W.Wolf: Polen – Der lange Sommer der Solidarität

Der polnische Sommer 1980:
die Streikwelle im Juli – die Lenin-Werft in Gdansk im August – die neue Gewerkschaft Solidarnosc im September

Polen – der lange Sommer der Solidarität

von Winfried Wolf, isp pocket 3 1981

„Am 16.  August war der Streik in der Lenin-Werft in Danzig praktisch zuende.  Walesa als Streikführer hatte mit der Direktion ein Lohnübereinkommen abgeschlossen und das Ende des Streiks verkündet.  Gwiazda, 46-jähriger Ingenieur der Elmor-Fabrik für Schiffselektronik, die, wie etliche andere, in Solidatitätsstreik mit den Dockarbeitern stand, wurde von Panik erfaßt. Ich hatte Angst, gestand er mir, „wir werden als Anführer alle verhaftet, wenn der Streik einmal aus ist.’So warf sich Gwiazda mit seiner Frau und seinem Kollegen Bogdan Lis in den Wagen.  Sie fuhren zu allen streikenden Fabriken, und trommelten die Streikführer zusammen. . .Michael Siegert

Die Führung der Vereinigten Arbeiterpartei Polens – VAP -ließ es sich nicht nehmen, selbst den Startschuß zu dem historischen polnischen Sommer zu geben.  Am 1. Juli 1980, zu einem Zeitpunkt, als der beschriebene gesellschaftliche Gärungsprozeß mit immer verbreiteteren und massiveren Streiks einem Höhepunkt zustrebte, wurden die Preise für Grundnahrungsmittel, insbesondere für Fleisch, von der Regierung massiv und ohne Ankündigung erhöht.  Dies mußte, angesichts der Parallele zu 1970 und 1976, als eine Provokation verstanden werden.  Hinzu kam die Tatsache, daß erklärtermaßen erhebliche Mengen des Fleischkontingents in die genannten Kommerzläden umdirigiert werden sollten, in denen die Preise noch mal um 40 bis 60% höher lagen als in den normalenGeschäften – die bestehende soziale Ungleichheit und Spaltung in der polnischen Gesellschaft wäre ein weiteres Mal vergrößert worden.
 
Die Vereinigte Arbeiterpartei Polens stellte sich damit gegen eine sich vereinigende Arbeiterklasse Polens.  Die Streiks breiteten sich immer mehr aus.  Und bald ging es nicht mehr um die Preiserhöhungen an sich – nicht mehr um einen wirtschaftlichen Kampf (sei es auf Seiten der Regierung – erhöhte Preise zur Lösung der wirtschaftlichen Krise – sei es auf Seiten der Arbeiterklasse – höhere Löhne zur Verteidigung ihres Lebensstandards), sondern um eine Frage der Macht: ist die Regierung in der Lage, schalten und walten zu können, wie sie will, oder wird die Arbeiterklasse dies zu verhindern wissen?
1.- 16. Juli: eine Stadt nach der anderen wird von der
Streikwelle erfaßt. Die Arbeiter fordern einen entsprechenden Lohnausgleich für die Preiserhöhungen. Die Regierung versucht, zu individuellen Vereinbarungen zu kommen und die Informationen über die tatsächliche Streiktätigkeit zu unterbinden: divide et impera.  Das gelingt nicht bzw. nur auf wenige Tage beschränkte Die Regierung gibt in jedem einzelnen Fall, wenn Arbeiter in Streik treten, nach.  Die materiellen Zugeständnisse werden von Tag zu Tag größer.  Bald ist der Spareffekt, den die Regierung mit den Preiserhöhungen beabsichtigte, dahin: die Lohnzugeständnisse überwiegen diese.  Jetzt geht es offensichtlich darum, wer im Lande das Sagen hat, wer das letzte Wort behält: der angeschlagene Edward Gierek und seine Partei, kritisch beäugt von den Mafiosi der übrigen KP-Elite im Warschauer Pakt und den Kredithaien im kapitalistischen Westen – oder die polnischen Arbeiter, die 1970 und 1976 eine solche „ökonomisch rationale“ Wirtschaftspolitik dem Kehrichthaufen der Geschichte übereigneten.
 
6. 19.Juli:  Generalstreik in Lublin.  Zwischen dem 16. und 19. Juli treten die Arbeiter in Lublin in einen Generalstreik.  Die wirtschaftlichen Forderungen liegen nochmals höher als in vorausgegangenen Streiks. Nun wird auch die Forderung nach Familienzulagen für Familienangehörige in Höhe derjenigen, welche Angehörige der Miliz bekommen, erhoben. Die Regierung versucht zunächst, dem Konflikt mit Repression beizukommen und schwenkt dann auf die bisherige Linie ein: den materiellen Forderungen wird weitgehend entsprochen.  Vizepremier Jagielski leitet die Verhandlungen und erhält so in Lublin seine Feuertaufe.  Die Regierung gibt sich weiter gelassen.  Insbesondere E. Gierek hält sich vornehm zurück und widmet sich augenscheinlich seinen ‚eigentlichen‘ Aufgaben (u.a. Reise in die BRD).  Die VAP-Führung geht offensichtlich davon aus, daß Lublin der Epilog der Streikwelle war.  Tatsächlich war, es ein Prolog.
19. Juli bis Mitte August: von der wirtschaftlichen zur politischen Aktion. Die darauffolgenden vier Wochen scheinen der Bürokratie zu bestätigen: „Keine spektakulären Vorkommnisse“, könnte ein oberflächlicher Polizeibericht lauten.  Keiner erwartet die unmittelbar bevorstehende Explosion. Die Streiks setzen sich jedoch im ganzen Land fort; die Informationen über die Streiks, die Forderungen der Streikenden und die Haltung der Regierung verbreiten sich – zumeist über die Drehscheibe KOR bzw. die Zeitung Robotnik, dessen Auflage bis Ende August von zehn auf fünfzigtausend schnellt.  Ebenso wie der vorausgegangene Gärungsprozeß das Land auf den Sommer 1980 vorbereitet hatte, so bereitete die – verglichen mit 1976, 1970, ja auch 1956 – relativ lang anhaltende landesweite Streikwelle vom Juli/August 1980 die Arbeiterklasse auf die Zuspitzung Ende August vor.
 
14.    August bis 17. August: die entscheidenden Tage auf der Lenin-Werft in Gdansk. Am 14. August erfaßt die Streikwelle die Lenin-Werft in Gdansk, den Betrieb, der schon 1970 eine Vorhutrolle gespielt hatte. Wie inzwischen schon beinahe selbstverständlich besetzten die Arbeiter ihren Betrieb und halten ihn in den achtzehn Tagen besetzt – Tag und Nacht. Ein großer Teil der Arbeiter verläßt den Betrieb bis Ende August überhaupt nicht oder nur für ein, zwei Tage.  Die Lenin-Werft wird zu einem riesigen Heerlager der Arbeitervorhut Polens. Es herrscht strikte Disziplin; Anna Walentynowicz auf dem Werksgelände: „Als die Behörden vom Kampf gegen den Alkoholismus sprachen, passierte genau das Gegenteil. Überall gab es Wodka, überall wurde getrunken.  Doch hier – schauen Sie sich um!  Gibt es hier unter uns auch nur einen Betrunkenen?“ Die Arbeiter praktizieren größtmögliche Arbeiterdemokratie; sie verfügen über Massenunterstützung seitens der Bevölkerung und eine Art selbsterstellten ‚direkten Draht‘ zu Gott und der Muttergottes:
 
„Lech Walesa (auf dem Werksgelände): Wir wollen mit einem gemeinsamen Gebet all derer gedenken, die den Streikenden zu Hilfe kommen, Lebensmittel gewähren, uns im Transport und Fernmeldewesen helfen.  Alles das gibt uns neueKraft. (… )
 
Arbeiterin: Heilige Maria, Königin von Polen, behüte die Familien der Streikenden.  Hilf ihnen, diese schwere Zeit durchzustehen.
 
Arbeiterin:  Laßt uns Vernunft für die Regierenden erbitten (… ) Beten wir, damit sie sich bei der Lösung der Probleme vom Wohl des polnischen Volkes leiten lassen.
 
Arbeiterin: Heilige Maria, Königin von Polen, wir bitten Dich um ein Leben in Freiheit ohne Angst.  Wir gedenken unserer Brüder, die im Dezember 1970 gefallen sind.“
 
Der Streik weitet sich von der Lenin-Werft schnell auf die gesamte ‚Dreistadt‘ Gdansk – Sopot – Gdynia aus und damit auf Betriebe, die schon mit Aktivisten des „Baltischen Komitees für Freie Gewerkschaften“ durchsetzt‘ sind.  Forderung Nummer eins auf der Lenin-Werft: „Sofortige Wiedereinstellung vonAnna Walentynowicz an ihrem alten Arbeitsplatz“.  Der Forderungskatalog umfaßt elf Forderungen, darunter solche mit wirtschaftlichem Charakter wie 2000 Zloty Lohnerhöhung, aber auch politische Forderungen die nach Angleichung des Kindergeldes an dasjenige der Miliz, Errichtung eines Denkmals für die im Dezember 1970 gefallenen Arbeiter und Auflösung der Kette kommerzieller Läden‘, Rückkehr und Wiedereinstellung von Lech Walesa und sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen. Die später zentrale Forderung nach freien, unabhängigen Gewerkschaften wird erst in einer Negativ-Formulierung angedeutet: „Auflösung des Betriebsrats der offiziellen Gewerkschaften; sofortige Neuwahlen, um eine wirkliche Vertretung der Arbeiter zu garantieren.“ Und „Auflösung der offiziellen Gewerkschaften auf zentraler Ebene.“
 
Es kommt der entscheidende Tag, Samstag der 16.  August.  Wie anderswo zuvor schwenkt die Geschäftsleitung auf die bekannte Linie ein: mit dem Angebot von 1.500 Zloty mehr liegt sie sehr nah an der entsprechen Forderung der Arbeiter.  Die Taktik scheint aufzugehen, das Ziel – diesen mit 15.000    Beschäftigten wichtigsten Avantgarde-Betrieb aus der Streikfront herauszubrechen – scheint erreicht: am Mittag stimmt die Mehrheit des Gesamt-Streikrats mit Lech Walesa zu. Die Betriebsleitung fordert die sofortige Aufnahme der Arbeit – die Streikenden verlangen eine Garantie, daß niemand für die Streiks bestraft werde.  Auch diese Erklärung wird schnell beschafft – unterschrieben vom ersten Sekretär der Parteiorganisation in Gdansk, Fiszbach.  Der Streik scheint zu Ende zu sein.
Doch dann kommt die Wende.  Obwohl die Arbeiter auf der Lenin-Werft sozusagen lehrbuchhaft immer die Verbindung zwischen den gewählten Arbeitervertretern und der Masse der Streikenden hergestellt hatten – z.B. durch Übertragung fast aller Verhandlungen per Lautsprecher auf das von den Arbeitern besetzt gehaltenen Werftgelände – war doch eine Kluft entstanden.  Die Arbeiterbasis auf der Werft, unterstützt und alarmiert von den delegierten anderer im Solidaritätssteik stehender Betriebe, lehnt den ausgehandelten Kompromiß ab. „Wenn ihr die Arbeit wieder aufnehmt.“ so ein Delegierter eines streikenden Bus-Depots, „dann wird niemand mehr erreichen. Und viele nicht einmal das.“
Der Streik geht weiter; die Leitung des Streikkomitees der Lenin-Werft akzeptiert das Votum der Basis. Lech Walesa: „Wir setzen den Streik fort – aus Solidarität mit den anderen – bis zum Sieg aller!“ 1000, 1500 oder 2000 Zloty – damit kann man den Arbeitern jetzt den Streik nicht mehr abkaufen. Aus einem Kampf primär um wirtschaftliche Forderungen wurde ein politischer Kampf.
 
Die Wende findet schnell ihren organisatorischen und programmatischen‘ Ausdruck: am Tag darauf bildet sich das
überbetriebliche Streikkomitee, abgekürzt MKS, das alle an der baltischen Küste im Streik befindlichen Betriebe repräsentiert. Die berühmten 21 Forderungen werden aufgestellt. Deren erste lautet: „Anerkennung freier, von der Partei und Arbeitgebern unabhängiger Gewerkschaften auf der Grundlage der Konvention Nr.87 der internationalen Arbeiterorganisation (IAO), die von Polen ratifiziert worden ist.“ Hic Rhodos, hic salta – dies wird zum springenden Punkt der weiteren Bewegung.
 
18. August bis 30. August: der verzweifelte Kampf der Regierung gegen die Institutionalisierung einer unabhängigen Gewerkschaft.  Die Lenin-Werft und das überbetriebliche Streikkomitee dieser Werft werden zum Zentrum der Bewegung der polnischen Arbeiter.  Immer neue Betriebe treten in den Streik und besetzen ihre Betriebe; in den letzten Augusttagen repräsentiert das MKS vierhundert Betriebe, die sich im Streik befinden – und dies allein aus der betreffenden Region, der baltischen Küste! Überall werden in freier Wahl betriebliche Streikleitungen gewählt. Diese wählen ihre Vertreter in den zentralen Streikrat, das MKS. Die Entscheidungsprozesse werden für alle Arbeiter offengelegt, Verhandlungen so weit wie irgendmöglich öffentlich geführt. Arbeitervollversammlungen diskutieren und entscheiden wichtige Fragen.
 
Ab dem 23.  August erscheint ein regelmäßiges tägliches Streik-Bulletin , das bereits den Namen „Solidarnosc “ – Solidarität trägt. Das MKS entwickelt sich zu einem zentral Arbeiterrat, der für alle polnischen Arbeiter spricht, verhandelt, entscheidet. Gdansk wird zur proletarischen Hauptstadt – die Vertreter der Regierung und Partei müssen sich von Warschau an die baltische Küste und auf die Lenin-Werft begeben.
 
Aber noch ist es nicht so weit.  Die Gierek-Truppe will, ihren Untergang ahnend, noch einmal das Ruder herumwerfen.  In den letzten zehn August-Tagen läuft eine Kampagne gegen MKS, KOR und die streikenden Arbeiter.  MKS wird offiziell als „konterrevolutionär“, die Streikführung als von „antisozialistischen Elementen“ durchsetzt, KOR als die „geheime Kommandozentrale der Unruhen“ bezeichnet, – wobei das schon angeführte Spiegel-Zitat als Beleg herhalten muß.
 
Mehrere KOR-Mitglieder werden verhaftet; darunter erneut Jacek Kuron.  Die KP-Führung geht noch weiter.  In übler stalinistischer Manier verfälscht sie Kurons auf Tonband festgehaltenen Sätze, wonach die Arbeiter nicht Feuer legen sollten, nicht Parteibüros wie 1970 anzünden sollten etc. in das Gegenteil.  Das Fernsehen sendet entsprechende gefälschte Kuron-Sätze, die angeblich einem Interview, das dieser dem schwedischen Fernsehen gab, entstammen sollen.  Eine absurde Situation – zu einem Zeitpunkt, wo die Lage als „explosiv“ bezeichnet werden mußte, läßt die Bürokratie den – in Haft befindlichen – KOR-Sprecher ‚live‘ im Fernsehen dazu aufrufen, Parteibüros in Brand  zu stecken … ausgerechnet Jacek Kuron,der seit Jahren in Wort und Schrift zur Mäßigung und Vernunft geraten hatte…
Am 18.  August meldet sich erstmals Edward Gierek in einer TV-Ansprache zu Wort und fordert zur Arbeitsaufnahme auf. Die Rede hat     den gegenteiligen Effekt: am folgenden Tag weiten sich die Streiks und Mobilisierungen sprunghaft aus: insbesondere auf den Süden Polens und auf neue gesellschaftliche Bereiche (Bauern, Studenten).
 
Jetzt gerät die VAP ins Wanken.  Die hard-liner‘ um Gierek, die bisher den Ton angaben, geraten mehr und mehr ins Hintertreffen.  Am 24.8. muß Giereks rechte Hand, Ministerpräsident Babiuch, abtreten; Gierek wird zu einer öffentlichen Selbstkritik veranlaßt.  Die Wirkung auf die Arbeiter ist minimal; Anna Walentynowicz: „Es hat einen Wechsel der Personen gegeben, aber wir müssen den Kampf fortsetzen.“
Bis dahin hatte die VAP zwei Ziele verfolgt: Erstens, das MKS nicht anzuerkennen und nur direkt mit einzelnen, im Streik befindlichen Betrieben zu verhandeln. (Hier waren die VAP-Führer ‚Marxisten-Leninisten‘ genug um zu wissen, welche historische Bedeutung diesem Komitee zukam!).  Zweitens die Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften in allen Verhandlungen als Gesprächtsthema auszuschließen und öffentlich zu denunzieren.
Das Scheitern der ersten Zielsetzung liegt auf der Hand – es gelingt der Regierung nicht, einzelne Betriebe aus der Streikfront herauszubrechen.  Das MKS konterte, indem es jeden Betrieb von der gemeinsamen Leitung ausschloß, der solchen Verhandlungen zustimmte.  Das MKS gewinnt damit sogar zunehmend an Stärke und Bedeutung.
Nachdem in der VAP der Flügel, der sich – für den Augenblick – gegen ein repressives Vorgehen ausspricht, die Oberhand gewonnen hatte, wird diese erste Zielsetzung aufgegeben.  Am 24.  August, gleichzeitig mit der Absetzung Babiuchs, stimmt die Parteiführung der Aufnahme von Verhandlungen mit dem MKS zu und bestimmt Jagielski, der sich den (Schein-) Erfolg von Lublin ans Revers angeheftet hatte, zum Verhandlungsführer für die Regierungsseite.
Die zweite Zielsetzung bleibt jedoch aufrechterhalten; ja sie rückt jetzt ins Zentrum der VAP-Bestrebungen: alles zu akzeptieren, überall Kompromisse zu machen – nicht nur in der Frage der freien und unabhängigen Gewerkschaften.  Je mehr der Streik auf der Lenin-Werft und an der baltischen Küste sich in die Länge zieht, desto massiver werden die Drohungen (um Gdansk werden in den letzten August-Tagen Truppen einer Spezialeinheit zusammengezogen) und die allgemeine Kampagne gegen die Streikenden.  Die Kosten, die dieser Streik verursache, werden vorgerechnet – von denen, die zuvor, Wechselrittern gleich, das Land ins finanzielle Chaos trieben.  Am 26.  August gelingt es sogar, Kardinal Wyszynskiin diese Kampagne einzuspannen.  In einer mit viel Spannung erwarteten Predigt während des Festhochamtes zu „Ehren der Gottesmutter von Czestochowa“ fährt der polnische Primas ua. aus:
„Wenn das Schiff zu sinken droht, ist keine Zeit, an die eigenen Interessen zu denken, sondern das Schiff zu retten (…)“
Das waren klare Worte – heute oft nicht mehr so klar im Bewußtsein, wie zum Zeitpunkt, als sie fielen.  Die Arbeiter, die zu Millionen diese Rede verfolgten – die Bürokratie hatte die Verwirklichung einer Arbeiterforderung, die nach Radio- und Fernsehzeiten für die katholische Kirche, vorweggenommen und des Kardinals Rede in ausführlichen Auszügen ausstrahlen lassen – nahmen die Worte kritisch auf.  Und sie antworteten auf ihre Art und Weise: am nächsten Morgen hing um den Hals der Madonna an der Lenin-Werft ein Schild mit der Aufschrift:“Aber die Madonna streikt!“
Am folgenden Tag zieht die Parteizeitung Trybuna Ludu die letzte verbleibende Karte der Bürokratie: während sie erneut „unabhängige Gewerkschaften“ als indiskutabel bezeichnet, spricht sie von einer drohenden militärischen Intervention der Sowjetunion.  An die VAP-Parteiinstanzen wird ein Text versandt, der die Parteifunktionäre speziell mit Argumenten gegen die geforderte unabhängige Gewerkschaft ausrüsten soll. Dieser werden „destruktive“ Tendenzen nachgesagt; der Text kommt aber auch zu ‚richtigen‘ prophetischen Einsichten: „Solche Gewerkschaften würden die tatsächliche Funktion einer Oppositions-Partei haben … Sie würden eine Situation der Doppelherrschaft entstehen lassen.“ Unglücklicherweise gerät der Text in falsche Hände – die VAP an der baltischen Küste ist längst nicht mehr „dicht“ – und wird im „Streik-Bulletin Solidarnosc“ Nr. 1 0 (vom 29.8.1980) veröffentlicht.
 
Die letzten drei Tage im August: Streik der oberschlesischen Bergarbeiter / drohender Generalstreik / die VAP kapituliert. 
Die letzten drei Tage im August bringen die Wende. Im Norden haben die Arbeiter praktische alle Karten ausgereizt – dennoch blieb die VAP in der entscheidenden Frage, der nach Zulassung der unabhängigen Gewerkschaft, hart. Der Entsatz kommt aus dem Süden des Landes – mit dem Streik der oberschlesischen Bergarbeiter.
 
Mehrere Delegationen der oberschlesischen Bergarbeiter hatten während der zweiten Streikwoche der Lenin-Werft einen Besuch abgestattet und die Solidarität der Kollegen aus dem Süden zum Ausdruck gebracht.  Es ging auch um die Frage: Sollten die Bergarbeiter in den Solidaritätsstreik treten? Die Streikleiter des MKS in Gdansk rieten eher zum Abwarten – das entsprach ihrer generellen, gemäßigten Linie, denn es war klar, dass ein Streik im traditionellen Industriezentrum im Süden schlagartig die Situation verschärfen musste. Dennoch traten die Bergarbeiter am 28. August in den Streik – zunächst in der Mine Jastrzebie, zwei Tage später gefolgt von 26 anderen Minen und 27 Fabriken. Insgesamt traten somit nochmals rund 300.000 Arbeiter in den Streik. Sofort bildete sich ein zweites überbetriebliches Streikkomitee (MKS) – der Erfahrungsaustausch mit den Kolleginnen und Kollegen im Norden hatte die Zentralisierung beschleunigt.
Das oberschlesische Bergarbeiterzentrum hatte bis dahin für die VAP als „streiksicher“ gegolten.  Es handelte sich um den ersten Streik seit Jahrzehnten, der hier stattfand; in allen drei vorausgegangenen großen Streikbewegungen (1956, 1970 und 1976) war es hier ruhig geblieben.  Hohe Löhne, ein sehr hoher Parteiorganisationsgrad (unter den Streikenden und Streikführern in Oberschlesien befanden sich bedeutend mehr Parteimitglieder als im Norden) schienen Garanten für weitere Streikruhe.  Schließlich war E. Gierek seit Kriegsende Erster Sekretär der betreffenden Parteiorganisation. Hier hatte er seine Hausmacht; das Gebiet galt als eine Art „Lehensgebiet“ des VAP-Chefs. hinzukam, daß Ende Juni, vor den neuen Preissteigerungen, den Bergarbeitern seitens der Bürokratie beträchtliche Lohnsteigerungen als Ausgleich gewährt wurden, um dieses Gebiet befriedigt zu halten.
Nun also auch in Oberschlesien ein Massenstreik.  Eine explosive Situation ist damit entstanden.  Der nächste Schritt wird der landesweite Generalstreik sein.  Die VAP ist nun zu einer Entscheidung gezwungen.  Am Freitag, dem 29. August, tritt das Politbüro zusammen. Hier soll es zu einer 8 zu 5-Mehrheit für Gierek, der militärische Maßnahmen gegen die Streikenden auf der Lenin-Werft forderte, gekommen sein. Die verantwortlichen für Sicherheit und Militär weigerten sich jedoch, solche Sanktionen einzuleiten mit dem Hinweis, dass sie keine Garantie für die Loyalität der Sicherheitskräfte geben könnten. Das Blatt wendet sich; die Politbüro-Minderheit gewinnt im später stattfindenden ZK eine Mehrheit.  Der Damm ist gebrochen – die VAP gibt nun auch die letzte Position, die Ablehnung der Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften auf und gibt Jagielski für die Schlußphase der Verhandlungen grünes Licht. Am 30.August kommt es zu einer Vereinbarung in Szczecin; am selben Tag wird das Abkommen in Gdansk paraphiert. Die Arbeiter bestehen jedoch auf einer öffentlichen Absegnung durch eine Plenartagung des ZK der VAP und zeigen damit auf ihre Art, daß sie „mit beiden Beinen auf dem Boden der marxistisch-leninistischen Grundordnung“ stehen.
Und noch etwas – die Arbeiter geben kurz vor Erreichung ihrer Ziele eine beeindruckende Geste und unterstreichen das Bündnis der Arbeiterklasse mit den antibürokratischen Intellektuellen.  Am 30.  August spielte sich auf der Lenin-Werft folgende Szene ab; festgehalten im Film Arbeiter 80:
„Lech Walesa: Herr Premierminister . .
Jagielski: Aber wir haben doch unterzeichnet . . . (paraphiert; W.W.)
Lech Walesa: Und deshalb bin ich der Meinung, wir haben es zu 50% geschafft.
Jagielski: Etwas Geschriebenes ist nicht so leicht auszuradieren!
Walesa: Genau, Herr Premierminister, aber es bleiben noch viele Probleme (… ) Wir bitten Sie, die Verhaftungen einstellen zu lassen.  Besonders in Warschau.  Die Leute vom KOR (… ) diese Leute sind unschuldig. Ich fordere Sie auf, sie freizulassen!
Jagielski: Davon ist mir nichts bekannt.  Wie ich hörte, gab es gewisse Unruhen in Wroclaw.  Sie wurden zeitweilig festgenommen und sind wieder frei.  Ich halte die Sache für geklärt.
Walesa: Wir haben Listen, die können sie gerne einsehen, über die Verhaftungen in Warschau.  Ich schlage vor, die Gespräche nicht in die Länge zu ziehen.  Herr Premierminister, wir wünschen, daß Sie zurückkommen (zur endgültigen Unterzeichnung; W.W.), sprechen Sie (im ZK; W.W.) auch über die Verhaftungen.
Jagielski:  Bis Montag, hören Sie, ich meine wir werden es noch heute, wenn ich zurück (in Warschau; W.W.) bin, erledigen.“
Das ZK gibt seinen Segen zu dem ausgehandelten Abkommen; am 31.8.1980 erfolgt die endgültige Unterzeichnung in Gdansk. Tags darauf werden auch die verhafteten KOR-Mitglieder freigelassen.
Jacek Kuron schrieb in seinem Offenen Brief an die Werftarbeiter und alle Arbeiter an der Küste von Anfang September 1980: „Ich wende mich an Euch, weil ich vor allem Euch danken muß, daß ich und meine Kollegen vom KOR am 1. September freigelassen wurden. (…) Am 23.September 1976 bildeten wir mit rund einem Dutzend
Leuten das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter.  Wir haben uns damals geschämt für die Tatsache, daß die Intelligenz 1970/71 geschwiegen hatte und wir wollten unseren guten Namen wiederherstellen ….“
 
Am 3. September schließlich wurde eine entsprechende Übereinkunft im Werk Jastrzebie mit dem dortigen MKS unterzeichnet. Am 1. bzw. 4. September wurde die Arbeit an der Küste bzw. in Oberschlesien wieder aufgenommen.
 
5./6.September: Die Partei verordnet Gierek eine Herzattacke und legt sich einen neuen Verwalter zu.  Es gehört zum Ritual der KPen in den bürokratisierten Übergangsgesellschaften, nach derartigen gesellschaftlichen Erschütterungen „personelle Konsequenzen“ zu ziehen.  Diese erfolgen – je nach Grad der Erschütterung – abgestuft.  Eine Woche zuvor war die VAP noch der Meinung gewesen, es genüge his master‘s voice, Babiuch, indie Wüste zu senden.  Das war offensichtlich unzureichend; man hatte einen Fehler begangen – die Arbeiterklasse war damit nicht zufriedenzustellen.  Nach den Abkommen von Gdansk, Szczecin und Kattowice mußte man einen neuen Anlauf nehmen und das Ritual des Austauschs der Charaktermasken an der Spitze vollziehen.  Am 5./6. September tagte erneut das ZK, behauptete steif und fest, Gierek leide an einer Herzattacke und wählte einen neuen Mann als Parteichef, Stanislaw Kania.
 
Die Partei trennte sich mit Gierek von einem Mann, der auf besondere Art und Weise mit der polnischen Arbeiterklasse ‚verbunden‘ war: 1956 stand er an der Spitze der Kommission, die die Umstände des Poznaner Aufstands zu untersuchen hatte. E. Gierek hatte hier erstmals Gelegenheit, die Wut der Arbeiterklasse gegenüber der Partei kennenzulernen. (Der Bericht wurde natürlich nie veröffentlicht.) die darauffolgende Arbeiterrevolte gegen die VAP spülte Gierek an die Spitze der Partei – um nun 1980, nach der neuerlichen Arbeitermobilisierung in der Versenkung zu verschwinden.  Nur daß diese Mal das Verhältnis der Arbeiterklasse zur Partei weniger mit Wut, als mit Verachtung charakterisiert werden muß.  Giereks Abgang und die Inthronisierung eines neuen, bisher weitgehend unbekannten Manns als VAP-Sekretär wurde von den Arbeitern weitgehend uninteressiert zur Kenntnis genommen.
 
Das lag jedoch auch an dem neuen Mann, die VAP hatte den ‚einfachen‘ Weg gewählt und eine radikale Lösung (wie 1956) gescheut – und beging damit erneut einen Fehler.  Schon die Eröffnungsrede Kanias spricht Bände; der neue Parteisekretär hob wie folgt an:
„Verehrte Genossinnen und Genossen!
Die gegenwärtige Plenartagung (des ZK; W.W.) wurde beschleunigt einberufen.  Ich schaffe es nicht, eine grundsätzliche Rede vorzubereiten.  Deshalb möchte ich kurz nur zu einigen, den im Moment wichtigsten Fragen Stellung nehmen. Niemals in meiner langjährigen Zugehörigkeit zur Partei habe ich geglaubt, daß Volkspolen, daß die Partei vor so komplizierte, so dramatische Probleme gestellt sein würde, wie es heute der Fall ist.  Umso mehr habe ich nie erwartet, daß mir eine so große Bürde der Verantwortung zufallen würde (… )“
 
Das klang zweifellos nach der Rede einer ehrlichen ‚Haut‘ und sollte wohl auch so klingen bzw. war möglicherweise für den Augenblick – so gemeint.  Ganz sicher war es jedoch keine Rede, die Massen begeistern konnte, die versuchen konnte oder wollte, daß das Vertrauen der Arbeiterklasse zur VAPtatsächlich wiederhergestellt wurde – der Unterschied gegenüber neuen Führern anläßlich früherer „personeller Konsequenzen“ ist unüberhörbar.
 
S. Kania erscheint so eher als ein Kompromißkandidat, der die verschiedenen, sich widersprechenden Positionen innerhalb der VAP-Bürokratie auf einen Nenner bringen soll: einerseits eine gewisse Kontinuität zu wahren – Kania war bis dahin ein Gierek-Mann gewesen; E. Gierek hatte ihn 1971 in das ZK-Sekretariat und 1975 in das Politbüro gehievt – andererseits einen gewissen Wandel‘ zu demonstrieren: Kania hatte in den letzten August-Wochen eine mäßigende Position eingenommen; er hielt am 24.  August auf der ZK-Sitzung auch schon das Einleitungsreferat zur politischen Situation (nach dieser Sitzung sah sich Gierek zu einer ersten Selbstkritik veranlaßt).  Er hatte als Militärchef der Partei entscheidend dazu beigetragen, daß Giereks letzter Amoklauf – ein Militäreinsatz gegen die Streikenden auf der Leninwerft – nicht durchgeführt wurde.  Schließlich war den Interessen Moskaus Rechnung zu tragen.  Kania war zuletzt für öffentliche Sicherheit und Streitkräfte sowie Kirchenfragen zuständig – Aufgabengebiete, die gerade in Polen zur Aufrechterhaltung (oder Wiederherstellung) von Ruhe und Ordnung prädestinieren. In der zitierten Antrittsrede Kanias sprach dieser auch davon, daß er (Kania) nicht überzeugt sei, ob die Partei einen ,Führer‘ brauche, womit die ‚ehrliche Haut‘ Kania zu verstehen gab, daß er sich selbst nicht als solcher fühle.  Die MoskauerPrawda vom 8. September 1980 gab Kanias Rede in langen Passagen wieder – diese Stelle allerdings sparte sie aus.  Was anderes sollte dies bedeuten, als daß der Kreml sich Kania just so wünschte, wie er selbst nicht sein wollte und nicht sein konnte, d.h. wie ihn die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht sein ließen: ein entschlossener und tatkräftiger Führer der Partei der Bürokraten. Im übrigen sprach Kania in der zitierten Rede zwar davon, daß er die Einhaltung des Gdansker Abkommens garantieren werde.  Gleichzeitig kündigte er jedoch eine ‚Erneuerung der bestehenden Gewerkschaften‘ an und warnte vorweg, die Partei werde darüber ‚wachen‘, daß die neuen Gewerkschaften sich so entwickelten, wie das sozialistischen Organisationen anstehe.  Und schon in dieser Rede geißelte Kania die „antisozialistischen Kräfte“, die er und seine Kollegen – wie zuvor Babiuch, Gierek und Co. – in der embryohaften neuen Gewerkschaft ausgemacht hatten.  Und dabei sollte es bleiben; das Programm dieser neuen‘ VAP unter Kania war: 1. farblos und verschwommen; 2. bestimmt von verbalen Zugeständnissen; 3. die neue Gewerkschaft spalten und diffamieren, wo nötig, um auf diese Art die Macht soweit möglich zu halten.
 
4.-22.September 1980: die neuen Gewerkschaft Solidarnosc (Solidarität) wird gegründet. Gleich nach der Unterzeichnung der Abkommen von Szczecin, Gdansk und Katowice setzen die Diskussionen zur Gründung einer landesweiten neuen Gewerkschaft ein.  Vor allem dort, wo bisher nicht oder noch nicht für das Ziel einer unabhängigen Gewerkschaft erfolgreich gestreikt worden war, versuchten die lokalen Behörden der Verallgemeinerung des Gdansker Abkommens Steine in den Weg zu legen.
 
Am 17.September schließlich trafen sich in Gdansk über 500 Delegierte von 36 Initiativen für die unabhängige Gewerkschaft in Gdansk. Am 22.September kam es zu einer Einigung über die Gründung und die Statuten eines einheitlichen Gewerkschaftsverbandes, der den Namen Solidarnosc tragen sollte. Er sollte aus 17 autonomen, regionalen Verbänden zusammengesetzt sein, sich entlang der industriellen Struktur organisieren und eine koordinierende Kommission – die „Landeskommission“ – auf nationaler Ebene, in Gdansk haben.
 
Die polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter hatten einen historischen Sieg errungen, der bis dahin – die darauffolgende Geschichte nach dem August 1980 noch ausgeklammert – einmalig für eine bürokratisierte Übergangsgesellschaft ist: die monolithische, nach- und noch- stalinistische VAP hatte schriftlich ihre Kapitulation vor der Arbeiterklasse, die sie zu vertreten behauptete, ratifiziert und sie hatte in dem darauffolgenden, obligatorischen Personenkarussell mit der Führungsfigur, die sie auswählte, einen politischen Führungsanspruch in der Gesellschaft aufgegeben.  Allerdings – trotz aller Unterschriften, feierlichen Erklärungen, Händeschütteln und Personenkarussell – in Wirklichkeit hatte der Kampf damit erst begonnen.  Die Zugeständnisse erwiesen sich als ungeduldiges Papier.  Sie mußten in den folgenden Wochen und Monaten in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst durchgekämpft werden – wenn auch unter Kräfteverhältnissen, die für die Arbeiterklasse bedeutend günstiger waren als in dem ersten Halbjahr 1980 und sich von Woche zu Woche zugunsten der Arbeiterklasse verbesserten.