Theodor Bergmann, “Dann fangen wir von vorne an”

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Theodor Bergmann

Fortsetzung Theodor Bergmann

Ich bin auf beiden Wegen gegangen, habe viel gelesen nach Feierabend und große Teile des Gelesenen erst allmählich wirklich begriffen. Etwa 15 Jahre habe ich dann im Stall und auf dem Acker, im Bergwerk, auf dem Bau, in Metall- und Holzbetrieben in vier Ländern gearbeitet, »die Länder öfter wechselnd als die Schuhe«, habe fleißige Bauern und harte Unternehmer über mir gehabt. In meiner Jugend — vor Hitler — habe ich auf einem dritten Weg Marxismus, undogmatischen, kritischen Marxismus gelernt bei erfahrenen, kritischen Kommunisten, teils Theoretikern und Akademikern, teils Autodidakten aus dem Arbeitsleben. Ich nenne stellvertretend August Thalheimer und Arthur Rosenberg, Heinrich Brandler, Waldemar Bolze, Hans Beck, Robert Siewert, Jacob Walcher und Paul Böttcher.

Mit dieser dreifachen Erkenntnis habe ich den deutschen Faschismus erlebt, seinen Aufstieg und temporären Sieg noch in Deutschland. Dann habe ich die Entwicklung, die vielen Scheinsiege und den unaufhaltsamen Niedergang und die Katastrophe des Dritten Reichs von außen beobachtet. In der Zeit der Emigration habe ich auch sehr viel Solidarität erfahren von Genossen und von Unbekannten. Ohne diese Solidarität hätte ich vielleicht keinen 90. Geburtstag feiern können.

In den 1920er Jahren wirkte der Widerschein der siegreichen russischen Revolution in alle Kontinente hinein; das Vertrauen und die Hoffnung von damals sind heute kaum vorzustellen und zu vermitteln.

Aber ich habe auch den Niedergang der offiziellen kommunistischen Bewegung bewusst miterlebt mit der Sozialfaschismus-»Theorie« und dem ultralinken Kurs Stalins und Sinowjews, mit den Moskauer Schauprozessen 1936-38. Schon 1925 hatte August Thalheimer jede Schönfärberei der Riesenprobleme des sozialistischen Aufbaus abgelehnt, von der Möglichkeit gesprochen, dass dieser erste Großversuch, die Grenzen des kapitalistischen Gesellschaft zu überschreiten, scheitern könnte: Damals hat er vor einem Scherbenhaufen der kommunistischen Weltbewegung als Folge der beschlossenen »Bolschewisierung« der kommunistischen Parteien gewarnt. 1937 wünschte er die Absetzung Stalins durch die sowjetischen Kommunisten, um die Sowjetunion gegen den drohenden deutschen Faschismus verteidigen zu können. Er war also kein Determinist, sondern sah immer verschiedene Wege in die Zukunft und appellierte daher an die Eigeninitiative der Werktätigen.

Seit dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 – ihrem letzten – und immer deutlicher im Krieg und nach der Niederlage des deutschen Faschismus habe ich miterlebt, wie die kommunistischen Parteien trotz objektiv revolutionärer Möglichkeiten auf jede revolutionäre Zielsetzung verzichteten – im Auftrage und im Interesse der schwankenden Stalinschen Diplomatie. Und schließlich haben wir alle 1989/90 die Selbstzerstörung des »Realsöziälismus« von Ostberlin bis Wladiwostok miterfahren. Geblieben sind die vier nichtkapitalistischen Inseln im kapitalistischen Ozean, Entwicklungsländer auf dem langen, mühseligen Weg aus der Unterentwicklung in eine sozialistische Gesellschaft: Cuba, Vietnam, China und Nordkorea.

Nach diesem historischen Auf und Ab, welthistorischen Leistungen und schweren Verbrechen und Niederlagen insbesondere der deutschen Arbeiterbewegung, nach den Verbrechen der Stalin- und der Mao-Ära, wie kann man da noch Kommunist sein? Bin ich mit 90 Jahren und vier Tagen vielleicht ein »versteinerter Bolschewik«?

Marx und Engels sagen 1848 im Manifest der kommunistischen Partei: »Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter… Diese Organisation der Arbeiter zur Klasse und damit zur politischen Partei wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger.«

Ich möchte die vier wichtigsten Gründe nennen, warum ich nach allem an meiner kommunistischen Überzeugung festhalte. Der Kapitalismus ist Kapitalismus geblieben. Der Reformismus der SPD hat ihn weder politisch gezähmt, noch von ökonomischen Krisen befreit. Im Gegenteil: Der Reformismus hat zum Ersten Weltkrieg beigetragen, zur Niederschlagung des Revolutionsversuchs 1918 und zur widerstandslosen Kapitulation 1933. Wir sind nicht, wie 1918 versprochen, »friedlich in den Sozialismus hineingewachsen«, sondern haben uns, Sozialdemokraten und Kommunisten, gemeinsam in KZs, Zuchthäusern und Exilländern getroffen.

Der deutsche Kapitalismus ist brutaler und arroganter geworden, die Ausbeutung und die Profitgier schamloser. Die bürgerliche Demokratie wird ausgehöhlt, das Parlament zum Spielplatz der über 2000 Lobbyisten, die Gesellschaft sinnentleert. Nie war die Kollusion zwischen den Herren der großen Unternehmen und dem oberen Staatsapparat einschließlich Bundeskanzlern beiderlei Geschlechts so eng und so offen. In der angeblich klassenlosen Gesellschaft wachsen Massenarmut und -erwerbslosigkeit, die Ausgrenzung von Millionen.

Das erträgliche Lebensniveau, das sich die arbeitende Mehrheit in Jahrzehnten erkämpft und nicht geschenkt bekommen hat, bleibt auf die 11% der Weltbevölkerung in den G7-Staaten beschränkt — und hier auf die angeblich zwei Drittel. Aber in den kapitalistischen Entwicklungsländern, etwa 65%, zwei Dritteln der Weltbevölkerung sehe ich Massenarmut, Hunger, Krankheiten, Analphabetismus — trotz »Entwicklungshilfe« bleibende menschenunwürdige Unterentwicklung.

Der moderne Kapitalismus hat die globalen Probleme nicht gelöst. Im Gegenteil: Die kapitalistische Führungsmacht verschärft sie mit ihrem Weltherrschaftsanspruch für das kapitalistische System und der Verhinderung von Reformversuchen und gefährdet unseren instabilen Frieden.

Aber ich bin mir auch bewusst, dass die traditionelle Arbeiterbewegung in ihren beiden Hauptströmungen ihre Aufgaben nicht gelöst hat. Nur wenn der Marxismus weiterentwickelt wird, können wir Antworten auf viele neue Fragen finden. Marxismus ist für mich kein Steinbruch, in dem ich die mir passenden Antworten oder Zitate bei den Klassikern suchen kann, sondern eine Anleitung zum kritischen kollektiven Nachdenken, zur undogmatischen Analyse, zur Kritik an unseren Irrtümern, zum Verständnis der neuen Entwicklungen und der großen Aufgaben.

Vor und nach einer Revolution brauchen Kommunisten Selbstkritik, immer neue Überprüfung ihres Weges, ihrer Strategie und Taktik. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft kann nicht irgendeinem Modell, auch nicht dem erfolgreichsten folgen. Kein Erfolg lässt sich kopieren. Kommunismus ist nicht monolithisch und einfältig, sondern plural und vielfältig in Theorie und Praxis, hundertmal reicher als die Weisheit des großen Stalin oder des großen Mao. Sozialismus-Aufbau in Cuba, China, in Bolivien oder in Deutschland muss je eigene Modelle erdenken und immer wieder zu Selbstkritik und Reform fähig sein. Reformfähigkeit gehört zu den wichtigsten Grundeigenschaften von Kommunisten an der Macht.

Meine Genossin und lebenslange Partnerin Gretel hat mich in unseren streitbaren Debatten z.B. über die Chancen der Entstalinisierung unter Chruschtschow oft einen »blauäugigen Optimisten« genannt. Sie hat es selbst bedauert, dass Chruschtschow keinen Erfolg hatte. Ich bleibe ein vorsichtiger historischer Optimist und kritischer Kommunist im Sinne von August Thalheimer.

Antonio Gramsci sagt: »Man kann seinem sehr begründeten theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis widersprechen.«

Und Rosa Luxemburg wird oft zitiert mit dem Satz: »Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.« Sie schließt ihre Kritik an Lenin und Trotzki mit folgenden, sehr selten zitierten Sätzen: »In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden; es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft dem Bolschewismus.«<

(aus Dann fangen wir von vorne an<<, VSA 2007)