkzeuge früherer zaristischer Generale“seien, „die zugleich mit den Verrätern aus den Reihen der Sozialrevolutionäre eine gegenrevolutionäre Verschwörung gegen die Proletarische Republik inszenierten.“ Die Entente und französische Spione hätten die Hände im Spiel.“Am 28. Februar nahmen die Männer vom der ‚Petropawlewsk‘ Resolutionen an, die den Geist der Schwarzen Hundert(!) atmeten. Dann erschien die Gruppe des früheren Generals Koslowski auf der Szene. Dieser und drei seiner Offiziere, deren Namen noch nicht festgestellt wurden, übernahmen offen (!) die Rolle einer Rebellion. So ist die Bedeutung kürzlicher Ereignisse klar geworden. Hinter den Sozialrevolutionären steht wieder ein zaristischer General.“ (Oberländer, Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur)
 
Die Argumentation Radeks ist subtiler. Die Kronstädter Matrosen fühlten sich als “Revolutionäre“ und dachten gar nicht daran, „dem weißen General, den Großgrundbesitzern und Kapitalisten zur Herrschaft zu verhelfen“ (Radek, Kronstadt, Russische Korrespondenz 3). Dennoch, so Radek, hätten sich die Konterrevolutionäre eingeschlichen, „geheime(!) Organisationen der rechten und linken Sozialrevolutionäre, der Anarchisten, vereinzelter Menschewiki und ganz im Hintergrunde – von den Matrosen nicht gesehen(?) – die offene konterrevolutionäre, monarchistische Verschwörung des Kommandanten der Artillerie Koslowski.“ (ebd.). Wohlgemerkt, Radek schreibt hier nicht von einer potentiellen weißen Gefahr „im Hintergrund“, sondern von Koslowski, einem Offizier der Artillerie, der als Spezialist von den Bolschewiki nach Kronstadt geschickt worden war und aller Wahrscheinlichkeit keine politische Rolle in den Ereignissen gespielt hat. Auffällig bei Radeks Argumentation auch der Widerspruch zwischen den revolutionär gesinnten Matrosen und ihrer Naivität, den weißen General unmittelbar vor sich nicht zu erkennen.
 
Bei Lenin ist die Trennung der subjektiven Rolle der Anarchisten und linken Sozialrevolutionäre als Führer der Kronstädter Bewegung und der weißen Gefahr deutlicher herausgearbeitet, obwohl auch er von der direkten „großen Rolle“ ausgeht, die die „weißen Generale“ in Kronstadt gespielt hätten (Lenins Rede auf dem X. Parteitag der KPR). Wichtigster Beweis für ihn, daß zwei Wochen vor dem Aufstand bürgerliche Zeitungen in Paris bereits von einer Rebellion berichteten. Zu bedenken dabei ist allerdings, daß die bürgerliche Presse damals immer wieder bewusst falsche und übertriebene ‚Informationen‘ über die russische Situation brachte. So etwa auch die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ am 16. Februar 1921, die die tatsächlichen Spannungen in Kronstadt Mitte Februar zum Anlaß nahm, von „ernsten Unruhen“ zu berichten.
 
Lenin benennt neben dem General „irgendein unbestimmtes Konglomerat oder einen Bund buntscheckiger Elemente, scheinbar nur ein klein wenig ‚rechter‘ als die Bolschewiki, ja sogar auch ‚linker‘ als die Bolschewiki …“ als jene, die in Kronstadt zur Macht griffen. „So klein oder geringfügig zunächst – wie soll ich mich ausdrücken – die Machtverschiebung, die die Kronstädter Matrosen und Arbeiter vorschlugen, gewesen wäre – sie wollten die Bolschewiki in bezug auf die Freiheit des Handels korrigieren, also scheinbar keine große Verschiebung, scheinbar dieselben Losungen: ‚Sowjemacht‘, mit einer kleinen Änderung oder nur einer Korrektur, in Wirklichkeit aber dienten hier die parteilosen Elemente nur als Trittbrett, als Stufe, als Brücke, über die die Weißgardisten kamen.“(W.I.Lenin, Parteitag der KPR(B))
 
Die Bolschewiki wirken in ihrem Vorwurf der direkten Kooperation der Anarchisten mit den Weißen – mit den oben angeführten Schattierungen – ziemlich unglaubwürdig. Das anarchistische, kleinbäuerliche, syndikalistische Element, das in Kronstadt dominierend war, war nach dem Bürgerkrieg ungeheuer sensibel gegen die offene Konterrevolution eingestellt. Aus ihren Reihen kamen die verbissensten Gegner der bürgerlichen Spezialisten in Armee und Industrie. Ihr Verhalten zu den rechten Sozialrevolutionären war ambivalent, im wesentlichen jedoch ablehnend. V. Tschernows Angebot, Kronstadt Hilfe zu gewähren, wurde von ihnen unmittelbar abgelehnt, das Komitee hielt sich „für jetzt zurück, das heißt, bis die weitere Entwicklung sich klarer abzeichnet.“ Distanziert standen sie vor allem der sozialrevolutionären Forderung nach der Konstituierenden Versammlung gegenüber – eine Ausrichtung, die unter den Aufständischen keinerlei Begeisterung hervorzurufen imstande war.
 
Dennoch zeichnete sich in der einigermaßen zweideutigen Absage an die rechten Sozialrevolutionäre für die Bolschewiki eine potentielle Gefahr ab, der sie schon in Samara 1918 gegenübergestanden waren, als die Sozialrevolutionäre Koltschak den Weg geebnet hatten. Die Bolschewiki werden in erster Linie dem subjektiven Charakter der Aufständischen nicht gerecht. Solange die kleinbürgerliche Bewegung in ihrem Bereich stark genug ist, dem konterrevolutionären Einfluß zu widerstehen, dem Druck der ‚linken‘ Basis ausgesetzt ist, und solange eben die Konterrevolution durch die Präsenz der Sowjetmacht im übrigen Land eingedämmt wird, ist sie niemals direkt gemeinsam mit den Weißen gegangen. Hinter der Rebellion in Kronstadt stand keinerlei Angriffsplan, und schon gar nicht einer der Weißen. Die Aufständischen hätten in den ersten Tagen ohne weiteres die Möglichkeit gehabt, von Kronstadt aus, andere Forts an der Küste, z.B. Oranienburg, zu besetzen. Das haben sie nicht getan. Wenn die bolschewistische Presse von einem geplanten Luftangriff der Kronstädter auf Petrograd warnte, so entsprach dies einfach nicht der realen Lage der Dinge. Eine solche Unmittelbarkeit zwischen Anarchismus und Konterrevolution gab es von vornherein nicht.
 
Eine strikte Unterscheidung zwischen der subjektiven Rolle des „kleinbürgerlich anarchistischen Elements“ und der offenen Konterrevolution, bzw. offen bürgerlichen Kräften, scheint angesichts der späteren stalinistischen Politik mehr als angebracht zu sein. In Rußland nach 1917 ergab sich die oftmalige Nähe zwischen beiden Lagern aus der angespannten Lage des Bürgerkrieges und der sozialen Krise, d.h. mehr aus der objektiven Situation als aus einer offenen Kooperation mit den Weißen. Grundsätzlich bestehen auch in der Russischen Revolution zwischen beiden Seiten Unterschiede, die für die Bolschewiki in bestimmten Phasen der Ereignisse Konsequenzen getragen haben. Mit Machno arbeiteten sie phasenweise zusammen und eine längere ‚Atempause‘ hätte ihnen die Gelegenheit gegeben, die Anarchisten in der Ukraine gewähren zu lassen. Dies entsprach auch der taktischen Herangehensweise der Kommunisten an die arme und mittlere Bauernschaft. Ansätze dazu hatte es ja gegeben. Der Bürgerkrieg machte sie wieder zunichte. Zuerst wollten die Bolschewiki mit Kronstadt verhandeln. Die objektive Situation ließ ein tolerantes Verhalten letztlich aber nicht zu.
 
Der wesentliche Unterschied zur stalinistischen Politik besteht aber auf einer qualitativ anderen politischen Ebene. Wenn der Stalinismus andere Organisationen der Arbeiterklasse als “konterrevolutionär” verdammt, so unterscheidet er sich zum ersten in seiner politischen Grundlage von der bolschewistischen Repression Anfang der Zwanzigerjahre. Siehe als eindrucksvollstes Beispiel die Politik der KP-Spaniens im Bürgerkrieg, als sie das erste Mal derart offen im Mai 1937 dazu überging, die Anarchisten und die POUM als „bezahlte Agenten Francos“ zu liquidieren. Folgenden Unterschied haben die Anarchisten ebenfalls nicht begriffen.
Dem Stalinismus war es vorenthalten, die Repression gegen die Arbeiterklasse und damit zusammenhängend gegen Anarchisten, Trotzkisten usw., im Namen der bürgerlichen Klasse und des Imperialismus zu theoretisieren und zu betreiben. Revolutionäre Arbeiter wurden und werden unterdrückt, da sie das Bündnis der Stalinisten mit der Bourgeoisie (in- und außerhalb der Regierung, Volksfront) gefährden. Theoretischer Ausdruck davon ist die stalinistische Etappentheorie, nach der sich die Arbeiter in der „demokratischen Etappe“ gefälligst an die demokratischen Aufgaben (und an noch weniger) zu halten hätten und das kapitalistische Eigentum und die kapitalistische Macht unangetastet lassen müßten. Eine solche Theorie und Herangehensweise an den Klassengegner hat es zu Lebzeiten Lenins nicht gegeben! Der zweite Unterschied ist die Grundsätzlichkeit, mit der der Stalinismus am Einparteiensystem und der Unterdrückung oppositioneller Organisationen der Arbeiterklasse festhält. Die Russische Revolution besaß keinen großen ‚Spielraum‘, dennoch standen die Bolschewiki unmittelbar nach 1917 und in der kurzen Phase nach dem Bürgerkrieg den sich der Oktoberrevolution gegenüber loyal verhaltenden Gruppen und Parteien – und anfangs sogar den revolutionsfeindlichen Kräften – tolerant gegenüber. Die Repression gegen Organisationen der Arbeiterklasse wurde von der KPR stets als vorübergehende Maßnahme begriffen, so notwendig und brutal sie auch im Augenblick gehandhabt worden war. Mit steigender Stabilisierung des Sowjetsystems wollten sie diesen ‚Ausnahmezustand‘ wieder aufheben. Dieses Bewußtsein ging der Partei erst mit dem Sieg der stalinistischen Fraktion verloren!
 
Die Kronstädter Forderung nach der „Aktionsfreiheit“ der Bauern bedeutete im Kern das Verlangen nach Freigabe des Kleinhandels. Das war auch die bedeutendste wirtschaftliche Neuorientierung auf dem X. Parteitag der KPR, der zur Zeit der Kronstädter Revolte tagte. Er hob wichtige Beschränkungen des Privathandels auf und stoppte die Requisitionen bei den Bauern. Das hat Bürgerliche und Anarchisten des öfteren zur Ansicht geführt, Lenin habe Kronstadt im Namen des Kriegskommunismus unterdrücken lassen, um kurz darauf mit der NEP die Politik der Aufständischen einzuführen. Eines vergessen die Kritiker: Kronstadt forderte zudem die Absetzung der Bolschewiki. Handelsfreiheit in den Händen der zu kleinen Gruppierungen geschrumpften Anarchisten und linken Sozialrevolutionäre mußte letztlich in der extremen Krisensituation von 1921 Handelsfreiheit vor allem für die Kulaken und die erneute Ausplünderung der Städte bedeuten. Noch wichtiger: Anarchisten und linke Sozialrevolutionäre hatten auch 1921 kein Programm für die gewaltigen Probleme im ganzen Land. Das Wenige, das sie sagten, drehte‘ sich noch immer um die selbstgenügsamen Fabrikkomitees und die „Freiheit“ der Bauern.“Kein klares Programm wurde formuliert. Freiheit und Völkerverbrüderung waren die Parolen.“ (Berkman, Die Rebellion in Kronstadt) Damit vermochte man keine Großindustrie auf die Beine zu stellen, was sollte dann mit den Arbeitern geschehen, wenn die Bauern kein Getreide mehr geben mußten, wie den Hunger bekämpfen? Und in der Hauptsache: Nach dem Sturz der Bolschewiki hätten keinesfalls die ‚Linken‘ die Macht gehalten. An ihre Stelle wären die Kulaken und Weißen getreten, die über bedeutend klarere Ziele und .konsequentere Organisationen verfügten als die Anarchisten. “Die Sowjets ohne Kommunisten werden die wankelmütigen, zerstreuten und ermüdeten Arbeitermassen darstellen und sie werden genötigt sein, alle bürgerlichen Kräfte, die von der Kommunistischen Sowjetregierung verwendet, sich unter ihrer strengen Kontrolle befanden, unkontrolliert arbeiten zu lassen. Die konterrevolutionäre Emigration wird zurückkehren können, sie wird alle Institutionen dieser parteilosen Sowjets mit ihren Leuten ausfüllen und faktisch die Macht ergreifen. „
(K. Radek, Kronstadt)
 
Die Bolschewiki hatten diese Erfahrung in den Bürgerkriegsjahren bereits öfters gemacht. Das war auch sicher ein Grund für ihre feste Überzeugung von der Existenz der Weißen in Kronstadt. Der ‚liberale‘ Flügel der Konterrevolution um Miljukow hatte gelernt, und sich die Losung der Sowjets – aber ohne Bolschewiki – zu eigen gemacht. Die weißen Zeitungen unterstützten die Kronstädter. Der Berliner ‚Ruf‘, das Organ der rechten Kadetten, schrieb: “Der Kronstädter Aufstand ist heilig, weil er der Aufstand gegen die Ideen der Oktoberrevolution ist.“ Die Imperialistenvertreter Rokowzew und Gutschkow u.a. organisierten Getreide für Kronstadt. Weiße Emigranten, Menschewiki und rechte Sozialrevolutionäre trafen in Finnland ein. In Kronstadt selbst boten Offiziere und rechte Sozialrevolutionäre ihre Hilfe an. Das Risiko wurde für die Bolschewiki schließlich zu groß. In der Krisensituation von 1921 konnte sich der Aufstand sehr schnell ausbreiten. Wenn Kronstadt nicht vor der Eisschmelze fiel, war die Insel militärisch so gut wie uneinnehmbar. Die Zeit drängte. Am 5. März erging der Befehl an Kronstadt, von Trotzki unterzeichnet: “Die Arbeiter- und Bauernregierung hat verfügt, daß Kronstadt und die Rebellenschiffe sich sofort der Autorität der Sowjetrepublik unterwerfen müssen. Ich erlasse gleichzeitig Befehle, die Bezwingung der Meuterei und die Überwältigung der Meuterer durch Waffengewalt vorzubereiten …Diese Warnung ist endgültig.“Am 7. März feuerten die kommunistischen Angreifer die ersten Schüsse gegen Kronstadt ab. Die Gefechte dauerten bis zum 17. März an. Die Bolschewiki brachen in die Stadt ein, und nach den Informationen Berkmans folgte nun eine Racheorgie, „bei welcher die Tscheka zahlreiche Opfer verlangte für ihre nächtliche Massenerschießung.“(Berkman, Die Kronstadt-Rebellion)
 
Zur Repression, die die Bolschewiki in Kronstadt ausgeübt hatten – und sicher kann dies auch für den ganzen Bürgerkrieg herangezogen werden – meinte Trotzki später, daß er nicht wisse, ob unnötige Opfer gebracht wurden. Er vertraue mehr Dshershinski (der die Befehlsgewalt beim Sturm auf Kronstadt innegehabt hatte) als „seinen verspäteten Kritikern.“ (L. Trotzki, Writings, 1938/39) „Aber ich bin bereit anzuerkennen, daß der Bürgerkrieg keine Schule des Humanismus ist. Idealisten und Pazifisten klagen die Revolution immer wegen ihrer ‚Exzesse‘ an. Aber der Hauptpunkt dabei ist, daß ‚Exzesse‘ der innersten Natur der Revolution entspringen, die ihrerseits nur ein ‚Exzeß‘ der Geschichte ist. Wer auf dieser Grundlage urteilt lehnt auch die Revolution im Gesamten ab. Ich lehne sie nicht ab. In diesem Sinne trage ich völlig die Verantwortung für die Niederwerfung des Kronstädter Aufstandes.“ (ebd.)
 
SOWJET- ODER PARTEIDIKTATUR?
 
Hier ist nicht der Platz, in aller Ausführlichkeit die Degeneration der Sowjet- bzw. Parteidemokratie in der Russischen Revolution während und nach dem Bürgerkrieg zu behandeln. Trotzdem soll eine grobe Skizze dieser Entwicklung gegeben werden, um die Fragen, die am Beginn der Arbeit gestellt wurden, wenigstens im Ansatz beantworten zu können. Die Problematik, die sich hier unmittelbar stellt, gipfelt in der Frage der Parteidiktatur und dem Zusammenhang mit dem Sowjetthermidor , d.h. dem Sieg der Bürokratie über die bolschewistische Partei.
 
Die Sowjets entsprachen mit dem Beginn des Bürgerkrieges kaum mehr jenem Zustand, den sie noch 1917 besessen hatten, als sie direkter Ausdruck des revolutionären Proletariats gewesen waren. Ihre Autonomie als Machtorgane des Proletariats ging im Chaos ab 1918 verloren. Der grundsätzliche Funktionswandel bestand darin, jetzt nicht mehr unterhöhlendes, zerstörendes Organ gegen die bürgerliche Macht zu sein, als sie vor der Oktoberrevolution die kapitalistische Produktions- und Kriegsmaschine sabotierten, sondern zentrale Institution, die proletarische Diktatur aufzubauen und zu festigen. Dies mußte im Bürgerkrieg, angesichts des totalen Zerfalls der Wirtschaft geschehen. Die Sowjets hatten die Organisierung der Industrie und des Krieges über, wo sie auf Widerstände trafen, die nicht bloß aus den bourgeoisen Reihen kamen, wie versucht wurde, in den vorherigen Kapiteln aufzuzeigen. Schnelle Entscheidungen waren in Situationen vonnöten, die keinerlei demokratische Debatte und noch weniger eine organisierte, dem Oktober im wesentlichen feindlich gegenüberstehende, Opposition erlaubten. Das russische Proletariat war ausgehungert, ausgeblutet und demoralisiert. Seine Avantgarde von 1917 existierte in der Klasse kaum mehr, die Städte waren entvölkert, in Moskau lebte nur mehr die Hälfte und in Petrograd nur mehr ein Drittel der früheren Einwohnerschaft. Rußland war ein Land mit einer übergroßen Bauernschaft, was die Bedeutung des Proletariats noch mehr schwächte. Kamenjews Bericht im Dezember 1919 spricht für sich: “Wir wissen, daß durch den Krieg die besten Arbeiter massenweise aus den Städten abgezogen wurden, und manchmal entsteht daher ein Zustand, daß es in dieser oder jener Gouvernementsstadt oder Kreisstadt schwerfällt, einen Sowjet überhaupt zu bilden und die Grund1agen für seine regelmäßige Arbeit zu schaffen … die Sowjet-Plenarversammlungen als politische Organisationen siechen oft dahin, die Leute beschäftigen sich oft mit rein technischen Arbeiten …Die allgemeinen Sowjetversammlungen finden selten statt, und wenn sich die Deputierten zusammenfinden, dann nur, um einen Bericht entgegenzunehmen, eine Rede anzuhören usw.“ (Oberländer, Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur)
 
Die Frage, inwieweit in dieser Lage die Demokratie – die Arbeiterdemokratie(!) – ein Mittel der proletarischen Diktatur sein konnte, beantwortete Radek so: „Als Judenitsch, als Wrangel, als Denikin anrückten, war es klar, daß die Arbeiter erkannt hatten, daß sie ihre gesamte Kraft zusammenballen müssen, um den Sieg davon zu tragen, denn ein Sieg der Weißen hätte bedeutet, daß die Arbeitermasse in Ketten geschmiedet, daß Hunderttausende von Arbeitern erschossen worden wären. Und ich frage Euch (Radek richtete diese Fragen an die ‚Arbeiteropposition‘, der stärksten innerparteilichen ‚linken‘ Opposition -e.p.): Konnte man, als Denikin vor Orel (Oryol -e.p.) stand, darüber abstimmen lassen, ob man den Kampf gegen ihn fortsetzen sollte? Seid ihr überzeugt, daß in dem Augenblick sich keine Mehrheit eingeschüchterter Leute gefunden hätte, die für die Kapitulation gestimmt haben würden?“ Und: „Oftmals jedoch, wenn Hunger, Kälte und Gefahr die rückständigen Teile der Klasse zur Verzweiflung bringen, müssen die vorgeschrittenen Schichten wie eine eiserne Wand dastehen. Der Vortrupp darf nicht erzittern und in Augenblicken der Gefahr werden die Fragen nicht durch Abstimmung, nicht durch Demokratie, sondern durch die eiserne Energie der vorgeschrittensten Elemente entschieden.“ (K. Radek, Die innere und äußere Lage Sowjetrußlands)
 
Mit dem Ausschluß der Menschewiki und Sozialrevolutionäre und schließlich der ‚Linken‘ blieben einzig die Bolschewiki in den Sowjets zurück. Der Sowjetkongreß und das Zentralexekutivkomitee verloren den größten Teil ihrer Machtbefugnisse an den Rat der Volkskommissare, der sich schließlich personell mit der Parteispitze der KPR deckte.
Parallel zu dieser Konzentration der politischen Macht in den Händen der Partei, setzte sich ab der Mitte 1918 die Zentralisierung in der Sowjetwirtschaft durch. Hier begannen die Debatten in der Partei, die sich 1920/21 in der Gewerkschaftskontroverse noch einmal zusammenballten. Eines sei hier angemerkt (ohne den Anspruch zu haben, das Thema erschöpfend zu behandeln): Die ‚Linken‘ in der Partei (die ‚Arbeiteropposition‘ und die ‚Demokratischen Zentralisten‘) bauten auf die „Schöpferkraft“ der Arbeiter, ohne die sie die Revolution für verloren ansahen. Im Bürgerkrieg und der Zeit der wirtschaftlichen Schwierigkeiten mußte allerdings eine solche Einschätzung, so richtig sie auf weite Sicht auch war, fatale Konsequenzen haben, wenn es das Proletariat „in der Masse nicht verstehen wird, sich selbst zu befreien… wird auch kein Kommissar etwas ausrichten.“ (Ossinskij von den ‚Demokratischen Zentralisten – ‚DZ‘) Ganz im Gegensatz dazu versuchte die Mehrheit der Partei, alle Methoden und Kräfte mit all den dabei entstehenden Risiken einzusetzen, um die Diktatur überleben zu lassen. 1918 bis 1921 stand dieses Aushalten im engsten Zusammenhang mit der Hoffnung der Bolschewiki, daß die siegreiche europäische Revolution der Sowjetmacht zu Hilfe eilen werde und so die Bedingungen für den sozialistischen Aufbau grundsätzlich verbessern würde.“Die Macht in der UdSSR befindet sich bereits in den Händen der Arbeiterklasse. Im Verlauf eines dreijährigen heroischen Kampfes gegen das internationale Kapital hat sie die Angriffe abgewehrt und die Sowjetmacht gefestigt. Obwohl Rußland über ungeheure natürliche Reichtümer verfügt, bleibt es trotzdem in bezug auf die Industrie ein rückständiges Land, in welchem die kleinbürgerliche Bevölkerung überwiegt. Es kann nur mit Hilfe einer internationalen proletarischen Revolution, in deren Entwicklungsperiode wir jetzt eingetreten sind, zum Sozialismus gelangen.“ (aus dem Programm der Kommunistischen Jugend, 1921)
 
Trotz der stark zugenommenen Hierarchisierung im Sowjetstaate gab es 1920 einige Versuche, dem Ausnahmezustand im Lande entgegenzuarbeiten. Der Rat der Volkskommissare beschloss die Abschaffung der Todesstrafe und die Machtbefugnisse der im Bürgerkrieg aufgeblähten Tscheka wurden stark beschnitten. Schon auf dem VII. Sowjetkongreß im Dezember 1919, als sich die Niederlage der Weißen abzeichnete, war die Rede vom Abbau des stehenden Heeres und seine Umwandlungen in eine demokratische Miliz. Außerdem gab es in der Partei Erwägungen, die sozialistische Opposition wieder zu legalisieren (siehe Trotzkis Rede auf dem VII.Sowjetkongreß, in I.Deutscher, Trotzki I) “Eine Sowjetdemokratie war im Begriff zu entstehen. Dies verhinderte Marschall Pilsudski durch seine Aggression (gemeint ist der Angriff Polens im April 1920 -e.p.) (V.Sege, Leo Trotzki – Leben und Tod)
 
In den Bürgerkriegsjahren wurde die bolschewistische Partei immer stärker zentralisiert, worunter die Parteidemokratie mehr und mehr litt. Die wichtigsten Gründe lagen wiederum im Kriege und bei dem scharfen Druck, dem die Partei durch das Kleinbürgertum ausgesetzt war. Dessen Einfluß mußte sich besonders unter den Bedingungen bemerkbar machen, als alle anderen Parteien verboten waren. Daneben existierte eine starke ‚linke‘ Opposition in der Partei, die die Mängel der Diktatur, die Gefahr der Bürokratisierung und das Fehlen der Partei- und Sowjetdemokratie an sich richtig aufzeigte, in ihren wesentlichen Aussagen aber keinerlei Alternative aufzuzeigen wußte. Der VIII. Parteitag im März 1919, zur Zeit der Offensive Koltschaks, bekräftigte die „bedingungslose Zentralisierung und strengste Disziplin. Jeder Beschluß muß zunächst einmal ausgeführt werden … alle Beschlüsse sind bindend für die unteren.” Dieser Ausrichtung entgegnete die Opposition mit der Notwendigkeit der kollektiven Meinungsbildung in der Partei, für die aber in dieser harten Zeit keine Gelegenheit bestand. Der Erweiterung des ZK auf  19 Mitglieder (ein Vorschlag Ossinskij) stand die Schaffung des Politit- und Orgbüros gegenüber. Auf dem VIII. Parteitag entstand auch das Sekretariat, das zuerst der Vorsitzende des Orgbüros Krestinski übernahm.
 
Auf dem IX. Parteitag, im September 1920, gegen Ende des Bürgerkrieges, dem eine kurze ‚Atempause‘ folgte, erhob sich erneut die oppositionelle Kritik an der Parteihierarchie. Juranew beschuldigte das ZK, dass es auf dem VIII. Parteitag Konzessionen “auf dem Papier gemacht” habe und dass seine “eigene Politik betrieben” hätte, „im völligen Gegensatz zu dem, was der Parteitag beschlossen hatte.” Die Parteiführung antwortete wieder mit den “ungeheuren Ereignissen des Bürgerkriegs” (Kamenjew. “Man sagt, das Zentralkomitee hätte selbstherrlich die Partei geleitet, Genossen, vielfach wurden die weittragendsten Beschlüsse im ZK von 5 Genossen telefonisch gefasst, da die Mehrzahl der Mitlieder des ZK auf einem Kampfposten im Lande sich befand.” (Radek)
 
Eine weitere Form der Zentralisierung waren die ‚politischen Abteilungen‘ der Partei. Die Führung hatte oftmals in der Armee, Gewerkschaft und Wirtschaft eine starke Opposition gegen sich, deren sich die Parteiführung derart entledigte, indem sie die gewählten Parteikomitees durch politische Abteilungen ersetzte. Sapronov (‚DZ‘) geißelte dieses Vorgehen auf dem IX. Parteitag am Beispiel der Kohlenindustrie im Donez-Becken. „Ihr verwandelt die Parteimitglieder in ein gehorsames Grammophon.“ Das Gegenkonzept der ‚linken‘ Opposition war jedoch nicht dazu angetan, die tiefe Krise der Produktion zu lösen. Der im Dezember 1917 geschaffene Oberste Volkswirtschaftsrat sollte keine autonome Befehlsgewalt besitzen, sondern Vollzieher seiner örtlichen Organe sein. Die ‚Kollegien‘ in den verschiedenen Produktionsabteilungen müßten vom „Gebietskongreß der Gewerkschaften und den Werkomitees gewählt“  werden (Ossinskij , Über den Aufbau des Sozialismus). Die Meinungsverschiedenheiten entzündeten sich in den Fragen des Leitungsprinzips und der Verwendung bürgerlicher Fachkräfte. Dem demokratischen Modell der linken Opposition, die in den Gewerkschaften sehr stark war, entsprach das Kollegialitätsprinzip, während Lenin und Trotzki ab dem IX.Parteitag immer vehementer die Einmannleitung favorisierten. Der Zentralrat der Gewerkschaften wies zweimal diese Position entschieden zurück. Die ‚Arbeiteropposition‘ lehnte das Individualsystem ab, während die ‚Demokratischen Zentralisten‘ darin eine praktische Frage sahen, die “von Fall zu Fall, je nach den Umständen entschieden” werden müsste. Arbeiter könnten sich in der kollegialen Leitung schulen und die bürgerlichen Spezialisten ersetzen: Beides verneinte das ZK: “Man sagt uns zum Beispiel: ‚Das Kollegialitätsprinzip ist eine Form der Teilnahme breiter Massen an der Verwaltung‘. Nun, wir haben im ZK über diese Frage gesprochen, haben darüber beraten und müssen Ihnen Bericht erstatten: Genossen, mit einem solchen theoretischen Wirrwarr kann man sich nicht abfinden. Wenn wir in der Grundfrage unserer militärischen Tätigkeit, unseres Bürgerkrieges auch nur den zehnten Teil einer solchen theoretischen Verwirrung geduldet hätten, so wären wir geschlagen worden und hätten das auch verdient‘.‘ (Lenin auf dem IX. Parteitag)
Dennoch entwickelte die Partei über die sensibilisierte ‚Arbeiteropposition‘ hinaus ein Bewußtsein der Gefahren, die dem Bürokratisierungsprozeß zu Grunde lagen. In den Thesen Preobrashenskis wurde dies aufgegriffen, der Bürokratismus “ersticke den revolutionären Idealismus”. In der Parteikommission für das Organisationsproblem saßen Ignatow von der ‚Arbeiteropposition‘ und Sapronow von den ‚DZ‘. In den Entschließungen kritisierte der IX.Parteitag die Ernennungen von oben und die Repression gegen Mitglieder der Partei. Jurenew hatte von „Verschickungen mannigfacher Art“ berichtet: „…der eine fährt nach Christiana (Oslo -e.p.), den anderen schicken sie in den Ural. “ Der Parteitag forderte schließlich die Mitglieder auf, umfassende Kritik an der Bürokratisierung zu leisten und den Kampf gegen sie aufzunehmen. Zwei Kontrollkommissionen wurden geschaffen: eine für das Zentrum – die Zentrale Kontrollkommission, die andere für die örtlichen Parteiorganisationen.
 
Wie schon erwähnt ließen die kommenden Ereignisse die tastenden Schritte in Richtung Reorganisierung nicht zu. Die „Krankheit“, mit der Sapronow die Bürokratisierung bezeichnete, „verschlimmerte sich weiter“. 1920 erreichte die Gewerkschaftskontroverse, die auch das ZK spaltete, ihren Höhepunkt. In ihr schlugen sich noch einmal die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten nieder, geprägt durch die katastrophale Wirtschaftslage, aus der der Kriegskommunismus nicht herausgeführt hatte. Trotzki wollte die Gewerkschaften in den Sowjetstaat integrieren und sie an der Militarisierung der Arbeit teilhaben zu lassen. Dies war der konsequenteste Ausdruck des Kriegskommunismus. Die abgerüsteten Einheiten der Roten Armee im Ural, im Kaukasus und in der Ukraine wurden 1920 als Arbeitsarmeen in Bergwerken und in der Landwirtschaft unter einer scharfen Arbeitsdisziplin eingesetzt. Dies und Trotzkis rücksichtsloses Vorgehen gegen oppositionelle Gewerkschafter, die er in der Transportgewerkschaft von ihren führenden Positionen absetzte, löste schließlich die Gewerkschaftsdebatte aus. Lenin und Sinowjew traten für eine gewisse Autonomie der Gewerkschaften ein, die sie als „Schulen des Kommunismus“ ansahen und die, entgegen den Ansichten Trotzkis, auch die Aufgabe hätten, die materiellen Interessen der Arbeiter gegenüber dem Staat zu vertreten. “Wir haben keinen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat, der durch bürokratische Deformationen (!) belastet ist.“ (Lenin) Die dritte Fraktion war die ‚Arbeiteropposition‘, die im wesentlichen ihre frühere Kritik wiederholte, den demokratisch organisierten Gewerkschaften die Führung der Produktion überantworten zu wollen.
 
Die Gewerkschaftsdebatte beschäftigte die Partei das ganze Jahr 1920. An seinem Ende stand eine tiefe Krise und Kronstadt. Auf dem X. Parteitag änderte die Mehrheit der Bolschewiki radikal den Wirtschaftskurs, was unter der Bezeichnung der NEP in die Geschichte der Russischen Revolution eingegangen ist. Mit dieser neuen Politik lösten sich auch die wichtigsten wirtschaftlichen Differenzen auf. Das zweite Hauptergebnis des Parteitages bestand in der Einführung des Fraktionsverbotes und der Disziplinargewalt des ZK, den Parteitagsbeschlüssen Zuwiderhandelnde ausschließen zu können. Die Parteiführung  befürchtete durch die Weiterexistenz der Opposition eine Lähmung der Partei und die Zersplitterung der revolutionären Kräfte. Erneut bekräftigte jedoch die Partei die Notwendigkeit des antibürokratischen Kampfes. Der Bürokratismus hatte bereits gefährliche Ausmaße angenommen. Trotz der Verurteilung der ‚Arbeiteropposition‘ auf dem X. Parteitag als „kleinbürgerliche, syndikalistische Gruppierung“ entsandte sie zwei ihrer Vertreter in das Zentralkomitee.
Der Zerfall des wirtschaftlichen und sozialen Gefüges des Landes ging weiter. Das Proletariat war völlig aufgerieben, während sich die Bauernschaft mit ihrer primitiven Produktionsweise bedeutend widerstandsfähiger zeigte. Kleinbürgerliche Elemente strömten massenweise in die siegreiche proletarische Partei. Der X. Parteitag beschloß eine Säuberung, bei der rund 200.000 Mitglieder ausgeschlossen wurden. Im Wolgagebiet brach nach einer Mißernte eine Hungersnot aus, von der im Dezember 1921 36 Millionen Bauern betroffen waren. Dürren und Sandstürme suchten das Moskauer Gebiet heim, riesige Heuschreckenschwärme verwüsteten den Süden und Südosten, und eine Typhusepidemie raffte die Menschen dahin.
 
Zur Zeit des XI. Parteitages im März/April 1922 war die Bürokratie zu einem bleiernen Gewicht am Körper der bolschewistischen Partei geworden. “Die Organisationen der Partei werden systematisch mit einem großen Apparat überzogen, der den Parteiorganisationen dient, der Apparat, der sich langsam ausdehnt, hat seinerseits begonnen, bürokratische Übergriffe zu machen und übermäßig viele Kräfte der Partei an sich zuziehen.” (Entschließung des XI.Parteitages).
 
Im tiefen wirtschaftlichen und kulturellen Niveau Rußlands lag die Grundlage des wuchernden Bürokratismus. Die wirtschaftliche Situation verbesserte sich Anfang 1922. Als Folge der NEP zeigten sich erste positive Auswirkungen in der landwirtschaftlichen Produktion. Der Bauer war jetzt motiviert, einen Überschuß zu erzeugen. Die Industrie erholte sich langsam und erreichte 1922 einen Stand, der rund drei Viertel des Vorkriegsstandes entsprach. Allerdings entwickelten sich aus der Neuen ökonomischen Politik Gefahren, die die Sowjetunion Ende der Zwanzigerjahre – verstärkt durch die stalinistische Politik – in die Nähe des Abgrunds führen sollten. Auf dem Lande drohte die kapitalistische Entwicklung überhandzunehmen, und der Zwischenhändler und Kulak gewannen beträchtlich an Macht. „Inzwischen schwoll dem NEP-Mann der Kamm; er praßte in den hungernden Städten und machte sich über die Revolution lustig. Im Dorf versuchte der Kulak, den Landarbeiter wieder unter seine Gewalt zu bringen, und da und dort begannen er und seine Leute, den ländlichen Sowjet zu beherrschen, während sein Sohn in der Ortsgruppe der Kommunistischen Jugend Rädelsführer wurde.“ (I.Deutscher, Trotzki II)
 
An eine konsequente, unverzügliche Wiedererrichtung der Sowjet- und Parteidemokratie wollte die Mehrheit unter diesen Umständen noch immer nicht denken. Und vor allem die Perspektiven der internationalen Revolution verdunkelten 1922 für die Sowjetunion den Weg zum Sozialismus. Der revolutionäre Aufschwung der unmittelbaren  Nachkriegszeit ging vorüber, ohne daß es dem europäischen Proletariat gelungen war, die Macht zu nehmen. Rußland blieb auf sich alleine gestellt – vor der riesigen und letztlich unlösbaren Aufgabe, in einem Bauernlande das tiefe wirtschaftliche und kulturelle Niveau qualitativ zu heben, die Widersprüche zwischen Industrie und Landwirtschaft aufzulösen, die Klassengegensätze zu überwinden und den Repressionsapparat, den Staat abzubauen, d.h. eben, den Sozialismus aufzubauen.
 
In der zaghaften Konjunktur von 1922 verringerten sich indes nicht einmal die krassesten Auswüchse des Bürokratismus. Im Gegenteil. Die Bürokratie, die aus dem Kriegskommunismus herausgegangen war, durchlebte jetzt einen Prozeß der Stabilisierung und Ausweitung.  1923 werfen Pjatakow, Preobrashenski u.a. in ihrer “Erklärung der 46” dieser Bürokratenclique vor, sich eine bevorzugte Stellung verschafft zu haben. Die Gefahr bestand, dass sie sich immer stärker der Kontrolle der Partei entzog.  Die Kontrollkommissionen entarten zu immer selbstherrlicher agierenden Einrichtungen „Das ZK legt die Parteilinie fest, während die zentrale Kontrollkommission darauf achtet, daß niemand von ihr abweicht, und Maßnahmen ergreift, um Abweichungen zu korrigieren… Autorität erlangt man nicht nur durch Arbeit, sondern durch Furcht. Und der ZKK und der ‚Arbeiter- und Bauerninspektion ‚ (Regierungsorgan, das die Sowjetinstitutionen kontrollieren und rationalisieren sollte -e.p.) ist es jetzt schon gelungen, diese Furcht zu erzeugen. In dieser Hinsicht ist ihre Autorität(!) im Wachsen.“ (Gussew, Vorsitzender der ZKK)
 
Die örtlichen Parteiorganisationen wurden durch das Sekretariat kontrolliert. 1922 war es allgemein üblich, bei ‚Abweichungen‘ örtliche Parteifunktionäre, ja ganze Parteikomitees, abzusetzen und genehmere Parteifunktionäre von ‚oben‘ her zu ernennen. Im Bürgerkrieg  blieb dies oft die letzte Möglichkeit, die Disziplin in der Partei aufrecht zu erhalten. Jetzt, 1922 im relativen Frieden und wirtschaftlichen Aufschwung nahmen die Ernennungen der Parteisekretäre durch die nächst höheren Parteifunktionäre bzw. die Absetzungen rapide zu! Oppositionelle wurden vorsätzlich diskriminiert, „nicht, weil sie unfähige Organisatoren sind, nicht weil sie schlechte Kommunisten sind, sondern allein deshalb, weil sie zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedene Arten der einen oder anderen Gruppierung angehört und an Kontroversen gegen die vom Zentralkomitee vertretene offizielle Linie teilgenommen haben.“ (W. Koissior“, zitiert einen Oppositionellen). Der konservative Zusammenhalt der Bürokratie führte zur Unterdrückung der freien Diskussion und schied systematisch die Opposition aus, während bürokratische Elemente gestärkt wurden. Es ist sicherlich nicht an den Haaren herbeigezogen, daß dieses politische Repressionsklima, das sich vor allem nach dem X.Parteitag breit machte, die Mitglieder und selbst die Kader der Partei. zutiefst beeinflußte. 1922 entstand der Geist, die Partei habe immer recht, der sich bei der Entfaltung der ‚Linken Opposition‘ in der ersten Zeit nach 1923 als sehr schädlich herausstellen sollte. Dies macht auch nicht vor bolschewistischen Kadern wie Leo Trotzki halt, der viel zu zögernd den Kampf gegen die ‚Stalinisierung‘ begann.
 
1922 zeichnete sich bereits die Entwicklung ab, daß das Sekretariat und das ihm angeschlossene Orgbüro die Zusammensetzung der Parteikomitees und darüber hinaus auf weite Sicht die Zusammensetzung des Parteitages mitbestimmte.
 
Am XI.Parteitag wird schließlich das Generalsekretariat gebildet. Lenin hatte wesentlichen Anteil daran und schlug Stalin für den Posten des Generalsekretärs vor. Die Vollmachten  der neuen Funktion weiteten sich gegenüber jenen der früheren Sekretäre um ein Beträchtliches aus. Stalin saß noch der ‚Arbeiter- und Bauerninspektion ‚ vor und dominierte im Orgbüro. Einzig Preobrashenski warnte im Mai 1922 davor, „daß einem einzelnen gestattet werde, so viele verantwortliche Posten zu bekleiden.“
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Die Parteiführung schreckte erst 1923 auf. Lenin schreibt in seinem ‚Testament‘: “Wie tief sind wir gesunken.” Und: “Unsere Bürokratie ist etwas Ungeheuerliches. Ich war darüber entsetzt, als ich die Arbeit wieder (nach seinem ersten Schlaganfall – e.p.) aufgenommen habe.”
 
Schon im März 1922 meinte Lenin zum proletarischen Charakter der Partei, dass er in erster Linie von der “alten Garde” bestimmt werde.  Mit der “alten Garde” bezeichnete Lenin jene Kader, die durch die jahrzehntelange Illegalität im Zarismus, durch den politischen Kampf gegen Sektierertum und Opportunismus, aber hauptsächlich durch das Revolutionsjahr 1917 geprägt wurden. Aufbau der Partei, Kampf um die Massen, Eroberung der Massen, Oktoberrevolution – ein einzigartiges Maß an revolutionären Erfahrungen konzentrierte sich in den bolschewistischen Kadern und in der „alten Garde“. Das ist auch der grundsätzliche Unterschied zu allen Parteien, die in der Tradition des Stalinismus, d.h. im Niedergang der internationalen Arbeiterbewegung groß geworden sind. Selbst im Krieg gegen den Imperialismus, etwa die vietnamesische Bürokratie, vermochten sie nicht diese revolutionären Fähigkeiten zu entwickeln. Sie wuchsen zu bürokratischen Cliquen, zu Militärkasten (!) heran, schroff abgehoben von der Arbeiterklasse, vollgestopft mit der stalinistischen Ideologie.
 
Ähnlich wie Trotzki und die anderen der „alten Garde“ erkennt auch Lenin erst später als notwendig und es möglich gewesen wäre, welche unmittelbaren Konsequenzen der Bürokratisierungsprozeß bereits 1922 brachte. Die Siebung des Funktionärskaders und die Stärkung des bürokratischen Konservatismus mußten zur Schwächung der Partei und der gesunden Elemente in ihr bis in die höchsten Partei ränge hinein führen. Das wird den Kampf gegen die Bürokratisierung ab 1923 unendlich erschweren.
 
Die ‚Arbeiteropposition‘ und die ‚Demokratischen Zentralisten‘ waren zwar die unermüdlichen Warner – ein Großteil von ihnen schließt sich 1923 der ‚Linken Opposition‘ an -, sie fordern bereits 1922 die Auflösung der Kontrollkommissionen und die Beschneidung der Rechte des Orgbüros. Die Hauptverantwortung lag jedoch aufgrund der weitsichtigeren Politik vielmehr bei der Führung der Partei, bei der „alten Garde“. Sie war letztlich der Garant für die Gesundung der Partei. Ihre Existenz gewährleistete das Bewußtsein der Bolschewiki, Teil der internationalen Revolution zu sein, mit deren Hilfe alleine in Rußland wieder die Partei- und Sowjetdemokratie errichtet werden hätte können.
 
Radek beschrieb 1921 zutreffend die Ausnahmesituation Rußlands, die Begrenztheit seiner Innenpolitik und die dramatische Perspektive, wenn es isoliert bleiben sollte. Eine starke, zentralisierte, die Machtmittel des Proletariats beherrschende Kommunistische Partei müsse existieren, „entschlossen, eine gewisse Zeitlang (!), wenn sich die Bedingungen des Kampfes nicht bessern und sich der Mut der Masse nicht hebt, sogar als Partei der revolutionären Minderheit die Macht (zu) behaupten. Natürlich, falls die Mehrheit der Arbeiterklasse in der trügerischen Hoffnung, daß sie selbst in den Ketten der kapitalistischen Sklaverei besser leben kann als kämpfend für ihre Befreiung, gegen die proletarische Diktatur in einer schwierigen Lage aktiv vorgeht und ihr andauernd in den Arm fällt, so wird die Kommunistische Partei ihre Position nicht halten können. Aber solange die Hoffnung auf Besserung der Lage vorhanden ist, muss sie ausharren und versuchen die Position zu halten. Dann bessern sich die Bedingungen, dann steht hinter ihr wieder die Klasse und sie kann den Kampf führen bis zum endgültigen Siege. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur ihr eigenes Werk sein, der kämpfenden Mehrheit des Proletariats. Aber in einem Befreiungskampfe können Situationen eintreten, wo die revolutionäre Minderheit der Arbeiterklasse die ganze Last des Kampfes auf sich nehmen muss, wo sich die Arbeiterdiktatur nur als Parteidiktatur (!) der Kommunisten vorübergehend (!) halten kann. So war manchmal die Lage in Russland.”
 
Die „Besserung der Lage“, d.h. vor allem die internationale Revolution, ist nicht eingetreten. Aus dieser Niederlage heraus überwucherte schließlich die Bürokratie die Partei. Sie begann die Isolation Rußlands („Sozialismus in einem Lande“), dessen Rückständigkeit und all die bürokratischen Übel, die sich jetzt um ein Vielfaches vermehrten, zu theoretisieren. Sie wurden zu Prinzipien für die Bürokratie, nicht mehr zu einer vorübergehenden Erscheinung, und dadurch zu einem grundlegenden Hemmnis, die Sowjetunion zum Ausgangspunkt für die internationale Revolution werden zu lassen. Am Ende dieser Degeneration stand die Liquidierung der bolschewistischen Partei.
 
e.p. , März 1979