Sergio Cararo: Im Atlantik entsteht ein Bruch (Gewerkschaftsforum Hannover)

Gewerkschaftsforum Hannover:

Sollten sich kritische Gewerkschafter mit Weltpolitik beschäftigen? Mit den Auseinandersetzungen zwischen den Groß- und Mittelmächten? Mit dem imperialistischen, von seinen Betreibern zynisch-infantil so genannten „Great Game“ (Großen Spiel) um Bodenschätze, Verkehrswege, Absatzmärkte, Waffensysteme, Militärbasen, Bündnispartner und Billiglöhner…?

Wir meinen ja. Sicherlich ist das nicht das Hauptaktionsfeld von Gewerkschaften. Doch gerade Entwicklungen, Skandale und Krisen wie die Schuldenprobleme und die Austeritätspolitik der EU, das Auftreten der BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika als neue, aber keinesfalls stabile, Global Player nicht nur auf dem Weltmarkt, die von Edward Snowden aufgedeckte globale Massenüberwachung, die Verhandlungen über gigantische Freihandelszonen zwischen den USA, Kanada und Europa bzw. im Pazifikraum oder der Showdown in punkto Syrien besitzen auch für die Vertretung der ökonomischen Interessen der Lohnabhängigen eine unbestreitbare Bedeutung.

Allein ein Blick zurück ins Jahr 1914 zeigt, dass Gewerkschaften auf gefährliche Abwege geraten, wenn  sie Weltmarktentwicklungen, Krisen und internationale Machtkonstellationen nicht verstehen und nicht imstande sind, eine eigenständige Position dazu zu beziehen – Klassenautonomie nannte man das einmal.

In diesem Sinne erlauben wir uns mit der Übersetzung einer Einschätzung aus dem Umfeld der größten italienischen Basisgewerkschaft USB einen kleinen Beitrag dazu zu leisten. Sie erschien als Leitartikel in der Online-Tageszeitung „Contropiano“ vom 25.10.2013 des aus der Autonomia Operaia-Bewegung von 1977 / 78 hervorgegangenen Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten) und stammt vom Chefredakteur Sergio Cararo, von dem kürzlich auch ein Interview in der „jungen Welt“ zu finden war.

Editorial:

Im Atlantik entsteht ein Bruch

Sergio Cararo

Im Atlantik oder besser gesagt im Transatlantischen Pakt zwischen Europa und den Vereinigten Staaten entstehen an mehreren Punkten Brüche. Die Risse waren seit langem gut sichtbar. Jahrlang wollten viele – auch innerhalb der Linken – sie allerdings nicht sehen und gaben sich mit einer alten Fotografie der internationalen Beziehungen zufrieden, die zunehmend obsoleter wurde.

Die letzte Episode dieses Bruches ist die Einbestellung des US-Botschafters durch die deutsche Regierung nachdem diese die Bestätigung bekam, dass auch die privaten Telefone von Bundeskanzlerin Angela Merkel von den verbündeten Spionen „ausgespäht“ wurden, das heißt von den Vereinigten Staaten. Dasselbe geschah mit den anderen 25 „Partner“-Ländern, die der Europäischen Union angehören.

„Das ist der größtmögliche Affront“, titelt die „Südddeutsche Zeihung“ auf der ersten Seite und betont, dass „schwer vorstellbar ist, wie Obamas Geheimdienste feindliche Länder behandeln, wenn man beobachtet wie sie sich ihren engsten Verbündeten gegenüber verhalten“. „Barack Obama ist kein Friedensnobelpreisträger“, unterstreicht die Zeitung, „sondern einer der Zwietracht sät“. Auch die Merkel attackierte: „Abhören ist nicht akzeptabel. Zwischen Verbündeten braucht es Vertrauen“, sagte sie in ihrer Rede auf der derzeit stattfindenden Tagung des Europäischen Rates.

Es handelt sich nicht um eine normale Administration und wir sollten uns durch die Unterwürfigkeit der italienischen Regierung gegenüber den USA nicht täuschen lassen. Das gefügige Verhalten der Regierung Letta ist in dem Klima, das in den anderen europäischen Ländern gegenüber den „Einmischungen“ der Vereinigten Staaten herrscht, durchaus nicht repräsentativ.

Es war im Oktober vor genau elf Jahren als der damalige EU-Kommissar für Außenhandel, Pascal Lamy, wörtlich sagte: „Die Rivalität zwischen den beiden atlantischen Blöcken nimmt zu. (…) Eine Wirtschaftsunion, die immer mehr als politische Union zusammenwächst, wird sich mit einer Außenpolitik ausstatten müssen und zum ersten Mal mit einer gemeinsamen Armee, um einen sicheren und wirkungsvollen politischen Rahmen zu bieten, um die Expansion seiner Industrie-, Dienstleistungs- und Finanzkonzerne zu unterstützen.(…) Die Europäische Union ist die einzige öffentliche Macht, die dem Niveau der globalen Großunternehmen entspricht, die in Europa existieren.“

Das Jahr 2002 verging und der Euro war nicht nur materiell in Umlauf gebracht worden, sondern hatte seinen Aufstieg zu einer Reservewährung und zu der Devise begonnen, mit der die internationalen Transaktionen abgewickelt werden.

Zur selben Zeit hatte der große Alte Henry Kissinger in einem Interview für eine italienische Wochenzeitung seine exakte Wahrnehmung unter Beweis gestellt, dass in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union etwas passierte: „Mir bereitet die Tatsache Sorge, dass wenn die Europäische Union in den internationalen Angelegenheiten als einheitliches Subjekt auftritt, dort häufig – und ich bin versucht zu sagen: immer – in Opposition zu den Vereinigten Staaten agiert. Das wäre ein Fehler. Ein Fehler, der in der Lage wäre schrittweise zu einem Bruch zwischen den beiden Ufern des Atlantiks zu führen und das in einer Welt, die immer mehr voller Probleme ist.“

Die globale Konkurrenz mit den Vereinigten Staaten und den BRICS-Staaten in Angriff zu nehmen, ist in der Tat kein Galadiner und der Währungskrieg gegen den Euro liefert einen Beleg dafür. Die Einführung des Euro markierte einen bedeutenden Bruch der Weltherrschaft des Dollar, auf die sich ein Gutteil der Hegemonie der Vereinigten Staaten nach dem 2.Weltkrieg stützte und auf die die USA häufig zurückgegriffen haben und gegenwärtig erneut zurückgreifen, um ihre Krise dem Rest der Welt aufzubürden. Das tun sie, indem sie die Liquidität erhöhen, Milliarden Dollar drucken und in die Binnenwirtschaft wie in die Weltwirtschaft leiten und so versuchen die Kosten der Krise auf das Ausland abzuladen. Die Frage ist, ob dieser „Brauch“ noch funktioniert. Die US-Administration besteht darauf, dass die Eurozone die Politik der Haushaltsstrenge, vor allem aber die von der EZB durchgesetzten deflationären Maßnahmen reduziert. Während die USA ihre Inflation dem Ausland aufhalsen müssen, ist die Tatsache, dass Europa mit der Deflation eine Abwehrmauer dagegen errichtet, für sie zu einem ernsten Problem geworden.

Während aber die globale wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union inzwischen unbestritten zu sein scheint (mit Auswirkungen auch auf den jüngsten Transatlantischen Handelsvertrag, der nach dem Spionageskandal ziemlich kompromittiert erscheint), nimmt eine „politische“ Konkurrenz Gestalt an, die die diplomatische Krise rund um die im Zuge von Datagate zu Tage getretenen Abhöraktionen nur öffentlich gemacht hat. Wir könnten hier quasi von einem casus belli sprechen.

Anzeichen dafür gab es in den letzten Jahren bei einigen vielleicht zu oberflächlich analysierten Episoden:

a) Dem Goodbye <der Verabschiedung> der europäischen NATO-Partner von den USA während des Konfliktes in Georgien 2008, als Georgien und die USA sich gegen Russland auf den Artikel 5 der NATO beriefen, aber die europäischen Verbündeten wörtlich sagten: „Ihr seid wohl verrückt.“ und sich nicht darum scherten.

b) Der Start der Energiekorridore Northstream und Southstream für die Energieversorgung in Europa trotz der offenen Opposition der Vereinigten Staaten.

c) Das einseitige Vorgehen bei den französischen Bombardements in Libyen.

d) Schließlich und endlich, aber sicherlich nicht der Bedeutung wegen, das deutsche „Nein“ gegen die jüngsten Pläne einer militärischen Intervention gegen Syrien.

Wenn wir Details wie den Test der unbemannten europäischen Drone (Neuron) und somit die Einführung der Stealth-Technologie bei Produkten des europäischen militärisch-industriellen Komplexes hinzufügen – Faktoren, die Europa unabhängig von der fortgeschrittenen US-Technologie machen – begreift man gut, wie der Skandal der „befreundeten“ Abhöraktionen der Vereinigten Staaten gegen die europäischen Verbündeten zu etwas tief Greifenderem wird als einem bloßen diplomatischen Unfall.

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:   Gewerkschaftsforum Hannover