Bernd Rabehl: Dutschke als Denker seiner Zeit

Nach einem Referat am SDS-Symposium in Berlin, gehalten am 23. Juni 1985.

I.Es ist leichter, dogmengeschichtlich und abstrakt über die theoretischen Entwürfe und über die Theoretiker der Aufklärung, des utopischen Sozialismus, über Marx, Engels oder Lenin zu sprechen, als über eine Persönlichkeit, deren Denken Bezüge zur unmittelbaren Gegenwart aufweist. Für mich wird es schwierig, über einen toten Freund, über Rudi Dutschke, zu reden, dessen theoretische L`berlegungen mit einer politischen Situation verschlungen sind, die auch mich nachhaltig geprägt hat. Diese persönliche und situative Verstrickung erleichtert eher, Auslassungen, Einseitigkeiten, Festlegungen, Verdrängungen zuzulassen. Es kann allerdings auch gelingen, aus einer zeitlichen Distanz heraus, Vergangenheit neu aufkeimen zu lassen. So wird aus der Schwierigkeit eine Chance, etwa die Schriften gegen die übliche Interpretation zu lesen, sie herauszulösen aus der Unmittelbarkeit und die Kühnheit aufzubringen, alles neu zu überdenken und zuzuspitzen.

Bei einer ersten Durchsicht seiner Aufsätze, Stellungnahmen, Reden und wissenschaftlichen Abhandlungen fällt auf die Vielzahl von Theoretikern ,Ideologen, Politiker, die Rudi Dutschke scheinbar willkürlich zitiert, um eine theoretische und politische Position abzusichern. Der Eindruck von Eklektizismus, Gelehrsamkeit, von universitärem Imponieren drängt sich auf. Dieses Zusammenbringen verschiedener Epochen und oft widersprüchlicher Theorien scheint nur noch über die Persönlichkeit, über den Agitator Dutschke zu gelingen. Er vereint u.a. Lukäcs, Solschenyzin, Lenin, Trotzkij, Fromm, Marcuse, Mao, Bloch, Horkheimer. Beim Lesen der oft komplizierten Gedankengänge von Dutschke, beim Auflösen der verschachtelten Satzkonstruktionen klingt untergründig seine Stimme auf und erleichtert das Verständnis.

Wird von der Gesamtheit seiner Schriften ausgegangen und wird vor allem das reflektierte Werk, „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“ berücksichtigt, stellt sich sehr schnell heraus, daß Dutschke von der politischen Situation des Aufbrechens des machtpolitischen status quo in Europa und in der Welt ausgeht. Die Vereinbarungen der Großmächte in Teheran, Yalta, Potsdam (1943 — 1945), die Umrisse einer Aufteilung der Welt in Einfluß- und Machtzonen zerbrechen unter der Wucht der Kolonialrevolutionen und der sozialrevolutionären Zersetzungen innerhalb der Machtblöcke. Eine historische Situation öffnet sich und enthält nach langer Zeit wieder die Möglichkeit von Emanzipationskämpfen. Hier wird es bedeutsam, die Tradition des Emanzipations- und des Herrschaftsdenkens aufzuarbeiten, um auch gedanklich auf die Hdhe der Zeit zu gelangen. Jetzt wird einsichtig, warum Dutschke die gegensätzlichen Politiker und Theoretiker aufbietet, sie ausschöpft und aktualisiert für. eine „Revolutionstheorie der Gegenwart“. Diesem Anspruch unterwirft Dutschke sein Denken.

Eine solche Herangehensweise an die theoretischen Leistungen von Dutschke zerstört die „Mythologisierung“ der Revolte von ’68. Es gehört zum Bild der Revolte, die radikale Abkehr von den Werten und Autoritäen herrschen-der Politik zu verbinden mit einer autoritativen Orientierung auf Revolution, auf deren Werte, auf die Guerillaromantik, auf Personenkult ihrer Helden und Führer. So wird auch Dutschke in diesem Bild dämonisiert. Er wird zum Ideologen und zum charismatischen Führer erhoben.

Dieses „Unheimliche“ läßt sich leicht auflösen. Seine Identität mit der historischen Situation des „weltpolitischen Umbruchs“, die in den sechziger Jahren aktuell zu sein scheint, kann nicht verwechselt werden mit „Sendungsbewußtsein“ oder mit „Machtwillen“. Er nimmt große, persönliche Anstrengungen auf sich, er liest oft 10—15 Stunden am Tag, setzt seine ganze protestantische Erziehung in Arbeitsdisziplin um, um wenigstens lektüremäßig die „Höhe“ der Auseinandersetzung zu erreichen. Er ist sich des theoretischen Vakuums bewußt, das bereits in der Weimarer Zeit entsteht und dann über die Zeit des Nationalsozialismus und über die Nachkriegsperiode in den bei-den Deutschlands vertieft wird. Hierüber verfestigt sich der Bruch, die Entfernung, die Trennung zur Tradition der europäischen Befreiungs- und Emanzipationsgeschichte. Seine Lesewut, die Hinwendung zu den oft gegensätzlichen Revolutionstheorien unterschiedlicher Zeitepochen oder sozialer Kulturen, diese Suche nach Vermittlungen wollen das Vakuum überbrücken und sollen den intellektuellen Erfahrungsverlust überwinden.

Weder in der Bundesrepublik noch in der DDR besitzt die Tradition der Arbeiterbewegung oder der radikalen Demokratie direkte Bezüge. Sie ist mehrfach gebrochen, zerstört durch die nationalsozialistische Diktatur, durch den Stalinismus, durch die Besetzung der beiden Deutschlands und durch die Hegemonie der Siegermächte in ihren Besatzungszonen. Eine sozialistische und radikaldemokratische Intelligenz, entnabelt von jeglicher Tradition, wird gezwungen, eine doppelte Leistung zu erbringen. Sie muß gedanklich den Traditionsbruch überwinden und anschließen an eine originäre Emanzipationstheorie bzw. diese aus einer aktuellen Situation entwickeln. Und sie muß sich zugleich wehren gegen das gespaltene Denken in Deutschland, das einmal als offizieller Marxismus-Leninismus Herrschaftsanspruch der UdSSR und der DDR verfolgt und das als Liberalismus, Sozialdemokratismus und Konservatismus den nordamerikanischen Macht- und Politikvorstellungen genügt. In einer besetzten Nation, die durch die Spaltung jeweils den großen Machtblöcken zugeschlagen wird, ist auch das Denken der Intelligenz den Ansprüchen der Großmächte ausgesetzt. In einer derartigen Freund-Feind-Konstellation gerinnt Kriiik sehr leicht in die Unterstützung der einen oder der anderen Großmacht. Aus dieser Machtkombination, aus dieser Besetzung des Denkens, aus dieser Festlegung will sich Dutschke lösen. Die Pespektive liegt für ihn darin, die verschiedenen europäischen, asiatischen und lateinamerikanischen Revolutionen selbst zu erforschen, ihre Theoretiker und Theorien zu befragen bzw. zu rekonstruieren, um hierüber den Zugang zur Gegenwart zu finden. Er selbst fühlt sich als Produkt einer Zeitspanne, in der durch die Kolonialrevolutionen, durch die Streiks und Aufstände in Ungarn, Polen, der CSSR und durch die riots, Demonstrationen und Aufruhr in USA, Italien, Frankreich und der Bundesrepublik die Substanz von Großmachtpolitik aufbricht und sich historische Möglichkeiten ergeben.

Mit seinem Lesefleiß und mit seinen Diskussionen regt Dutschke an, motiviert er, reißt er mit. Für seine Freunde wird er so etwas wie eine personifizierte Unrast und Provokation. Er rüttelt auf und gibt Impulse. Der SDS ist für ihn Diskussionsforum und immer auch eine Übergangsorganisation, deren Mitglieder durchaus Interesse aufbringen für derartige Fragestellungen, die jedoch als Bündnisorganisation und als akademischer Debattierclub mit tausend Fäden mit der herrschenden Politikkultur verbunden bleiben. Charismatisch wirkt Dutschke nur auf Leute, die keinerlei Identität zu ihrer Zeit besitzen, die mitgerissen werden, ohne auf eigene Verarbeitung zurückgreifen zu können. Bereits der Übertritt von Dutschke aus der DDR, aus der Mark, nach West-Berlin hat untergründig mit seiner Gespaltenheit und Identität zur deutsch-deutschen Situation zu tun. Er geht, weil er diese deutsche Spaltung nicht für endgültig hält und er leidet zugleich an den Trennungen von seiner Familie, von den alten Freunden. So bemerkt er sehr schnell auch die Trennung dieser West-Berliner Intelligenz von den originären Traditionen der Arbeiterbewegung, der Befreiungskämpfe.

II.

Dutschkes theoretische Arbeiten bilden einen Torso. Sie sind nicht endgültig ausgearbeitet. Die Einsichten sind verpackt in alltäglicher Agitation oder verborgen hinter den mühseligen Rekonstruktionen der einzelnen Theorien. Trotz dieser Unfertigkeit sind eindeutige Zielsetzungen von Theoriebildung erkennbar. Die Annäherung bzw. Konzipierung von theoretischen Grundfragestellungen werden bestimmt durch eine wiederholte Verarbeitung theoretischer und politischer Traditionen. Lenin und die russische Revolution, Lukäcs und die westeuropäische Alternative zur russischen Revolution, Marcuse als die erste Verarbeitung dieser beiden Traditionen und als ein theoretischer Übergang zur Revolutionstheorie in den „Metropolen“ wer-den vielfach rezipiert und gegeneinander konfrontiert.

Das liegt nicht nur daran, daß Dutschke durch seine Verwundung, durch das Attentat und durch die langwierige Genesung aus seinem Schaffensprozeß gerissen wird und durch viele Anstrengungen hindurch an sein „altes“ Denken wieder anschließen muß. Sicherlich wird durch die Verarbeitung der Erfahrungen und der Niederlagen der Außerparlamentarischen Opposition der Bundesrepublik der Blick verschärft, werden die Fehler und Auslassungen in den Traditionen deutlicher und werden die Fragestellungen radikaler. Die APO wird absorbiert von der zweiseitigen politischen und ideologischen Besetzung. Sie löst sich auf in die etablierte Politik von SPD und FDP oder wird vereinnahmt von der entstehenden DKP/SEW bzw. reproduziert in ihrer revolutionär sektiererischen Abschließung frühe Formen des Marxismus/Leninismus, die alle wegführen von den Veränderungen im eigenen Land. Eine Intelligenz liefert sich aus, indem sie auf die eigene emanzipatorische Identität verzichtet.

Lukäcs, der Kantianer und Hegelianer, der sich 1956 auf die Seite des ungarischen Aufstands schlägt und der theoretisch viele Hoffnungen auf die Entstalinisierung der UdSSR und Osteuropas nach dem XX. Parteitag der KPdSU richtet, wird für Dutschke der Theoretiker und der Maßstab kritischen Denkens. Die Auseinandersetzung mit dem jungen Lukäcs von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ scheint zum späten Lukäcs der Abrechnung mit dem Stalinismus zu führen. Um so größer wird die Enttäuschung über dessen abstrakte Überhöhung von Realität, über sein Ausweichen auf Ethik und Moral, die in den zwanziger Jahren darin mündet, die Kommunistische Internationale und die UdSSR anzuerkennen als Bollwerk der kommunistischen Arbeiterbewegung und die die Stalinismuskritik in den sechziger Jahren in Kulturkritik enden läßt. Die Auseinandersetzung mit Lenin ist für Dutschke von Anfang an gegeben. Das Leninsche Denken ist Grundlage des Marxismus-Leninismus und damit der vorherrschenden Staatsideologie der Sowjetunion. Es wird in seiner revolutionären Enthüllung und ideologischen Verhüllung gesehen. Lenin wird betrachtet als Ideologe der Europäisierung des unterentwickelten Rußlands und als unbewußter Akteur einer halbasiatischen, staatskapitalistischen Restauration. Die Leninkritik soll die Grundlagen der ML-Ideologie treffen und es soll damit das ideologische Selbstverständnis einer Großmacht angegriffen werden, die einen Teil Deutschlands besetzt hält. Marcuse hat nach Dutschke die Herrschaftsmechanismen und die ideologische Stabilität der anderen Großmacht USA durchschaut. Für Nordamerika und für Westeuropa entwickelt er so etwas wie Ansätze einer Revolutionstheorie, wie eine Charakterisierung der individuellen Grundlagen und der sozialen Gruppen von Protest.

Die Auseinandersetzung mit diesen drei Themenbereichen schließt die historische Perspektive der Kritik ein. Dutschke, der aus den Traditionen und aus den realpolitischen Verhältnissen der Weltlage der sechziger Jahre eine aktuelle Revolutionstheorie erschließen will, hat für Deutschland mit drei Problemen fertig zuwe, den: mit den Revolutionen in Rußland und Deutschland (1917/1918), mit der Stalinschen Restauration, die unter Lenin bereits nach 1918 einsetzt, mit dem Triumph der Revolution von rechts in Deutschland 1933 und mit der Zerschlagung der Hitlerdiktatur und der Besetzung Deutschlands durch die Rote Armee und durch die Alliierten Truppen 1945. Rekonstruktion von Theorien in einem historischen Kontext verlangt eine Herangehensweise, die vielfältige Bezüge aufweist. Ausgangspunkt bleibt die Marxsche Kapital- und Revolutionstheorie. Das Leninsche und Lukäcs’sche Denken wird in dem Zusammenhang der russischen und der ungarischen und deutschen Revolution gesehen. Marcuse wird bereits mit der Frankfurter Schule als eine theoretische Reaktion auf die Niederlage der westeuropäischen Arbeiterbewegung und auf die Machtübernahme des Nationalsozialismus betrachtet. Diese vielschichtige Rekonstruktion von Theorie in ihrer historischen Vermittlung zur Wirklichkeit macht die Kompliziertheit des Denkens von Dutschke aus und die Schwierigkeit, sich diesem Theoriefragment zu nähern.

Diese Einschätzung einer fragmentarischen Revolutionstheorie von Dutschke, die sich löst von dem Machtanspruch der Großmächte, aus der ideologischen Frontstellung von Freund und Feind, und trotzdem festhält an sozialen Grundlagen der Revolution und damit einem nationalistischen Aufbruch widerspricht, soll an Hand von Textstellen der Schriften belegt werden. Bereits im Diskussionsbeitrag über das „Verhältnis von Theorie und Praxis“ in „Anschlag“ 1, August 1964 (abgedruckt in: „Subversive Aktion“, Frankfurt 1976) ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen, daß der status quo der Machtabsprachen der Großmächte von 1945 zerfällt. (ebd. S. 190) Er gibt ausführlich Marx wieder aus der „Einleitung“ der „Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie“: „Die Theorie wird in einem Volke immer nur soweit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. Wird nun dem ungeheuren Zwiespalt zwischen den Forderungen des deutschen Gedankens und den Antworten der deutschen Wirklichkeit derselbe Zwiespalt der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staate und mit sich selbst entsprechen? Wer-den die revolutionären Bedürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein? Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen“. Dutschke kommentiert dieses Marxzitat: „Unsere Gedanken, die zur Wirklichkeit drängen, auf Verwirklichung des Gedankens aus sind, müssen auf eine Wirklichkeit treffen, die schon in Bewegung geraten, so schwanger von Enthüllungswillen ist, daß der revolutionäre, Gedanke, die revolutionäre Theorie, „nur“ noch der Ausdruck der Bewußtwerdung und der Bewußtmachung der gesellschftlichen Wirklichkeit ist. . .“ Er fährt fort. „Heute haben wir tatsächlich eine Zweiteilung der Welt erreicht, (…), nämlich die Trennung der Welt in reiche und in arme Länder.“ (ebd. S. 191/192). Dutschke setzt mit einem Marxzitat an, interpretiert dieses in einem aktuellen Zusammenhang. Er leitet über zu Lukäcs aus „Geschichte und Klassenbewußtsein“ von 1923, um von hier die Möglichkeit revolutionärer Erschütterungen auch in Mitteleuropa zu verdeutlichen. Die historischen Texte von Marx und Lukäcs erlangen Aktualität. Sie werden als Zeitgenossen vorgetragen und so erst einmal die Sprengkraft von revolutionärem Denken aus historisch vergangenen Zeitepochen vorgeführt.

Weder das gespaltene Deutschland, noch Europa sind Träger von Weltgeschichte. Die beiden Deutschlands sind jedoch eingebunden in eine weltgeschichtliche Totalität, die weniger in den Machtzentren einer geteilten Welt, in der Sowjetunion und in den USA, aufbricht, sondern in den Randzonen, in den „schwächsten Gliedern‘ durch die Kolonialrevolutionen erschüttert wird. Gerade weil die Hegemonialmächte, die sich in Deutschland gegenüber-stehen, in ihren Machtabsprachen berührt werden, wirken die Kolonialrevolutionen zurück. (ebd. S. 194)

Diese Befreiungskriege stärken nicht die Machtposition der UdSSR. Nicht hierüber findet eine Machtverschiebung zugunsten der Sowjetunion statt. Die Kolonialrevolutionen beeinträchtigen zwar primär das „imperialistische Lager“, können von der UdSSR jedoch nicht ausgenutzt oder grundsätzlich unterstützt werden, weil der Freiheitswillen und die Befreiungskämpfe selbst wieder auf den Vielvölkerstaat Sowjetunion Einfluß nehmen. Diese hat nicht die Ziele der Oktoberrevolution verwirklicht, sondern hält über bürokratische Herrschaft und großrussischen Nationalismus die eigene Stabilität auf-recht. (Dutschke in „Proletarischer Internationalismus und Imperialismus“, Anschlag 2, November 1964, ebd. S. 260). In dem Aufsatz, der das erste Heft von „Anschlag 1“ einleitet, und der den Titel hat: „Die Rolle der antikapitalistischen, wenn auch nicht sozialistischen Sowjetunion für die marxistischen Sozialisten in der Welt“, stellt er heraus, daß die UdSSR letztlich für die sozialistischen Emanzipationskämpfe eine „Belastung“ darstellt. Den Stalinismus kennzeichnet er in dieser Stellungnahme als „totalitäre Herrschaft“, die trotz der Verschiedenheit der sozialen Verhältnisse zur NS-Diktatur in Deutschland eine „symetrische Erscheinung“ besitzt. Hier beruft er sich auf Trotzkij aus der „verratenen Revolution“. Eine Entstalinisierung gelingt nicht, weil kaum die Wurzeln dieser Stalinschen Herrschaftsform im Militär, Sicherheitsapparat, Staat und Partei aufgelöst werden. Hier bezieht er sich auf Aufsätze des „späten“ Lukäcs vom Beginn der sechziger Jahre. (ebd. S. 172/173)

In einem Brief „zum Münchner Konzil der Subversiven Aktion, April 1965“, geht er auf die innere Dynamik der beiden Großmächte ein. USA und Sowjetunion sind über ihre Rüstungspolitik gezwungen, eine höchst-mögliche Rationalisierung der Arbeit zu erreichen. Rüstung und technologische Rationalisierung der Produktion, bedeuten für Dutschke, die vollständige Einpassung der Menschen in die Feindideologie und in die technologische Herrschaftslogik. Der „Druck von innen“, des Widerstands gegen diese Rationalität und der „Druck von außen“ laufen zusammen zu einer sozialrevolutionären Erschütterung bestehender Machtverhältnisse in Ost und West. Dutschke bezieht sich bei dieser Einstellung auf Marcuse. In dessen Sprache fährt er fort: „In diesem Augenblick wird sich die ,Schuld der Vergangenheit‘ noch einmal zu einem ,letzten Gefecht‘ von ungeheuren Dimensionen kristallisieren. Vortechnologische Rationalität in den Entwicklungsländern und sich von technologischer wieder in kritische Rationalität umwandelnde Denk-form in den Industrieländern werden sich vereinigen in einer die Welt umfassenden Lust-Rationalität, Stillegung der Geschichte, Experimentieren und Spielen mit dem Apparat, die Ungleichzeitigkeit der historischen Dialektik schließt sich in diesem Augenblick; eine ,Welt ohne Krieg und Hunger‘ über-steigt gegenwärtig noch unsere Phantasie. . .“ (in: Rudi Dutschke, Geschichte ist machbar, Berlin 1980, S. 38)

Das revolutionäre Subjekt setzt sich für Dutschke zusammen aus den Bauernmassen, den Handwerkern, Kleinbürgern und der entwurzelten Intelligenz der „dritten Welt“ und aus den „Beleidigten und Erniedrigten“ der Industriegesellschaften, aus rassischen, intellektuellen, kulturellen, produktionstechnischen Minoritäten, die aus der technischen Rationalität der Produktionsapparate herausfallen bzw. hinausgedrängt werden. Sie bilden ein antiautoritäres Lager aus unterschiedlichen sozialen Milieus. (in: „Subversive Aktion“ ebd. S. 113, S. 168, S. 261 usw.)

Anfang 1965 ist Dutschke überzeugt, erste Bausteine einer Revolutionstheorie aufweisen zu können. Mit dieser Auffassung geht er in den SDS und formt die antiautoritäre Fraktion. Die Einschätzung der UdSSR als Groß-macht folgt noch weitgehend dem Trotzkij’schen und Marcuse’schen Bild. Auch bei der Kennzeichnung der USA als Großmacht bezieht er sich weit-gehend auf Marcuse, auf Baran und Sweezy. Uns interessiert, wie er theoretisch diese Kritik vertieft und dadurch zweierlei erreicht, das Selbstverständnis dieser Großmächte in Zweifel zu ziehen und dadurch ihre ideologische Machtposition in Deutschland zu reflektieren. In diesem Zusammenhang verfeinert er auch die Revolutionstheorie.

IV.

Die politische Tätigkeit im SDS und die Bedeutung dieser Organisation innerhalb einer Studentenrevolte und innerhalb einer entstehenden Radikalopposition, von den Medien als „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) bezeichnet, veranlaßt Dutschke, der sehr schnell eine antiautoritäre Fraktion mit anderen im SDS bildet, zwischen 1965 und 1968 die Revolutionstheorie konkreter-zu fassen und für die Praxis zuzubereiten. Es geht auch darum, innerhalb des SDS Position zu beziehen gegen unterschiedliche Richtungen und vor allem gegen eine spezifische Marxismus- und Politiktradition. Er will vor allem klären, warum linksintellektuelle Minoritäten bereit und fähig sein müssen, „politische Offensiven“ zu eröffnen und herauszukommen aus der Bedeutungslosigkeit oder aus der bloßen Akzeptanz bestehender Politik.

Dutschke vollzieht mit dieser Sichtweise einen Analogieschluß. Die Diskussion um die Märzaktion in Deutschland, 1921, innerhalb der kommunistischen Partei Ungarns und innerhalb der KPD, die Offensivtheorie von Lukäcs, wird aus dem historischen Zusammenhang gelöst und wird auf die Situation der Bundesrepublik des Jahres 1967 übertragen. Eine derartige romantische Orientierung auf unvermittelbare Politikauffassungen der Vergangenheit, um irgendwie den eigenen Leidensdruck bzw. die Moralisierung von Politik zu erklären, belegt noch einmal den Erfahrungsverlust dieser Linksintelligenz und verweist auf die geistige Distanz zur Vergangenheit selbst. Ähnliche Analogieschlüsse dienen auch anderen Intellektuellengruppen später, politische Schlüsse zu ziehen. Dutschke wird vor allem in seiner Arbeit, „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“ (Berlin 1974), diesen „Romantizismus“ aufgreifen, um über eine Kritik an Lukäcs Denkweisen aufzuspüren, die in ihrer Trennung von Erfahrung, Tradition und Geschichte und die in ihrer ab-strakten Überhöhung von Realität keinen Zugang finden zur konkreten Situation und sich nur noch moralisch verhalten können.

Kurz vor dem 2. Juni 1967 faßt Dutschke seine revolutionäre Zuspitzung in einem Beitrag der ASTA-Zeitung, FUSpiegel, zusammen. Die „Große Koalition“, die 1966 zwischen CDU/CSU und SPD gebildet wurde, ist für ihn Ausdruck „einer neuen Form staatlicher Organisation“. Über eine sozialdemokratisch-konservative Einheitspartei wird die politische Mechanik von Parlamentarismus und Interessendemokratie aufgelöst. Sie verliert jeglichen Kompromißcharakter. Das Parlament wird mediengerechte Akklamationsanstalt, die Inszenierung des Politischen. Parteien und Verbände werden zu Staatsorganen, die ihre Wähler und Mitglieder jeweils verwalten. Die Entscheidungen werden in außerparlamentarischen Spezialistengremien ausgearbeitet und von den Machtzentralen außerhalb der Demokratie entschieden.

Gegen eine derartige Politik, in die auch die Organisationen der Arbeiterbewegung einbezogen sind, setzt sich ein „antiautoritäres Lager“ zur Wehr.

Dieses setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Protestpotentialen unter-schiedlicher sozialer Herkunft. Es löst sich aus dem Gewaltzusammenhang und entsagt vorherrschender Leistungsmoral und Politikinszenierung. Diese Radikalopposition ist bedürfnisorientiert, radikaldemokratisch organisiert und darauf aus, Freiräume der Selbstverwirklichung, der Muße und der Faulheit zu gewinnen. Dieses Abstreifen autoritärer Verfestigungen von Leistung und Gehorsam in der Persönlichkeit ist für Dutschke der subjektive Faktor und Voraussetzung einer derartigen Opposition. Das kann nur im gegenpolitischen Engagement und in der Aktion gelingen. (Dutschke, Geschichte ist machbar, ebd. S. 73/74)

Eine derartige Haltung findet innerhalb des SDS Widerspruch. Vor allem die Richtungen, die eher dem traditionellen Marxismus verschrieben sind, entdecken in dieser Position idealistische und anarchistische Züge. Nach dem 2. Juni, nach dem Tod von Benno Ohnesorg, nachdem u.a. der Vorwurf er-hoben wird, daß die substantielle Gewalt der Polizei durch die Spielregelverletzungen und durch die Aktionen der Studenten erst provoziert wird, antwortet Dutschke, daß die „reine Toleranz“ des Bestehenden von seiten der Opposition mithilft, diese Verhältnisse zu stabilisieren. Er bezieht sich dabei auf die Schrift von Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1966. In dem Redebeitrag zu den Beerdigungsfeierlichkeiten von Ohnesorg in Hannover, Juni 1967, wendet er sich ausdrücklich gegen die Habermas’sche Auffassung von Objektivität. Die Kritik der Objektivitätsauffassung trifft auch die marxistische Gesellschaftsanalyse. Objektivität gesellschaftlicher Transformationsprozesse und Entwicklungen besitzt in der gesellschaftlichen Realität des „integralen Etatismus“ keinerlei „Doppelcharakter“ mehr. Die Form von Produktion und Gesellschaft ist einseitig auf Herrschaft festgelegt und trägt keinerlei emanzipatorische Tendenz. Eine Opposition kann weder die parlamentarische Demokratie für Emanzipationszwecke ausnutzen, noch Formen der sozialen Emanzipation freisetzen. Die Tat der Befreiung muß außerhalb dieses Macht- und Gewaltverhältnisses vollzogen werden. Die Radikalopposition kann nur außerhalb bestehender Politik sich bewähren und nur außerhalb des Systems eigene Ziele verfolgen. (Geschichte ist machbar, ebd., S. 79, S. 81)

Habermas nennt diese doppelte Verweigerung gegenüber Politik und gegenüber der kapitalistischen Zivilisation, diese Orientierung auf Aktion als Provokation latenter Gewalt und die Selbstverwirklichung und Erziehung der Akteure in der „Aktion“ „linken Faschismus“. (ebd. S. 82.)

In dem Organisationsreferat auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS, im September 1967, das Dutschke zusammen mit Krahl ausarbeitet, bemühen sich beide, die theoretische Position durch eine Anlehnung an die Horkheimersche Theorie des „integralen Etatismus“ zu festigen. Diese Theorie wurde Anfang der vierziger Jahre verfaßt, als durch den Hitler-Stalin-Pakt zwei Diktaturen sich anzunähern und für 50 Jahre als Großmächte in der Welt sich einzurichten schienen. Dutschke radikalisiert durch diese Übernahme der Horkheimerschen Theorie den eigenen Revolutionsansatz. Auf der einen Seite formiert der „integrale Etatismus“ als Symbiose staatlicher und wirtschaftlicher Bürokratien die Gesellschaft zu einer „staatlichen Gesamtkaserne“. Die außerökonomische Zwangsgewalt führt zu einem Primat des Politischen, das die Gesetzmäßigkeiten der Mehrwertproduktion in institutionelle Manipulation und direkte Gewalt überführt. (Geschichte ist machbar, ebd. S. 91) Die Menschen werden den technologischen Maschinenapparaten von Ökonomie und Staat ausgeliefert.

Dieser „gigantischen Manipulation“ (ebd. S. 94), die politische Erfahrungen und Gegenwehr im Rahmen des politischen Systems nicht mehr zuläßt, stemmen sich die „revolutionären Befreiungsgruppen“ entgegen. Sie geben über ihre sinnlichen Aktionen Gegensignale, ihre „Propaganda der Tat“ trifft die Emotionen und Leidenschaften derjenigen, die das Leid nicht mehr er-tragen können. Diese Gruppen bilden die Verbindung zu den Befreiungskämpfen in der Dritten Welt. Übernimmt der SDS diese Aufgabenstellung, so muß er sich verändern, die Hüllen eines „akademischen Diskutierclubs“ aufgeben und sich einstellen auf die Spontanität der Verweigerung. (ebd. S. 89)

Im Herbst 1967 und Frühjahr 1968, zum Zeitpunkt, als die Studentenrevolte das Format einer Radikalopposition erhält, orientiert sich die Dutschke’sche Einschätzung der Lage eindeutig auf Revolution. Nicht so sehr die abstrakte Überhöhung von Notstandgesetzgebung und Pressemanipulation in staatliche Diktatur ist hier interessant, denn diese Überhöhung nimmt er selbst sehr bald zurück, bedeutsam ist die Theorie des „integralen Etatismus“, weil sie die Großmächte USA und UdSSR trifft. Über sie werden zwei Diktaturen in beiden Deutschlands errichtet und der revolutionäre Kampf dagegen enthält die heimliche Perspektive des nationalen Befreiungskrieges gegen die Besatzungsmächte in Deutschland.

Die Ereignisse zwischen 1965 und 1967 haben sich „überstürzt“. Sie eilen der theoretischen Reflexion davon und verleiten zu spontanen Mutmaßungen und intuitiven Erklärungen. Der Aufsatz in „Rebellion der Studenten“, der den Titel hat, „Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt“ (Hamburg 1968) enthält Ausarbeitungen für das SDS-Referat in Frankfurt. Es ist für Dutschke Gelegenheit, über die Revolutionstheorie nachzudenken und sie an Hand von an-deren Studien noch einmal zu überprüfen.

Fassen wir die wichtigsten Aussagen zusammen. Gegen die Marxisten und gegen die Vertreter der kritischen Theorie betont Dutschke das Veralten bzw. die Entwertung der Marxschen Kategorien. Für ihn ist die „transitorische Notwendigkeit des Kapitalismus“ seit 1918 beendet. (ebd. S. 37) Ein Produktionsverhältnis und eine Zivilisationsform finden durch die etatistische Verschlingung von Staat und Ökonomie, durch die Aushöhlung demokratischer Entscheidung und durch die Verselbständigung von Leistungsmoral und Ethik ihre Vollendung, die im Absterben mündet. Eine lange Zeit-spanne des Untergangs der etatistischen Gesellschaft schließt sich an. Sie führt über Nationalsozialismus und Stalinismus in Mitteleuropa zum „status quo“ der Besetzung und der Machtabsprachen nach 1945. Aber solch eine „Koexistenz“ von zwei Machtblöcken kann deren Zerfall nicht aufhalten. Die Niedergangsperiode des Kapitalismus umschließt eine permanente Krise des kapitalistischen Systems, das vor allem kulturelle, moralische, politische Auswirkungen hat und die sich in der UdSSR und in Osteuropa fortsetzt. (ebd. S. 45, S. 61)

Gegen die Kräfte des Alten stellt sich die Radikalopposition, die ihre grundlegenden Impulse von den Kolonialrevolutionen erhält, die zugleich durch diesen Zerfall der Industriezivilisation geformt wird. Ihr Willen zur Revolution ermöglicht die kulturrevolutionäre Erschütterung der bestehen-den Verhältnisse. Außerhalb des Systems werden neue Formen von Solidarität, Emanzipation und Freiheit erprobt. Die subjektive Betroffenheit des Einzelnen bildet den Ausgangspunkt der Rebellion: „Heute hält uns nicht eine abstrakte Theorie der Geschichte zusammen, sondern der existentielle Ekel vor einer Gesellschaft, die von Freiheit schwätzt und die unmittelbaren Interessen und Bedürfnisse der Individuen und der um ihre sozialökonomischen Emanzipation kämpfenden Völker subtil und brutal unterdrückt. Die-se radikale, weil den ganzen Menschen betreffende Dialektik des Sentiments und der Emotion (Marcuse) . . . hält uns heute stärker denn je gegen diese verstaatlichte autoritäre Gesellschaft zusammen, ermöglicht eine radikale Aktionseinheit der Antiautoritären und zwar ohne Parteiprogramm und Monopolanspruch.“ (ebd. S. 91)

Diese Sätze atmen bereits den Geist des Pariser Mai, der Aufbruchstimmung in Polen und in der CSSR, die Ereignisse von Ostern 1968 in Westberlin, in Frankfurt und München. In diesen Ausführungen klingen auch Gedanken von Spenglers „Untergang des Abendlands“, von Moeller van den Bruck über den „revolutionären Aufbruch“ und von E. Jüngers „Waldgänger“ an. Alles klingt nur an, denn Dutschke hütet sich, offen irgendwelche Anleihen bei der „Revolution von rechts“ zu machen. Trotzdem wird auch diese Seite berührt, denn die herrschende Industriezivilisation, die sich hier in den Untergang bewegt, umfaßt die beiden Großmächte, die auf deutschem Boden die Spaltung Europas und der Welt begründen. Dutschke schreibt kein Manifest. Die Gedankengänge sind verborgen hinter den Wendungen komplizierter Satzkonstruktionen, hinter den Zitaten unterschiedlicher Theoretiker aus unterschiedlichen Zeit- und Revolutionsepochen. Dutschke läßt sich nicht von einer Stimmung fortreißen. Er argumentiert, will überzeugen und vor allem der akademischen Linksintelligenz mit Theorien beikommen. Aber er will auch nachweisen, daß dieses „widerstandsunfähige“ Volk eine Intelligenz hervorbringt, die sich mit „List“ aber auch mit „radikaler Unvernunft“ der Besetzung der Köpfe erwehrt.

V.

Das Attentat, Ostern 1968, die langwierige und mühselige Genesung, reißen Dutschke aus dem Diskussionszusammenhang einer sozialen Opposition. Tritt zwischen 1967/68 sein Interesse an der russischen Revolution und an der Sowjetunion zurück, bzw. faßt er beide Machtblöcke in den Begriff des „integralen Etatismus“, so befaßt er sich ab 1970 verstärkt mit der Marxschen, Leninschen und Lukäcsschen Verarbeitung der russischen Entwicklung und russischen Revolution. Das liegt nicht etwa daran, daß Dutschke zu akademischen Würden kommen will. Er hat stets wissenschaftliche mit den politischen Interessen verbunden. Ihm geht es um die Bedeutung der UdSSR für die Kolonialrevolutionen und für die revolutionäre Umwälzung in Westeuropa.

Innerhalb der europäischen Linksintelligenz ist die Zeitspanne der „Oktoberrevolution“ ins Gerede gekommen. Die einen sehen in dieser revolutionären Erhebung, in der bolschewistischen Partei und im Kriegskommunismus das Vorbild ihrer eigenen Organisation. Die anderen lehnen dieses Beispiel radikal ab, weil die historischen Besonderheiten Rußlands auf Westeuropa nicht übertragbar sind. Aber es gibt längst keine wissenschaftlichen oder politischen Dispute über das Thema. Die Entscheidung drängt. Die existenzialistische Haltung bestimmt vordergründig den Ausgang der Diskussion.

Auch für Dutschke wird offensichtlich, daß er sich in bezug auf die UdSSR geirrt hat. Diese Großmacht muß die Rückwirkung der Kolonialrevolution auf die eigene Gesellschaft nicht so sehr fürchten, obwohl der Konflikt mit China das Anfang der sechziger Jahre signalisiert hat. In einer eigenartigen Gestalt von „asiatischer Revolution“, die durch den Aufstand der Bauern und durch die Haltung der Eliteminorität bestimmt wird und die von Vietnam bis nach Cuba reicht, wird der Volksaufstand gegen die Kolonialmacht oder gegen deren politische Statthalter letztlich durch die Organisierung einer Befreiungsarmee politisiert. Hier gewinnen sehr schnell die Eliten Machtpositionen. Über diese Armee und über die Partei wird Ordnung in den antikolonialen Aufruhr getragen. Hier bilden sich nun die Keimlinge von Recht, Ethik, Moral und Staat, die der Kolonialzivilisation -konträr entgegenstehen. Aber über die Militarisierung des Befreiungskampfes wird die Verstaatlichung und Militarisierung der Gesellschaft vorbereitet. Die Diktaturform der UdSSR und die Ideologie des Marxismus-Leninismus als Staats- und Leistungsideologie und als Führungsanspruch einer revolutionären Intelligenz finden in den Kolonialrevolutionen leicht Anerkennung und Nachahmung, denn sie ermöglichten erst einmal die Machtabsicherung nach innen und außen. Die Oktoberrevolution findet in den Kolonialrevolutionen ihre Bestätigung.

Noch einem Irrtum muß sich Dutschke stellen. In Osteuropa findet kein Zerfall der politischen Ordnungen statt. Die UdSSR kann militärisch ihren hegemonialen Anspruch durchsetzen. Auch innerhalb der Sowjetunion wer-den alle Reformen machtpolitisch verlagert und treffen nicht den Kern von Macht und Bürokratie.

Aber auch die antiautoritäre Radikalopposition gerät in den Sog sowjetischer Propaganda. Die Auflösung des antiautoritären Lagers in die etablierte Politik von SPD/FDP oder in die ML-Gruppierungen und Partisanenverbände beweist die Stabilität der vorherrschenden Freund-Feind Konstellation. Entweder löst sich ein Antiautoritarismus auf in „Humanitarismus“, der die bestehende Kultur anerkennt ohne Alternativen zu bieten, oder er reproduziert in unterschiedlichen Varianten die Elitevorstellungen der ML-Ideologie. Die Begeisterung für die Kolonialrevolutionen schlägt um in die Faszination und in die kritiklose Bewunderung der Revolution selbst. In naiver Weise werden die Werte dieser Revolutionen auf Westeuropa übertragen, finden Identifizierungen statt, wird faktische Unterentwicklung und ursprüngliche Solidarität zum Maßstab der eigenen Haltung. Eine Linksintelligenz liefert sich aus.

Dutschke spricht jetzt von „subversiven Sozialisten“, die sich der vielfachen Fremdbestimmung entziehen und die sich bewußt bleiben, über eine konkrete Situation und über ein Aufspüren der historischen Wahrheit ihre Identität zu gewinnen. (Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin 1974, S. 13)

Er verfolgt zwei Gleichnisse. Das eine betrifft Lenin. Das andere befaßt sich mit Lukäcs. Beide stehen für ein Typus von Denken, für ein bestimmtes Herangehen an Theorie und an Wirklichkeit. Beide Denkweisen kritisiert Dutschke radikal. Diese Kritik betrifft die eigenen Illusionen der Vergangenheit.

Lenin, der russische Revolutionär, vermag durch seine Marxorthodoxie, durch seine westeuropäische Befangenheit, durch seine theoretische Übertragung westeuropäischer Verhältnisse auf Rußland, die rückständigen und historischen Grundlagen russischer Entwicklung nicht zu ergründen. Die Organisierung der Klassen über die staatliche Bürokratie wird mit dem industriellen Fortschritt fortgesetzt; Bauernbefreiung bedeutet Verstaatlichung bäuerlicher Abhängigkeit; Industrialisierung kann nur über staatliche Hilfe oder über Staatsbetriebe erfolgen; die ursprüngliche Akkumulation von Kapital zwingt die entstehende Bourgeoisie und Intelligenz in Staatsabhängigkeit. Dutschke nennt diesen Zusammenhang „asiatische Industrialisierung“. Will Lenin also Rußland abstrakt durch den Sprung in den Sozialismus europäisieren, so muß er die Staatsbürokratie erweitern, den alten zaristischen Staat unter bolschewistischer Führung neu entstehen lassen. Formen von Staatskapitalismus werden verbunden mit Staatsbürokratie, mit Militarisierung, mit Polizeikontrolle, mit der staatlichen Kontrolle der Gesellschaft. Über den gigantischen Staat wird die Transformation der Gesellschaft festgelegt, die immer die Modernisierung des Staatsmonstrums verursacht. Eine derartige Verstaatlichung von Gesellschaft, die immer wieder zu despotischen Auswüchsen führen muß, hat für Dutschke mit Sozialismus nichts zu tun. Dutschke bemüht mit Marx eine ganze Reihe von Theoretikern, um diesen historischen Zusammenhang offenzulegen. Lenin hat im Alter den großen Irrtum verspürt. Die abstrakte Überhöhung von Kategorien, die schwierige Umsetzung von Theorie in Realität, versperren Lenin den Blick.

Lukäcs trifft das andere Gleichnis. Dutschke zeichnet ihn als einen ethischen Sozialisten, der in die revolutionären Wirren gerissen wird. Er verabsolutiert die Ethik der Revolution. Er spitzt gedanklich Situationen auf Entscheidungen zu, in denen die Intelligenz Partei ergreifen muß. So bemüht sich Lukäcs erst gar nicht, die Bedingungen der russischen Revolution zu untersuchen. Er bekennt sich moralisch zu dieser Revolution, weil die Revolutionen in Westeuropa scheitern und weil die Niederlagen auch moralisch für die Intelligenz vertragen werden müssen. Lukäcs verkörpert für Dutschke die romantische Intelligenz: das Leiden wird Grundlage des eigenen Denkens und dieses Leiden verführt dazu, mit Revolutionen zu sympathisieren oder sie abzulehnen. Über das Leiden wird die Ethik geboren, der Wille, die individuelle und abstrakte Sicht der Realität: „Um nun aber dieses echte Problem des Revolutionsprozesses in den Griff kriegen zu können, bedarf es einer Ethik (Moral) — allerdings keiner Lukäcs’schen von 1918, sondern einer Lukäcs’schen sozialistisch kommunistischen auf dem Marxschen Fundament. Die Entwicklung einer solchen Ethik im Rahmen der weltweiten kommunistischen und sozialistischen Bewegung bringt uns der Vermittlung von Endziel und Nahziel näher, d.h. wir würden den utopischen Geist der Geschichte konkretisieren. Also gerade das tun, was der Sozialdemokratismus und der Staatssozialismus aus verschiedenen Gründen nicht angehen können.“ (Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, ebd. S. 189)

VI.

Dutschke wird sich in den 70er Jahren bewußt, daß die alten Welten nicht unmittelbar aus den Angeln zu heben sind. Für Osteuropa reflektiert er das Scheitern der Reformen seit 1956. Die Grundsubstanz dieser bürokratischen Herrschaft läßt sich nach seiner Überzeugung nicht reformieren. Die Stabilität und die Herrschaftsrealität in der UdSSR sorgt für die Versteinerung im Westen. Hier dient das parlamentarische System als Ergänzung zur polizeilichen Unterdrückung. Zwei autoritäre Mobilisierungsgesellschaften stehen sich gegenüber.

Wenn Dutschke immer wieder auf die Zusammenfassung der Kräfte drängt und deshalb einer grünen Parteigründung durchaus positiv gegenübersteht, dann sicherlich nicht, weil er plötzlich der parlamentarischen Taktik traut. Ihm geht es um die Sammlung der Opposition, der spontanen und elementaren Kräfte, um auf eine neue Situation zu warten, die den Anlauf von 1967/ 69 erneut potenziert. Es ist anzunehmen, daß Dutschke innerhalb der grünen Bewegung nicht nur eine hervorragende Bedeutung erlangt hätte, es ist auch anzunehmen, daß sich der Charakter dieser „ökologischen Sozialdemokratie“ sehr schnell verändert hätte.

(entnommen aus: „LINKE SPUREN, Marxismus seit den 60er Jahren“, 1987, Verlag für Gesellschaftskritik)