von Sergej Matveev, Konstantin Aleksandrovskij
Von einer nennenswerten parlamentarischen Opposition ist in Russland seit 2003 nicht mehr zu reden. Die Organisation einer starken außerparlamentarischen Linken wiederum erweist sich als schwierig, aber nicht aussichtslos, während sich gleichzeitig auch eine Synthese aus Liberalen und Rechtsextremen andeutet. n
Sergej Matveev und Konstantin Aleksandrovskij sind freie Journalisten und schreiben u.a. für „Globale Alternative“ ( www.aglob.ru ).
Stabilisierung des „System Putin“
Die Duma-Wahlen von 2003 waren für die Putin-Administration ein Triumph. Die Partei der Macht, die dieses Mal unter dem Namen „Edinaja Rossija“ (Einiges Russland) angetreten war, erhielt die überwältigende Mehrheit der Stimmen, die Fraktion der Kommunistischen Partei der Bussländischen Föderation (KPRF) verkleinerte sich stark, und oppositionelle liberale Gruppen gelangten überhaupt nicht ins Parlament. Zusammen mit Verbündeten und Überläufern verbuchte „Einiges Russland“ genügend Stimmen, um im Notfall Änderungen an der Verfassung vorzunehmen. Überall erwartete man, dass der Kreml um-gehend von diesem Recht Gebrauch machen und ein Gesetz erlassen werde, das Putin erlauben würde, für eine dritte Amtszeit zu kandidieren.
Dies ist nicht geschehen — zu einem großen Teil aufgrund von Unstimmigkeiten innerhalb der regierenden Kreise selbst. Eine Verfassungsreform hätte nämlich einen unvorhersagbaren Strom weiterer Modifikationen nach sich ziehen können, die nicht mehr im Interesse des Präsidenten und seiner Umgebung, sondern einzelner Gruppen der Bürokratie gelegen hätten. Eine solche Reform also ohne die nötige Vorbereitung und ohne Garantie vollständiger Disziplin in den Reihen der Regierungspartei zu beginnen, hätte im Grunde bedeutet, die Büchse der Pandora zu öffnen. Im Kreml wusste man das nur allzu gut und begnügte sich daher mit dem bereits erreichten Erfolg.
So wurde „Einiges Russland“ zur idealen Abstimmungsmaschine, die jedes von der Regierung oder von der Präsidialadministration geforderte Gesetzespaket ohne Verzögerung durch die Duma bringen kann, die jedoch weder über ein eigenes Programm noch über eine selbstständig erarbeitete Agenda verfügt. Eventuell mögen einzelne Mitglieder von „Einiges Russland“ nach rechts oder nach links ausschwenken, doch hat dies keinen Einfluss auf die allgemeine politische Linie. Die regierende Gruppe kann ihrerseits einzelne Maßnahmen aus den Programmen der Linken oder der Rechten aufgreifen, ohne sich allzu sehr um ideologische Folgerichtigkeit zu sorgen. In dieser vollständigen Abwesenheit eines politischen Programms oder einer politischen Strategie, abgesehen von der ständigen Stärkung der eigenen Macht im Rahmen des bestehenden Systems und in Übereinstimmung mit den allgemeingültigen Regeln, drückt sich der Pragmatismus der Putin’schen Administration aus. Das Regime, das in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts an die Macht gelangte. ist in dieser Hinsicht erzkonservativ.
In den ersten drei Jahren nach dem Auf-stieg zur Macht war es die Hauptaufgabe der Putin-Administration. die Disziplin in den eigenen Reihen zu erhöhen. indem sie alle mangelnder Loyalität Verdächtigten des Amtes enthob und Schlüsselpositionen stattdessen mit Musterbeispielen zuverlässiger Mittelmäßigkeit besetzte. Die Gouverneurswahlen wurden abgeschafft. die regionalen Eliten mehr oder weniger unter Kontrolle gebracht, die Budgets zentralisiert. Die liberale Opposition erlitt 2003 mehrere schwere Schläge: Nicht nur endeten die Wahlen für sie in einer katastrophalen Niederlage, auch ihre Hauptsponsoren verloren mehr und mehr an Einfluss. Der Leiter der Erdölfirma JUKOS, Michail Chodorkovskij, wurde verhaftet, noch bevor die neue Duma gewählt wurde, und die Hoffnung auf seine baldige Rückkehr in die Freiheit verwehte bald. Die „Nummer Zwei“ bei JUKOS, Leonid Nevzlin, verließ das Lanc und tauchte in Israel unter, seine Konter wurden beschlagnahmt — und zwar nich nur in Russland, sondern auch in einiger westlichen Ländern. Zwei weitere als un. treu angesehene Oligarchen, Boris Bere zovskij und Vladimir Gusinskij, hatten sicl noch früher ins Ausland abgesetzt. Docl das war noch nicht das Ende der Unan nehmlichkeiten für die alte Generation de Oligarchen. Das Regime unternahm einer systematischen Übergriff auf den Besit: von JUKOS; Fernsehsender und Zeitungen die sich in den Händen von Gusinskij um Berezovskij befanden, wurden geschlossei oder in andere Hände überführt. Ausländi sche und russische Stiftungen, welche di Opposition finanzierten, stießen auf imme größere Schwierigkeiten. Aber das Haupt problem lag dennoch nicht darin: Die sich nun im Ausland befindlichen Sponsoren der liberalen Opposition wussten selbst nicht, was sie tun sollten. Sie hatten weder eine klar definierte Strategie noch eindeutige Prioritäten. Die liberalen Politiker führten unter sich einen heftigen Kampf um die finanziellen Mittel.
Zu allem Überfluss übernahm die Regierung einen bedeutenden Teil des Wirtschaftsprogramms der Liberalen, aber ergänzte die Politik des freien Marktes und der Deregulierung im Bereich der Sozialleistungen durch eine Erweiterung des staatlichen Sektors. Diese Erweiterung wurde durch den Kauf von Aktien privater Unter-nehmen durch den Staat zu offenkundig erhöhten Preisen sowie durch ineffektive, aber allerorts beworbene paternalistische Maßnahmen, welche die Sorge der Regierung um das Wohl der Bevölkerung demonstrieren sollten, umgesetzt. Während-dessen stieg der Lebensstandard tatsächlich an — nicht so sehr durch die Politik des Staates als durch den Zufluss von Erdöldollars in die nationale Wirtschaft.
Die gesellschaftliche Basis von „Einiges Russland“, die sich unter diesen Bedingungen bildete, erwies sich als äußerst widersprüchlich, dennoch blieb sie solange beständig, wie sich im Lande nichts radikal änderte. Die Geschäftsleute waren zufrieden mit der Stabilität und der liberalen Wirtschaftspolitik, die Anhänger staatlicher Regulierung begrüßten die Einmischung des Staates in das Leben der Gesellschaft, die Linken freute das Wachstum des staatlichen Sektors und die Rechten mussten die Tatsache anerkennen, dass dieser Prozess von einem enormen Geldfluss aus der Staatskasse in die Taschen privater Unternehmer begleitet wurde.
Die Kommunistische Partei in der Krise
Die Lage der KPRF war in den Jahren 2003—2005 nur wenig besser als die der Liberalen. Die Parteispitze kam nicht umhin zu bemerken, dass ihre Anhängerinnen massenweise zu „Einiges Russland“ über-traten. In ideologischer Hinsicht entsprach die Partei der Macht vollkommen dem gesellschaftlichen Ideal, das die patriotische Opposition der 1990er Jahre in ihrer Propaganda gezeichnet hatte. Sie verband in ihrer Ideologie Großmachtnostalgie und gemäßigten Nationalismus mit bürokratischem Zentralismus und Achtung der Gesetze des Marktes. Die Losung von der Rückkehr in die sowjetische Vergangenheit griff schon nicht mehr, doch mit „Einiges Russland“näherte sich das Land dem sowjetischen Entwicklungsmodell so sehr an, wie es im Rahmen des gegenwärtigen neoliberalen Kapitalismus überhaupt möglich ist.
Die ideologische und organisatorische Krise der KPRF führte 2004 zu einer skandalumwobenen Spaltung: Eine Gruppe von Verschwörern um den Gouverneur von Ivanovo Vladimir Tichonov versuchte mit den in der Wirtschaft bekannten Methoden der „feindlichen Übernahme“ die Macht in der Partei zu ergreifen. Es gelang aber nicht, den Vorsitzenden der Partei, Gennadij Zjuganov, abzulösen, sein Einfluss verstärkte sich sogar. Dennoch blieb die wichtigste Frage unbeantwortet: Was die KPRF weiter tun soll, wusste die Parteiführung nicht. Sie suchte einen Ausweg aus der Situation auf zwei ganz und gar entgegengesetzte, sich im Grunde sogar ausschließende Strategien. Auf der einen Seite zeigte die KPRF eine Art „Zickzack nach links“: Sie versuchte, nicht nur radikalere Rhetorik einzusetzen, sondern auch gute Beziehungen zu den sozialen Bewegungen und unabhängigen marxistischen Gruppen aufzubauen, die Anfang dieses Jahrzehnts im ganzen Land aufgekeimt waren. Als Instrument zur Umsetzung der „linken Politik“ sollte die Jugendorganisation der Partei dienen — die SKM. Im Rahmen der Parteistruktur war dieser Kurs mit dem Namen des Leiters der Informationstechnologischen Zentrale der KPRF und des Webmasters der Parteiseite Il’ja Ponomarev verbunden.
Doch zur gleichen Zeit knüpfte die Parteileitung Kontakte zu radikaleren nationalistischen Parteien, bis hin zu offenkundig faschistischen. Da der gemäßigte Nationalismus und im Rahmen des Anstands gehaltene Antisemitismus der Parteispitze kein Resultat erbracht hatte, musste sie die Hilfe derer erbitten, die ähnliche Ansichten äußerten, aber um einiges härter und konsequenter. Hierbei musste die KPRF um die Gunst dieses Publikums mit der neuen Partei „Rodina“ (Heimat) konkurrieren, die speziell für die Wahlen des Jahres 2003 gegründet wurde und 9 % der Stimmen für sich verbuchen konnte. Dass Rodina auf An-stoß der Administration des Präsidenten hin entstand, ist kein Geheimnis. Dennoch beginnt jede erfolgreiche politische Organisation früher oder später, nach eigener Logik zu funktionieren. Und, was am wichtigsten ist, die Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Gruppierungen in der Präsidialadministration schufen eine Situation, die der Spitze der neuen Partei ein bedeutendes Maß an Freiheit verlieh. Dmitrij Rogozin, der Vorsitzende von
Rodina, manipulierte sich zwischen den verschiedenen Kremlgruppierungen hin-durch und entwickelte sich schnell zu einer selbstständigen und gefährlichen politischen Figur, die Nationalisten und Faschisten verschiedener Couleur um sich sammelt und gleichzeitig den Versuch unternimmt, sich als respektablen europäischen Politiker darzustellen (seine Bemühungen in die-se Richtung gipfelten im Versuch eines Beitritts zur „Sozialistischen Internationale“). Um Rodina zu überholen, musste sich die KPRF genauso aggressiv in nationalistischer Rhetorik üben und gleichzeitig ihre Instrumente sozialer Demagogie schärfen, die auch den Anhängerinnen von Rodina gut bekannt sind.
Und doch brachten beide Strategien der Parteiführung mehr Probleme als Nutzen: Die Kontakte der KPRF mit den unabhängigen Linken schufen diesen Gruppen Öffentlichkeit; sie konnten die von Ponomarev zur Verfügung gestellte Infrastruktur nutzen, um die Kontakte untereinander zu festigen. Im Rahmen der SKM wiederum rief das Einschlagen eines „linken Kurses“ den unvermeidlichen Konflikt zwischen denen, die ernsthaft hinter diesem Versuch standen, und jenen, die nationalistische Ansichten vertraten, hervor. Die erhöhte Aktivität der kommunistischen Jugendorganisation SKM vor Ort brachte das recht-mäßige Streben nach mehr Unabhängigkeit mit sich, die aber von der Parteispitze eindeutig nicht vorgesehen war. Ende 2004 gründeten SKM-Aktivistinnen gemeinsam mit unabhängigen marxistischen Gruppen und Komsomol-Organisationen kleiner kommunistischer Parteien die „Molodeznyj Levyj Front“ (Jugendliche Linke Front, MLF), die sich sogleich den Massenpro-testen gegen die liberalen Wirtschaftsmaß-nahmen anschloss, die das Land im Januar 2005 ergriffen.
Als die Januarproteste verstummten, wurde klar, dass das Schicksal der „Jugendlichen Linken Front“ (MLF) und Il’ja Ponomarevs vorherbestimmt war. Die Parteiführung war schon nicht mehr mit der Schaffung eines radikalen Images für die KPRF beschäftigt, sondern mit der Wiederherstellung der Kontrolle. Ponomarev selbst befand sich zwischen zwei Stühlen: Für die Parteifunktionäre waren es seine Taten, die zur Krise der Parteileitung geführt hatten, die unabhängigen Linken dagegen vermuteten in ihm einen Agenten der Zjuganov-Bürokratie oder verurteilten ihn zumindest für die Unfähigkeit, endgültig mit dieser zu brechen. Die Informationstechnologische Zentrale der KPRF wurde liquidiert, die Website der KPRF bekam einen neuen Redakteur, und bald darauf konnten Zjuganovtreue Anführer der SKM auch die MLF zu Fall bringen.
Eine neue Linke?
Und dennoch setzte sich der Vereinigungsprozess des linken Flügels fort. Im Frühjahr 2005 wurde das Organisationskomitee des Russischen Sozialforums gegründet und im April 2005 fand das Forum selbst statt, das mehr als 1 200 Menschen aus den verschiedensten Teilen des Landes zusammenbrachte. Im Zuge des Forums wurde zum ersten Mal die Forderung nach der Gründung einer „Linken Front“ laut. Wie die MLF sich von Anfang an als reines Jugendprojekt darzustellen versuchte, die keine Ansprüche auf einen Platz in der „ernsthaften“, „erwachsenen“ Politik stellte, so erklärte sich die „Linke Front“ (LF) von vornherein zur ideologischen und politischen Alternative zur „alten Opposition“. Dennoch stieß man bei der Gründung der LF zunächst auf zählreiche Hindernisse, vom katastrophalen Mangel an Mitteln bis hin zur inkonsequenten Handlungsweise ihrer Anführer. Im Grunde wurde die neue Organisation entlang derselben Logik gegründet wie die zerfallene MLF. In ihr war von Anfang an ein Widerspruch zwischen jenen, die eine unabhängige linke Politik anstrebten, und jenen, die sich weiterhin an die KPRF klammerten, angelegt.
Die Frage einer unabhängigen linken Politik hatte auch eine Kehrseite: Ist eine Zusammenarbeit mit Liberalen und oppositionellen Nationalisten möglich? Nachdem das Regime von Präsident Leonid Kucma in der Ukraine durch die „orangene Revolution“ gestürzt worden war, erwachte unter den russischen Liberalen und in einem Teil der Linken die Hoffnung auf eine analoge Entwicklung. Die Strategen der liberalen Opposition verheimlichten nicht, dass linke Gruppen und soziale Protestbewegungen als „Infanterie“ genutzt werden sollten, die unter Selbstaufopferung das Regime destabilisieren sollten, um dann jenen „ernsthaften Politikern“ die Geschäfte zu übergeben, die schon während der Präsidentschaft Boris Jelzins aufgestiegen waren. Auch verheimlichten sie nicht ihre Ab-sichten, Putins neoliberale Wirtschaftspolitik weiterzuführen, nur ohne die dem äußeren Schein dienenden sozialen Maßnahmen und ohne demonstrative Versuche, sich in internationalen Angelegenheiten als von den USA unabhängig darzustellen.
Mit anderen Worten sollte die Kritik am Regime „von links“ benutzt werden, um einewirkliche Wende nach rechts zu vollziehen. Der Ex-Oligarch Michail Chodorkovskij hat während seines Gefängnisaufenthalts bereits zwei Artikel über den „Linksruck“ veröffentlicht, in denen er im Grunde genau diesen Kurs deutlich macht. Nach dem Er-scheinen dieser Texte trat Boris Kagarlickij mit einer Reihe von Gegenartikeln auf, in denen er eine Zusammenarbeit deutlich und schroff ablehnte. Ilja Ponomarev dagegen schätzte die Veröffentlichungen Chodorkovskijs weit positiver ein. Die Initiatoren der „Linken Front“ erklärten von Anbeginn an ihre kategorische Ablehnung eines „Links-Rechts-Blocks“, in der Praxis war jedoch ein Teil der Führung einer „taktischen Allianz“ mit den Liberalen zugeneigt. Parallel dazu verloren die Liberalen selbst aber umso mehr das Interesse an den Linken, je weiter die Welle des sozialen Protests des Jahres 2005 abklang. Aus der Sicht der Strategen der liberalen Opposition können verschiedene nationalistische Gruppierungen die Destabilisierung der Regierung weit erfolgreicher durchführen; auch Strukturen der KPRF selbst können gut dazu ein-gesetzt werden.
Der Nachfolgekampf
Auf der anderen Seite wurde zum Jahesbeginn 2006 klar, dass das „Destabilisierungsszenario“ auch für einige Gruppen in der Verwaltung des Präsidenten von Interesse ist. Je deutlicher die Absicht Putins wurde, die Forderung der Verfassungzu erfüllen und zum Jahr 2008 aus dem Amt zu scheiden, desto heftiger entbrannte im Kreml der Kampf um seine Nachfolge. Während die Gruppe um Vjaceslav Surkov auf den Erhalt der funktionierenden Institutionen und die „weiche“ Variante der Machtübergabe bestand, strebten die Anhänger-Innen der „silovye struktury“ (Sicherheitsdienste und Streitkräfte), die meist mit dem Namen Igor Sein in Verbindung gebracht werden, eine Festigung des Regimes an. Je stärker destabilisierend die Auftritte der Opposition in diesem Zusammenhang wirken und je verantwortungsloser und extremistischer die Opposition erscheint, desto besser in den Augen der Sicherheitsstrukturen. Das Kräfteverhältnis zwischen den „Moderaten“ und den „Hardlinern“ (siloviki) innerhalb der Bürokratie würde sich unweigerlich ändern: Ein vorübergehender Kontrollverlust würde die Wiederherstellung der Ordnung einleiten, nunmehr nach neuen, härteren Regeln.
Da verschiedenste Gruppierungen innerhalb der Opposition Verbindungen zu zahlreichen – miteinander konkurrierenden – Gruppen innerhalb der Machtstrukturen aufweisen, ist es nicht verwunderlich, dass die Idee einer „vereinten Opposition“, im Rahmen derer alle Strömungen von Liberalen bis hin zu Faschisten zusammenarbeiten könnten, immer mehr Anhänger gewinnt. Es ist leicht nachzuvollziehen, wes-halb diese Herangehensweise für die Liberalen äußerst attraktiv ist: Obwohl ihnen die Unterstützung seitens der Bevölkerung fehlt, verfügen sie über beträchtliche finanzielle Ressourcen und besetzen trotz der staatlichen Kontrolle über das Fernsehen weiterhin wichtige Positionen in den (Print-)Medien. Ihrem Szenario zu-folge sollen radikale Gruppen linker oder rechter Ausprägung in der Rolle sowohl der „Schlagkraft“ als auch des Opfers polizeilicher Repressionen auftreten, um dann die ernsthafte politische Arbeit den Liberalen zu überlassen. Dabei verlieren die Liberalen auch im Falle eines Sieges der „Hardliner-Variante“, die von Teilen der Administration des Präsidenten propagiert wird, nichts, denn nach der Wiederherstellung der Ordnung muss sich die Macht doch um ihr politisches Gesicht in den Augen des Westens sorgen (und je härter die Übergangsperiode wird, je unbeliebter sich das Regime macht, desto stärker wird das Bedürfnis dazu). Das heißt, dass die Macht sich wieder an die Liberalen wen-den muss, die als Vermittler auftreten könnten, die bei den westlichen Eliten Autorität genießen.
Stärkerwerden des extremen Nationalismus
Eis überrascht nicht, dass sich in den Veröffentlichungen der Liberalen die National-Bolschewistische Partei des Schriftstellers Eduard Limonov derzeit immer größerer Beliebtheit erfreut. Diese Organisation, die ultra-linke und ultra-rechte Rhetorik verbindet, ist einfach perfekt für die Aufgaben der „vereinten Opposition“ geeignet. Sie kann die Situation destabilisieren, jedoch weder die Macht ergreifen noch ihr eigenes Programm durchsetzen, da sie über kein solches verfügt. Die Limonov-AnhängerInnen (Limonovcy) ihrerseits spezialisieren sich immer mehr auf skandalträchtige öffentliche Aktionen, welche die wohlwollende Aufmerksamkeit der liberalen Presse auf sich ziehen (beispielsweise die Besetzung von Verwaltungsgebäuden oder die Bewerfung von Regierungsbeamten mit Mayonnaise). Die Machtinstanzen reagieren auf solche Ausschreitungen mit einer ihrer Bedeutung nach unangemessenen Härte: Teilnehmerinnen an den Aktionen finden sich schnell hinter Gittern wieder. Im Endeffekt sind alle außer den unmittelbar betroffenen Aktivistinnen zufrieden: Die Presse erhält die Möglichkeit, über die Missetaten des Regimes zu schreiben, die Mitarbeiter der staatlichen Sicherheitskräfte beweisen sich im Kampf gegen den Extremismus und Eduard Limonov sieht seine Partei auf der Beliebtheitsskala steigen.
Mittlerweile wird der großrussische Nationalismus immer aggressiver. Seitdem sich das Verhältnis der liberalen Presse zur nationalistischen Opposition gewandelt hat, versuchen verschiedene Gruppierungen sich gegenseitig mit immer härteren Aussagen und gelegentlich auch mit tätlichen Übergriffen zu übertrumpfen. Die Zahl rassistischer Angriffe auf Ausländer-Innen und Angehörige nationaler Minderheiten ist stark angestiegen. Propaganda nach dem Motto „Russland den Russen“ ist zu einer alltäglichen Erscheinung nicht nur bei Politikern rechtsextremer Organisationen, sondern auch bei Vertreterinnen von KPRF und Rodina geworden. Versuche staatlicher Organe, der Verbreitung des extremen Nationalismus entgegenzuwirken, werden von der liberalen Presse als undemokratisch verurteilt. Doch auch Vertreter der Macht vermeiden es bei weitem nicht, die nationalistische Trumpfkarte zu spielen. Gerade die Großmachtpropaganda der ersten Jahre der Präsidentschaft Putins hatte das entsprechende ideologische Klima für nationalistische Tendenzen im Land geschaffen. Es kursieren hartnäckige Gerüchte darüber, dass Skinhead-Banden durch Miliz und Geheimdienste ausgebildet und angespornt werden.
Ein eigenartiges Kräftemessen sowie ein Moment des Umbruchs waren diesbezüglich die Wahlen zur Moskauer Stadtduma im Dezember 2005. Die Wahlen fanden unmittelbar nach den Herbstunruhen in Frankreich statt, die einen wahren Strom rassistischer Kommentare in der russischen Presse ausgelöst hatten – sowohl in der regierungsnahen als auch in der oppositionellen. Vor diesem Hintergrund rief die Partei Rodina dazu auf, die Straßen der Hauptstadt von menschlichem „Abfall“, den in ihren Augen Einwandererinnen und allgemein Andersartige darstellen, zu reinigen. Die Staatsorgane ihrerseits nutzten rassistische Videofilme der Partei, um sie auf dem Gerichtswege von den Wahlen auszuschließen. Die Stimmen von Rodina fielen im Endeffekt der KPRF zu, und die liberale Presse beschuldigte das Regime wiederum antidemokratischer Praktiken.
Man muss im Auge behalten, dass die KPRF aus den Ereignissen vom Dezember einen wichtigen Schluss zog: Rassistische und faschistische Agitation kann Erfolg haben. Eine direkte Folge der Dezemberwahlen war eine Korrektur des Parteikurses. Der Linksruck wurde für perspektivlos erklärt, auf dem rechten Flügel wählte die KPRF hingegen die härtesten und konsequentesten Verbündeten, und zwar Gruppierungen mit offenkundig faschistischer Ausrichtung und faschistischen Losungen: die „Bewegung gegen illegale Einwanderung“ (Dvizenie protiv nelegal ’noj immigracii, DPNI) und die „Slawische Union“ (Slavjanskij Sojuz, SS). Bereits im Frühling hatten die Vorsitzenden dieser Gruppierungen offizielle Einladungen zur Teilnahme und zum Auftritt bei offiziellen Kundgebungen der KPRF erhalten. Innerhalb der Partei war ein verschärfter Kampf um die Macht entbrannt, der durch Gerüchte über den Rücktritt von Gennadij Zjuganov nach den Wahlen 2007 genährt wurde. Unter den gegebenen Bedingungen wurden die „harten Jungs“ aus verschiedenen faschistischen und nationalistischen Lagern zu einer wichtigen politischen Reserve, auf die sich in größerem oder kleinerem Maße alle konkurrierenden Gruppen innerhalb der KPRF zu stützen versuchten. Die linke Fraktion innerhalb der Partei fand sich somit in einer isolierten Position wieder. Im Gegensatz zu den Neonazis, die nichts von der KPRF forderten außer dem Recht, ihre Propaganda auf deren Kundgebungen und unter deren Anhängerinnen zu verbreiten, wollten die Linken Veränderungen in der Partei selbst erreichen, was ihre Forderungen für alle Strömungen und Gruppierungen der Parteibürokratie inakzeptabel machte. Und die Proteste der Linken gegen die Zusammenarbeit mit den Faschisten trafen auf einen umso empfindlicheren Nerv, je mehr diese Zusammenarbeit für die Parteispitze zu einer pragmatischen Notwendigkeit wurde.
Spaltung der „Linken Front“
Diese Tendenzen bedingten auch die Krise des Projekts „Linke Front“. Die Anhängerinnen von Ponomarev bestanden weiterhin auf einer Zusammenarbeit mit der KPRF „um jeden Preis“ und neigten sich immer mehr der Strategie der „vereinten Opposition“ zu (wenn auch mit großen ideologischen Vorbehalten). Das Umfeld um Kagarlickij hingegen erklärte, dass ein solcher Weg ausgeschlossen sei, denn so würde die vereinte Opposition, falls sie denn entstünde, noch schlimmer sein als die regierende Macht.
Im April2005 veröffentlichte Kagarlickij gemeinsam mit einem der Vorsitzenden der SKM, Aleksej Nezivoj, und dem Leiter der NGO „Anti-Oligarchische Front“ (Kontroligarchiceskij front), Semen Zavoronkov, den Vortrag „Sturmwarnung“, der die Korruption in den oppositionellen Parteien zum Thema hatte. Obwohl der Text des Vortrags der von der Gruppe Zavoronkovs zusammengestellt worden war, ausschließlich aus bereits veröffentlichten Materialen und begleitenden allgemeinpolitischen Kommentaren bestand, löste er einen Skandal aus. Die regierungstreue Druckpresse zitierte freudig aus dem Vortrag, und die liberale sowie die nationalistische Presse beschuldigte Kagarlickij der Unterminierung der „oppositionellen Solidarität“. Die Leitung der KPRF sah die „Sturmwarnung“ als Kriegserklärung an und erklärte, sie werde die Autoren gerichtlich verfolgen lassen und eine Gefängnisstrafe für sie erreichen. Solche Drohungen waren natürlich nichts als Bluff, doch entlang der Parteilinie begann die Verfolgung von Anhängerinnen der „Linken Front“: Aleksej Ne2ivoj und der Ideologe des linken Flügels der SKM, Vasilij Koltasov, wurden aus der Partei ausgeschlossen.
Der „riskante Umschwung“ von Kagarlickij führte zur Spaltung des Moskauer Rates der „Linken Front“ – dem einzigen bis dahin gewählten Organ der LF. Die Einheit zwischen den Anhängern einer Orientierung an der KPRF und denen einer unabhängigen linken Orientierung aufrechtzuerhalten war damit unmöglich geworden. Die Handlungen Kagarlickijs und Zavoronkovs beschleunigten lediglich den Ausgang einer Krise, die über Monate hinweg langsam eskaliert war. Das Geschehene zusammenfassend erklärte Koltasov, dass eine vollwertige linke und kommunistische Organisation nur aus einer scharfen Trennung von und aus einem kompromisslosen Kampf gegen die KPRF entstehen könne.
Die Spaltung der „Linken Front“ schuf ihrerseits die Bedingungen für eine Art „Bolschewisierung“ der Bewegung: für die Ausarbeitung eines eigenen politischen Programms und einer einheitlichen Strategie unabhängig von den Liberalen. Diese Position vertrat die Leitung der allrussischen Konferenz der Arbeit (des größten Zusammenschlusses alternativer Gewerkschaften im Land), ihre Solidarität sprachen auch die trotzkistische Gruppe „Vorwärts“ und eine Reihe regionaler Organisationen aus. Auch der linke Flügel der Umweltschutzbewegung „Grünes Russland“ schloss sich an, in der zuvor eine Spaltung stattgefunden hatte (der rechte Flügel schloss sich mit der liberalen Partei „Jabloko“ zusammen).
Als Schwachpunkt einer solchen Vorgangsweise erwies sich die Tatsache, dass sie aktiv von der Macht für ihre Propaganda genutzt werden konnte. Der Vorwurf der „Zusammenarbeit mit dem Regime“ blieb das ernsthafteste Problem, das mit dem „ris-kanten Umschwung“ von 2006 zusammen-hing. Die politische Position der Gruppe um Kagarlickij blieb unverändert, doch ihre Anhängerinnen bekamen in der Tat Zugang zu einigen regierungstreuen Massenmedien, die ihnen zuvor niemals das Wort über-geben hätten. Die Gerichtsverhandlung um die „Sturmwarnung“ weckte sogar das Interesse der Boulevardpresse. Zusätzlich entstand eine skurrile Situation dadurch, dass Kagarlickij und Zavoronkov Blättern und Fernsehsendern, die sie als feindselig oder als dem Kreml und „Einiges Russland“ zu nah stehend einschätzten, das Interview verweigern mussten. Wie Kagarlickij im Interview mit der Internetseite „Globale Alternative“ (www.aglob.ru) offen zugab: „Sie versuchen, uns zu benutzen, und wir versuchen, sie zu benutzen.“ Ob die gefällten Entscheidungen berechtigt waren oder nicht, wird die Zeit uns zeigen.
Die Spaltung der „Linken Front“ hat weder der Reise der russischen Delegation auf das Europäische Sozialforum (ESF) nach Athen im Mai 2006 noch der Vorbereitung des Zweiten Russländischen Sozialforums, das als Antwort auf das G8-Gipfeltreffen für Juli in Sankt Petersburg geplant ist, im Wege gestanden. Dennoch fand diese Arbeit unter äußerst angespannten Bedingungen statt, was sich unweigerlich auf ihre Ergebnisse auswirken musste. Mit der Organisation der Fahrt auf das ESF waren praktisch alle Teilnehmerinnen unzufrieden; um innere Probleme auf ein Minimum zurückzuschrauben, wurde beschlossen, alle Schlüsselfragen der Organisation des Zweiten Russländischen Sozialforums auf das Petersburger Organisationskomitee zu über-tragen, das von den Moskauer Spaltungen bislang unberührt geblieben ist. Wie effektiv dessen Arbeit war, wird sich erst durch die Resultate der kommenden Ereignisse he-rausstellen.
Zu ihrem zweiten Sozialforum und zum G8-Gipfel erscheint die russische Linke gespalten. Dies bedeutet jedoch durchaus nicht, dass die Linke in Russland heute schwächer ist, als vor einem oder zwei Jahren. Im Gegenteil: Die Bewegung ist beträchtlich angewachsen – was sich sowohl in Mitgliederzahlen als auch im Beliebtheitsgrad niederschlägt. Paradoxerweise ist genau dadurch ihre gegenwärtige Krise bedingt. Es ist eine Wachstumskrise, eine Reifeprüfung.
Aus dem Russischen von Victoria Loprieno.
Wahlen zur Duma: Ergebnisse der letzten Wahlen
- Parteien / Bündnisse 2003 Sitze 1999 Sitze
- Einiges Russland 37,6 % 226 36.5 % 139
- Kommunistische Partei 12,6 % 53 24.3 % 114
- Liberaldemokratische Partei 11,5 % 38 6.0 % 17
- Rodina — National-Patriotische Union 9,0 % 37
- Jabloko — Russische Demokratische Partei 4,3 % 4 6.0 % 21
- Union Rechter Kräfte 4,0 % 3 8.6 % 29
- Agrarpartei 3,6 % 2 –
- Partei der Erneuerung Russlands 1,9 % 3 –
- Volkspartei 1,2 % 19 –
- Unabhängige 65 – 130
- Gesamt 450 – 450
- Wahlbeteiligung 55.8 % 60.5 %
(aus „Ost-West Gegen informationen Jg. 18, Nr. 1/2006