Ilan Pappé: DIE ETHNISCHE SÄUBERUNG IN PALÄSTINA (A.Wosni)

800.000 MENSCHEN ENTWURZELT UND 531 DÖRFER ZERSTÖRT: HISTORIKER ILAN
PAPPÉ BESCHREIBT DIE ETHNISCHE SÄUBERUNG IN PALÄSTINA

Geschrieben von: Marcel Pott – http://www.tlaxcala-int.org
Donnerstag, den 29. November 2012 um 07:47 Uhr

Die ethnische Säuberung Palästinas gehört zu jenen dunklen Kapiteln des
20. Jahrhunderts, die von interessierter Seite gerne verdrängt werden.
Das hat den israelischen Politikwissenschaftler Ilan Pappé, Leiter des
Instituts für Konfliktforschung an der Universität Haifa, nicht daran
gehindert, sich mit dem Thema gründlich auseinanderzusetzen und die
Ergebnisse seiner Forschung der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Eine
Rezension von Marcel Pott.

„Ich bin für Zwangsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches.“

Schon das dem Vorwort des Autors vorangestellte Zitat des Staatsgründers
David Ben Gurion bringt den Leser dazu, die erste Fußnote zu studieren.

Er will wissen, wann genau der in Israel als „Vater der Nation“ verehrte
Ben Gurion diesen Satz über die arabische Bevölkerung Palästinas gesagt
und wem gegenüber er sich so geäußert hat.

Wir erfahren, dass David Ben Gurion am 12. Juni 1938 auf einer Sitzung
der Exekutive der Jewish Agency für die Zwangsumsiedlung der Bevölkerung
in Palästina eingetreten ist. Ben Gurion war die bestimmende Figur
innerhalb dieser zionistischen Organisation, die damals die Interessen
der jüdischen Zuwanderer in Palästina international vertrat.

Zu diesem Zeitpunkt – rund 15 Monate vor Ausbruch des 2. Weltkriegs –
war bereits klar erkennbar, dass das von der britischen Kolonialmacht
beherrschte Palästina zu einem dauerhaften Konfliktherd werden würde,
denn die aus Europa gekommenen Juden waren Zionisten – also jüdische
Nationalisten – die in dem von Arabern bewohnten Land einen jüdischen
Nationalstaat gründen wollten. Das brachte sie als zugewanderte
Minderheit zwangsläufig in Gegensatz zu der arabischen Nationalbewegung
der einheimischen Bevölkerung in Palästina, die die überwältigende
Mehrheit darstellte.

Die brisante Lage war entstanden, weil das britische Empire zwischen
1922 und 1938 unter seinem militärischen Schutz eine massive Zuwanderung
zionistischer Siedler nach Palästina gegen den Willen der Araber
ermöglichte. Damit setzte Britannien die in der Balfour-Erklärung von
1917 versprochene Unterstützung der Zionisten für die Schaffung einer
sog. „nationalen Heimstätte“ für die europäischen Juden in Palästina in
die Tat um.

Die ständig wachsende zionistische Gemeinschaft ging von Anfang an
strategisch vor und arbeitete kontinuierlich auf einen jüdischen
Nationalstaat hin – mit großem Erfolg. Denn die Araber Palästinas waren
den gebildeten Zuwanderern aus Europa soziokulturell weit unterlegen.
Die Briten wussten das, – alles geschah unter ihren Augen und mit ihrer
Billigung.

Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund zitiert der israelische
Historiker Ilan Pappé die Äußerung von David Ben Gurion über die
Zwangsumsiedlung der arabischen Bevölkerung Palästinas, die er zehn
Jahre vor Gründung des Staates Israel gemacht hat.

Ebenfalls bei der Lektüre des Vorworts lernt der Leser, dass es einen so
genannten Plan D gab, der als Grundlage für die kollektive Vertreibung
der Palästinenser diente und in Tel Aviv im ROTEN HAUS verabschiedet
worden ist.

„In diesem Gebäude saßen am 10. März 1948, einem kalten
Mittwochnachmittag, elf Männer zusammen – altgediente zionistische
Führer und junge jüdische Offiziere – und legten letzte Hand an einen
Plan für die ethnische Säuberung Palästinas. Noch am selben Abend
ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort, die
systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Teilen des Landes
vorzubereiten. Die Befehle gaben detailliert die Einsatzmethoden zur
Zwangsräumung vor: groß angelegte Einschüchterungen, Belagerung und
Beschuss von Dörfern und Wohngebieten, Niederbrennen der Häuser mit
allem Hab und Gut, Vertreibung, Abriss und schließlich Verminung der
Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern. Jede
Einheit erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen
dieses Masterplans. Er trug den Codenamen Plan D und war die vierte und
endgültige Version vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die
Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung vorsahen. Die
ersten drei Pläne hatten nur vage umrissen, wie die zionistische Führung
mit der Anwesenheit so vieler Palästinenser in dem Land, das die
jüdische Nationalbewegung für sich haben wollte, umzugehen gedachte.
Diese vierte und letzte Blaupause sprach es klar und deutlich aus: Die
Palästinenser mussten raus.“

Ilan Pappé will mit seinem Buch unter Verweis auf zahlreiche historische
Quellen zeigen, dass Plan D einerseits das zwangsläufige Ergebnis der
ideologisch verankerten zionistischen Bestrebung war, in Palästina eine
ausschließlich jüdische Bevölkerung zu haben. Andererseits war Plan D
nach Einschätzung des Autors eine Reaktion auf die Entwicklungen vor
Ort, nachdem die britische Regierung beschlossen hatte, das
Palästina-Mandat zu beenden.

Zusammenstöße mit palästinensischen Milizen – so Pappé – boten einen
perfekten Kontext und Vorwand, die ideologische Vision eines ethnisch
gesäuberten Palästina umzusetzen. Die zionistische Politik zielte
zunächst auf Vergeltungsschläge für palästinensische Angriffe im Februar
1947 und mündete im März 1948 in eine Initiative, das ganze Land
ethnisch zu säubern.

„Nachdem die Entscheidung gefallen war, dauerte es sechs Monate, den
Befehl auszuführen. Als es vorbei war, waren mehr als die Hälfte der
ursprünglichen Bevölkerung Palästinas, annähernd 800.000 Menschen,
entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und elf Stadtteile entvölkert.
Der am 10. März 1948 beschlossene Plan und vor allem seine systematische
Umsetzung in den folgenden Monaten war eindeutig ein Fall ethnischer
Säuberung, die nach heutigem Völkerrecht als Verbrechen gegen die
Menschlichkeit gilt.
Nach dem Holocaust ist es fast unmöglich geworden, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit zu vertuschen. Unsere moderne, von Kommunikation
gestützte Welt lässt es besonders seit dem Aufkommen elektronischer
Medien nicht mehr zu, von Menschen verschuldete Katastrophen vor der
Öffentlichkeit zu verbergen oder zu leugnen. Und dennoch ist ein solches
Verbrechen fast vollständig aus dem weltweiten öffentlichen Gedächtnis
gelöscht worden: nämlich die Vertreibung der Palästinenser durch Israel
1948.
Dieses höchst prägende Ereignis in der modernen Geschichte des Landes
Palästina wurde seit damals systematisch geleugnet und ist bis heute
nicht als historische Tatsache, geschweige denn als ein Verbrechen
anerkannt, dem man sich politisch wie moralisch zu stellen hat“.

Der israelische Historiker Ilan Pappé ist entschlossen, dazu
beizutragen. Er wendet sich mit seinem Werk gegen die offizielle
israelische Darstellung von der Zeit von 1948, die – wie er schreibt –
die historischen Tatsachen mit allen Mitteln vertuscht und verdreht hatte.

„Das Märchen, das die israelische Geschichtsschreibung erfunden hatte,
sprach von massivem ‚freiwilligem Transfer‘ Hunderttausender
Palästinenser, die sich entschlossen hätten, vorübergehend ihre Häuser
und Dörfer zu verlassen, um den vordringenden arabischen Truppen Platz
zu machen, die den jungen jüdischen Staat vernichten wollten“.

Tatsächlich, so der Autor, belegen palästinensische Quellen eindeutig,
dass es den jüdischen Truppen schon Monate vor dem Einmarsch arabischer
Truppen in Palästina, während die Briten noch für Recht und Ordnung im
Land zuständig waren, gelungen war, nahezu eine Viertelmillion
Palästinenser zwangsweise zu vertreiben.

Ilan Pappé ist davon überzeugt, dass eine historische und politische
Notwendigkeit besteht, das vollständige Bild über die Geschehnisse in
Palästina zu zeichnen. Das schließt zwangläufig arabische Quellen und
mündlich überlieferte Geschichte mit ein.

Es gibt für uns – schreibt Pappé – keinen anderen Weg, die Wurzeln des
gegenwärtigen israelisch-palästinensischen Konflikts umfassend zu
verstehen.

Außerdem sind wir moralisch dazu verpflichtet, den Kampf gegen die
Leugnung dieser Verbrechen weiterzuführen, weil die bereits aufgedeckte
Geschichte in Israel nicht in den öffentlichen Bereich moralischen
Bewusstseins und Handelns vorgedrungen ist.

Dem Historiker Pappé geht es explizit darum, die Mechanismen der
ethnischen Säuberung von 1948 zu untersuchen. Doch er will auch das
kognitive System ergründen, das es der Welt und den Tätern ermöglichte,
die von der zionistischen Bewegung 1948 begangenen Verbrechen zu
vergessen oder zu leugnen.

Warum der Autor das Buch in dieser Weise geschrieben hat, schildert er
selbst mit emphatischen Worten.

„Manchen mag diese Herangehensweise – das Paradigma ethnischer Säuberung
a priori als Basis für die Darstellung der Ereignisse von 1948 zu nehmen
– vom Ansatz her als Anklage erscheinen. In mancherlei Hinsicht ist es
tatsächlich mein eigenes j’accuse! gegen die Politiker, die die
ethnische Säuberung planten, und gegen die Generäle, die sie
durchführten. Aber wenn ich ihre Namen nenne, so tue ich es nicht, weil
ich sie posthum vor Gericht gestellt sehen möchte, sondern um Tätern wie
Opfern ein Gesicht zu verleihen: Ich möchte verhindern, dass die
Verbrechen, die Israel begangen hat, auf so schwer fassbare Faktoren
geschoben werden wie ‚die Umstände‘, die ‚Armee‘ und ähnlich vage
Verweise, die souveräne Staaten aus der Verantwortung entlassen und
Individuen straflos davonkommen lassen. Ich klage an, aber ich bin auch
Teil der Gesellschaft, die in diesem Buch verurteilt wird. Ich fühle
mich sowohl verantwortlich für als auch beteiligt an der Geschichte, und
ich bin ebenso wie andere in meiner Gesellschaft überzeugt – wie der
Schluss dieses Buches zeigt -, dass eine derart schmerzhafte Reise in
die Vergangenheit der einzige Weg nach vorn ist, wenn wir eine bessere
Zukunft für uns alle, Palästinenser wie Israelis, schaffen wollen. Darum
geht es in diesem Buch“.

Wer den Kernkonflikt im Nahen Osten besser verstehen will, sollte das
mit viel Herzblut geschriebene Buch von Ilan Pappé lesen.

Ilan Pappé: „Die ethnische Säuberung Palästinas“, übersetzt von Ulrike
Bischoff, Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2007, € 19,90.

3sat Videobericht: http://www.youtube.com/watch?v=_BH0H26y_Ok