Martin Mair („Aktive Arbeitslkose“): Offener Brief an die Mitglieder des Sozialausschußes des Wiener Gemeinderates (bez. Mindestsicherung)

Wien, 15.11.2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

eher durch Zufall haben wir von der aktuellen Novelle zum Wiener Mindestsicherungsgesetz erfahren, die mit der Ausweitung des menschenrechtswidrigen Sanktionenregimes auf Invalide nicht nur die Menschenrechte sondern auch wohl die Verfassung verletzt. Wir möchten daher von Ihnen wissen, was Sie gegen diese unzumutbaren Verschärfungen der Wiener Mindestsicherung zu tun gedenken.

Der Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ lehnt die in den §§ 6, 14 und 15 WMG vorgesehene und nicht näher geregelte Verpflichtung von Invaliden Personen, „von sich aus … Maßnahmen zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit zu ergreifen“ bzw. sich „rehabilitativen Maßnahmen“ zu unterwerfen aufgrund der mit einer derartigen Zwangs­rehabilitation verbundenen prinzipiellen und praktischen Probleme ab.

Bei dieser Zwangsrehabilitation handelt es sich um einen massiven Eingriff in die Persön­lichkeitsrechte und vor allem um einen kaltschnäuzige Missachtung des in Ver­fassungsrang stehenden Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit nach Artikel 8 Europäische Menschenrechtskonvention!

Weiters stellt die Zwangsrehabilitation eine Verletzung von Artikel 26 der von Österreich ratifizierten „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (UN-Behindertenkonvention), veröffentlicht als BGBl. III Nr. 155/2008, dar!

Gerade im psychiatrischen Bereich besteht die Gefahr akuter Gesundheitsgefährdung aufgrund unzutreffender Diagnose oder Behandlung (Nebenwirkungen von Psychopharmaka).

Weiter besteht die Gefahr, dass die Menschen nach einer kurzen und oberflächlichen Zwangsrehabilitation als „fit to work“ erklärt werden und so ihre Gesundheit in überfordender Arbeit oder in unpassenden AMS-Zwangsmaßnahmen gefährden müssen. Auch besteht die Gefahr, dass diese Menschen in nicht Existenz sichernde Teilzeitarbeit gezwungen werden.

Vor allem die Formulierung, dass „von sich aus Maßnahmen zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit zu ergreifen“ öffnet aufgrund seiner völligen Unbestimmtheit der Willkür Tür und Tor und ist somit auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht verfassungswidrig. Damit kann jederzeit die MA 40 bei Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen alleine mit der Behauptung, diese MENSCHEN hätten keine oder angeblich unzureichende „Maßnahmen zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit“ ergriffen, die Existenzgrundlage durch Bezugskürzungen, die bis zur völligen Einstellung der Mindestsicherung gehen, zerstören, da das Wiener Mindestsicherungsgesetz verfassungswidrigerweise die aufschiebende Wirkung von Berufungen gegen die Existenz gefährdenden Bezugskürzung generell verweigert.

In seinem Urteil G7/99 stellte der Verfassungsgerichtshof unmißverständlich fest: „Der Verfassungsgerichtshof hält an seiner mit VfSlg. 11196/1986 begonnenen (und etwa mit VfSlg. 12683/1991, 13003/1992, 13305/1992, 14374/1995 und 14671/1996 fortgeführten) Rechtsprechung fest, wonach es unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Prinzips nicht angeht, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange zu belasten, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist.

Weiter weisen wir darauf hin, dass Menschen, über deren Antrag auf Invaliditätspension noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist, von der Pflicht zur Verwertung der de jure nicht fest stehenden Arbeitskraft nicht ausgenommen werden. Da der Pensionsvorschuss auf 2 Monate beschränkt wurde, heißt dass, dass Menschen, bei der die „Arbeitsfähigkeit“ noch nicht fest steht oder aufgrund von Berufungen gegen vermutlich rechtswidrige Urteile strittig ist, ebenso verfassungswidriger Weise die letzte Existenzgrundlage genommen und ihnen de facto die Möglichkeit ihre Rechte wahrzunehmen geraubt wird.

Durch diesen Zwang, sich dem AMS-Regime mit seiner Zwangsvermittlung und seinen Zwangskursen zu unterwerfen, kann die Gesundheit und im schlimmsten Falle das Leben von (Teil)Invaliden Menschen gefährdet werden. Wie wollen Sie die Schäden, die diese Menschen womöglich erleiden, rückgängig machen, wenn diesen Menschen im Nachhinein doch die Invalidität zugesprochen wird?

In Wien ist nicht einmal wie im Hartz IV Deutschland vorgesehen, das physische Überlegen der sanktionierten Menschen durch Sachleistungen (Lebensmittelgutscheine) vorgesehen!

In welche Richtung dieses neoliberale Aktivierungs- und Arbeitszwangregime für Invalide führt, zeigt recht drastisch Großbritannien, wo in geradezu entwürdigenden Zwangsbegutachtungen bei der privaten Firma ATOS 90% der Behinderten und Invaliden als „fit to work“ erklärt wurden. Bislang sind bereits über 10.000 Menschen binnen 6 Monaten nach der Erklärung als „fit to work“ gestorben. Nicht nur weil sie schon todkrank waren, sondern auch weil sie durch Arbeitszwangprogramme gestorben sind oder durch den Druck in den Selbstmord getrieben wurden (Siehe: London Remembers over 10,000 dead after Atos Work Capablity Tests http://www.demotix.com/news/2816810/london-remembers-over-10000-dead-after-atos-work-capablity-tests).

Grundsätzlich siehe aber auch Ilija Trojanows Buch „Der überflüssige Mensch“.

Aus diesem Grund ist daher in allen anderen Bundesländern auch kein genereller Auschluss von Berufungen gegen alle Bescheide über die Mindestsicherung vorgesehen, sondern nur bei Zuerkennung der Mindestsicherung also nicht bei der Kürzung oder Einstellung der Mindestsicherung!

In Artikel 14 der „Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art. 15a B-VG über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ ist zudem vorgesehen, dass eine Kürzung der Leistungen wegen mangelnden „Einsatzes der Arbeitskraft“ nur nach „schriftlicher Ermahnung“ möglich ist. Wien ist das einzige Bundesland, das diese Regelung der Artikel 15a-Vereinbarung missachtet!


Grundsätzlich weisen wir darauf hin, dass die Bezugskürzungen der letzten Existenzsicherung menschenrechtswidrig sind und gegen mehrere von Österreich ratifizierten völkerrecht­lichen Vereinbarungen, die als Bundesgesetz veröffentlicht worden sind, verstoßen:

UN Menschenrechtserklärung

·         Recht auf Schutz vor Arbeitslosigkeit (Artikel 23)

UN-Sozialpakt / WSK-Pakt:

·         Recht auf soziale Sicherheit, Artikel 9

·         Recht auf angemessenen Lebensstandard, Artikel 11

·         Recht auf Wohnen (bei Wohnungsverlust durch Bezügskürzung/-einstellung), Artikel 11

·         Recht auf Gesundheit, Artikel 12

UN Kinderrechtskonvention (wenn Kinder im sanktionierten Haushalt leben!)

·         Recht auf Gesundheitsvorsorge, Artikel 24

·         Recht auf soziale Sicherheit, Artikel 26

Europäische Menschenrechtskonvention (steht im Verfassungsrang!)

·         Achtung der Menschenrechte, Artikel 1

·         Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, Artikel 3

Europäische Sozialcharta (ESC)

·         Recht auf Fürsorge, Artikel 12

Europäische Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe

Sanktionen in der in Wien praktizierten Form sind daher mit den Grundsätzen der Menschenrechte und einer Demokratie völlig unwürdig!

Aktive Arbeitslose fordern daher grundsätzlich die Aufhebung der Sanktionen bei der Wiener Mindestsicherung!

Sollte sich die Wiener Landesregierung wider Erwarten nicht zur Achtung der Menschenrecht durch ringen können, so fordern Aktive Arbeitslose Österreich zumindest die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards:

·         Recht auf Gesundheit achten – keine Zwangsrehabilitation!

·         Unabhängige und kritische Evaluierung der Praxis der Verhängung von Sanktionen und deren Auswirkungen

·         Menschenrecht auf Existenzsicherung achten: Keine Sanktionen unter das Existenzminimum!

·         Keine Sanktionen ohne vorherigem Ermittlungsverfahren mit Parteiengehör!

·         Generell aufschiebende Wirkung von Berufungen gegen Sanktionen!

·         Unabhängige Rechtsberatung und Vertretung durch eine Arbeitslosen- und Sozialanwaltschaft! (wie im rot-grünen Koalitionsabkommen angedacht!)

Wir bitten Sie daher uns mitzuteilen, welche Schritte unternehmen werden, damit bei der Wiener Mindestsicherung Arme und Invalide endlich in ihren Menschenrechten geachtet werden.

Weiter bitten wir Sie uns mitzuteilen, wann die Novelle zur Wiener Mindestsicherung im Wiener Landtag behandelt wird.

Mit freundlichen Grüßen

Mag. Ing. Martin Mair

Obmann „Aktive Arbeitslose Österreich“

P.S.: Weitere Argumente gegen Sanktionen und Literaturhinweise finden Sie in unserer – unter Zeitdruck erstellten – Stellungnahme zur Novelle des Wiener Mindestsicherungsgesetzes http://www.aktive-arbeitslose.at/news/20131029_stellungnahme_novelle_wiener_mindestsicherungsgesetz.html