Weltweites Erstaunen löste die Nachricht aus, dass etwa 1.000 Kämpfer der ISIS (Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (Levante)) am 10. Juni Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak, fast kampflos eingenommen haben. Zwei irakische Armeedivisionen mit fast 30.000 Soldaten flohen, entledigten sich ihrer Uniformen und ließen ihre Waffen zurück. Auch die Hälfte der 1,5 Millionen EinwohnerInnen von Mossul sind geflüchtet, 300.000 davon in die benachbarte kurdische Autonomieregion.
Die Geschwindigkeit und das Ausmaß des ISIS-Siegs künden nicht nur von einer aufkommenden neuen dynamischen Militärmacht, sondern zeigen auch, wie das veränderte internationale Kräfteverhältnis den ganzen Nahen Osten destabilisiert wird.
Die militärische Bedeutung ist kolossal. Der Materialverlust der irakischen Armee gegen einen zahlenmäßig weit unterlegenen Gegner wiegt schwer. ISIS fielen große Bestände Waffen und Gerät, darunter Panzerabwehrraketen, Geländefahrzeuge, M 113-Mannschaftstransportpanzer sowie T 55-Panzer in die Hände.
Auf dem ebenfalls eingenommenen Flughafen von Mossul erbeuteten die Aufständischen mehrere UH-60 Blackhawk-Hubschrauber und Frachtflugzeuge. In der Mossuler Zentralbank fanden sie mehr als 466 Mill. US-Dollar und eine große Anzahl von Goldbarren vor.
Die ISIS-Streitkräfte und ihre Verbündeten stießen schnell nach Süden vor, nahmen am 11. Juni Badschi und Tikrit ein, die Heimatstadt des gestürzten Diktators Saddam Hussein. Ihnen schlossen sich Kämpfer der ehemaligen Regierungspartei Ba’ath aus verschiedenen Formationen an, darunter der Naksahabandi-Armee, die von Saddam Husseins früherem Stallvertreter Isat Ibrahim-al-Duri angeführt wird.
Nach der Einnahme von Tal Afar in der Provinz Ninive, 40 Km von Mossul entfernt, am 15. Juni gab ISIS bekannt, sie hätte 1.700 kapitulierende sunnitische Soldaten der Regierungsarmee hingerichtet. Sie veröffentlichte Bilder der Massenexekution.
Am 21. Juni übernahm sie die Kontrolle des wichtigen Grenzpunkts Al Ka’im zwischen Irak und Syrien und vertrieb dabei Kämpfer der FSA (Freie Syrische Armee) und Jabbat al-Nusra, die Rivalen um die Anerkennung als syrische Al-Kaida-Vertretung.
US-Verschwörungstheoretiker haben die jüngsten ISIS-Erfolge einem saudi-arabischen Komplott zum Sturz des irakischen Premierministers Nuri-al-Maliki zugeschrieben, um den iranischen Einfluss im Irak, den von Assad in Syrien sowie der Hisbollah im Libanon zu bremsen.
Es ist schon möglich, dass die USA und ihre saudischen Verbündeten ein Doppelspiel treiben. Diese Alliierten, darunter Israel, würden nicht gern einer Lösung zusehen, worin eine Vielzahl von iranischen Revolutionsgarden im Einsatz sind, um al-Maliki bei der Niederschlagung eines weiteren sunnitischen Aufstands behilflich zu sein und ihn an der Macht zu halten.
Zwar mögen die US-Verschwörungsmutmaßungen weit hergeholt sein, doch hat die Geduld der USA mit al-Maliki klare Grenzen. US-Außenminister Kerry lässt al-Maliki im Regen stehen und verweigerte bei einem Besuch in Bagdad jede Soforthilfe bis zur Bildung einer Allparteienregierung, einer sunnitisch-schiitischen Koalition; besser noch, er würde Platz machen für jemand, der dies umsetzt. Al-Maliki seinerseits spielt die Karte ‚Ich oder die Katastrophe’. Es wird sich zeigen, wer zuerst nachgibt.
Ungeachtet der Wahrheit solcher Theorien zeigt sich deutlich, dass die ISIS-Kämpfer bei all ihrem blutrünstigen Vorgehen nicht allein für den schnellen Vorstoß verantwortlich sein können. Bedeutsamer hierfür ist die Krise der al-Maliki-Regierung und der weit verbreitete Hass unter den Sunniten, aber auch von der schiitischen Seite, besonders unter den Gefolgsleuten von Muktada-al-Sadr, ehemaligen Mitgliedern der Mahdi-Armee.
Al-Maliki hat nun klar auch das Vertrauen der Amerikaner verloren, weil er nach der Kette von Katastrophen in den vergangenen beiden Wochen den Einfluss auf die meisten irakischen Politiker und Generäle eingebüßt hat und somit keinen verlässlichen Verbündeten mehr darstellt. Die Armee von 350.000 Mann, für die die Westmächte allein seit 2011 41,6 Mrd. US-Dollar aufgewendet haben, zeigt deutliche Auflösungserscheinungen. 230.000 Soldaten sollen von ihren Einheiten desertiert sein, und der Premierminister sah sich gezwungen, bei den schiitischen Milizen anzufragen, damit diese den ISIS-Truppen den Weg nach Bagdad versperren.
US-Präsident Obama will nicht wieder in einen Konflikt mit Bodentruppen hineingezogen werden. Die US-Regierung ist mit ihrem Abenteuer in der Ukraine beschäftigt, ihre Achse nach Asien muss einen Ersatz für al-Maliki finden oder eine neue Koalition zusammen zimmern. Dafür scheint ihr sogar die Hilfe des Iran willkommen, obwohl volle Inanspruchnahme von dessen Streitkräften große Spannungen mit den Verbündeten der USA in Saudi-Arabien und erst recht mit Israel hervorrufen würde.
Al-Maliki wiederum hat Saudi-Arabien und Katar bezichtigt, ISIS finanziell zu unterstützen, und illoyale ex-ba’athistische Generäle und auch die Kurden, Mossul preisgegeben zu haben.
Ein sunnitischer Aufstand?
Die Geschwindigkeit und das Ausmaß des ISIS-Vormarschs zeigen sicher, dass dahinter mehr steckt als die Aktionen einer einzelnen djihadistischen Gruppe und sei sie auch noch so effektiv und motiviert (‚fanatische Kämpfer’, wie sich die Medien ausdrücken).
Flüchtende irakische Soldaten berichteten, dass ihre Kommandeure und Offiziere ihnen befahlen, die Kämpfe einzustellen und selbst die Flucht südwärts gen Bagdad organisiert haben. Einige Befehlshaber und ihre Soldaten gingen auch zu den Rebellen über, während andere sich kooperativ verhielten oder zumindest keinen Widerstand leisteten. ISIS ist am treffendsten als Speerspitze einer Koalition von sunnitischen Stammesmilizen und ehemaligen ba’athistischen Verbänden, die im letzten halben Jahr oder länger aufgebaut wurden, charakterisiert.
Al-Maliki und seine Regierungsbilanz seit 2011 erklären sicher zum Teil, warum ISIS in der Lage war, ein solches Bündnis zwischen verschiedenen bewaffneten sunnitischen Gruppen und mehr weltlich orientierten islamischen Sufi-Kräften zu schmieden. Doch obwohl die Sunniten sicher diskriminiert worden sind, bilden sie keine unterdrückte Nation. Das Ziel dieser Allianz ist die Wiederherstellung der sunnitischen Macht, d.h. die Errichtung eines Regimes, das genau so sektiererisch wäre wie das von al-Maliki mit schiitischer Dominanz.
Grundsätzlich kann daher einer solchen Kraft keine Unterstützung gegeben werden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Situation sehr von Syrien. Obwohl ISIS am Kampf gegen Assad angeblich beteiligt ist, sind die syrischen Aufständischen insgesamt ein echtes Produkt der Erhebung des arabischen Frühlings, dessen Ziel nicht die Errichtung eines reaktionären Kalifats war und ist – ihnen geht es um demokratische Rechte.
Die ISIS-Offensive und der ‚sunnitische Aufstand’ waren zu keiner Zeit eine revolutionäre plebejische Massenerhebung. Aus dem Grund sollten RevolutionärInnen weiter den syrischen Aufstand unterstützen, aber dessen Dominanz durch Kräfte wie ISIS bekämpfen. Im Irak aber sollten sie weder mit al-Maliki noch mit al-Baghdadi paktieren, sondern für den Aufbau von Massenorganisationen arbeiten.
Die von ISIS geführte Allianz hat sicher das Potenzial, die Unterstützung der 5-6 Millionen SunnitInnen im Irak zu gewinnen. Nach seiner Wahl hat sich al-Maliki hartnäckig geweigert, die sunnitischen und selbst rivalisierende schiitische politische Kräfte zu integrieren und die Pfründe des Amts mit ihnen zu teilen. Er besetzte nicht nur den Posten des Premierministers, sondern handelte gleichzeitig als Verteidigungsminister, Innenminister und nationaler Sicherheitsberater.
Seine Regierung hat die SunnitInnen als Bürger zweiter Ordnung behandelt, deren unbewaffnete Proteste niedergeschlagen, Hunderttausende ins Gefängnis gesteckt, oft ohne Anklage und mit Schuldbekenntnissen, die unter Folter erzwungen wurden. Die Regierung war unglaublich korrupt. Die Parlamentsabgeordneten genehmigten sich per Abstimmung ein 8.000 Dollar-Monatsgehalt und teure Pensionen. Das erzeugte im Lande Zorn auf die politische Elite.
Diese Situation enthält auch sozioökonomische Aspekte. In einem Artikel für die BBC am 21. Juni bemerkt der stellvertretende Direktor des Royal United Services-Instituts für Militärforschung Michael Stephens:
„Wer das Geschehen im Irak als Produkt wahnwitziger Launen von ein paar radikalen Fanatikern abqualifiziert, ignoriert die sehr gegenwärtige soziale Unausgewogenheit im Irak. Bei meiner Rundreise durch das Land in den vergangenen Tagen war ich schockiert über das Maß der Verarmung, das viele irakische BürgerInnen erdulden müssen. Es findet eine allgemeinere Form der Erhebung von großen Gruppierungen aus den abgehängten Gemeinden im ganzen nordwestlichen Irak statt und ist Ausdruck von Jahren der sozialen Ausgrenzung, von schlechter und korrupter Regierungsführung.“
Dennoch könnte sich die ISIS-Allianz mit Kräften wie der Naksahabandi-Armee (NA), die der Sufi-Ideologie anhängt, als brüchig erweisen. Als Takfiri-Fundamentalisten, die andere Moslems, die nicht ihren Lehren folgen, als Abtrünnige verfolgen und auch töten, betrachten die ISIS-Mitglieder die Sufis, die Heilige verehren, als unislamisch und zerstören deren Schreine. Auch gegenüber dem Ba’athismus zeigen sie sich normalerweise unduldsam. Als Naksahabandi-Kämpfer Poster von Saddam Hussein in Mossul aufhängen wollten, wurden sie gezwungen, diese wieder abzunehmen.
Obwohl die ISIS-Befehlshaber Berichten zufolge ihre Anhänger in ihrem diesbezüglichen Eifer zügeln, werden sie früher oder später ihre strenge Auffassung vom Scharia-Recht in den von ihnen kontrollierten Gebieten durchsetzen wollen. Während des militärischen Widerstands gegen die Besatzung des Irak von 2004-06 haben die Al Kaida-Vorgänger von ISIS sich der sunnitischen Bevölkerung entfremdet und das Bündnis mit den weltlicheren Kräften aufgelöst.
Das sunnitische Sektierertum von ISIS wiederum droht die den Schiiten heiligen Stätten in Zentral- und Südirak anzugreifen und zu zerstören. Dies hat eine schiitische Antwort auf kommunaler Ebene hervorgerufen. Der oberste schiitische Geistliche des Irak, Großayatollah Ali al-Sistani, hat seine Anhänger zum Eintritt in die irakische Armee und zur Verteidigung der heiligen Stätten aufgefordert.
Zusätzlich hat Muktada al-Sadr, der noch zwei Monate zuvor seinen Rückzug aus der Politik angekündigt und seine AnhängerInnen zur Auflösung aufgerufen hatte, am 21. Juni eine riesige Demonstration von tausenden schwerbewaffneten Kämpfern im Stadtteil Sadr-City von Bagdad einberufen. Er verfügt angeblich über 20.000 Milizionäre, sagte aber, sie würden nur die den Schiiten heiligen Stätten in Samarra, Bagdad, Kerbala und Nadschaf verteidigen. Seine Feindschaft zu al-Maliki besteht also fort. Da er langjähriger Gegner der USA ist, hat Obama ebenso wie al-Maliki gute Gründe, das Wiedererscheinen der Mahdi-Armee zu fürchten, die Hauptakteur im sektiererischen Bürgerkrieg von 2006-08 war.
ISIS in Irak und Syrien
ISIS (auch bekannt als al-Dawla oder Da’ish im Arabischen) wurde im April 2013 als Ausweitung von al-Quaida im Irak (AQI) mit angeschlossenen Organisationen wie Jabhat al-Nusra in Syrien gegründet. Ihr Anführer ist Abu Bakr-al-Baghdadi, ursprünglich ein niederrangiger Geistlicher, der aber zu einem respektierten Kommandeur und Taktiker wurde und im Internierungslager Bucca zwischen 2005 und 2009 von US-Streitkräften gefangen gehalten und gefoltert wurde.
ISIS hat sich rasch auf beiden Seiten der syrisch-irakischen Grenze breit gemacht und sucht ein islamisches Kalifat in ganz Syrien, Palästina, Jordanien, im Irak und Libanon zu errichten, was ihre Bezeichnung verrät. ISIS ist in der Lage, auf beiden Seiten der syrisch-irakischen Grenze zu operieren und kontrolliert die einzige Provinzhauptstadt Raqqa.
Als al-Baghdadi erklärte, dass die erweiterte Organisation als islamischer Staat von Irak und al-Sham bekannt werden sollte, lehnte Jabhat al-Nusras Chef, Mohammed al-Jolani die Fusion ab. Darin erfuhr er Unterstützung durch al-Quaidas Führer Ayman Zawahiri.
ISIS mag die Vorfront der Auseinandersetzung sein, doch jetzt ist offensichtlich, dass sie an der Spitze dessen steht, was an eine allgemeine sunnitische Erhebung heranreicht und 8 Fraktionen umfasst, einige davon unter dem Kommando ehemaliger Ba’athisten und erfahrener Offiziere aus Saddam Husseins Armee und Geheimdienst.
ISIS startete 2013 seine Angriffe, darunter einen gelungenen Anschlag auf das berüchtigte Abu Ghraib-Gefängnis, um kampferprobte Kader zu befreien. Im Januar 2014 besetzte es Falludscha 70 km westlich von Bagdad, Schauplatz zweier extrem blutiger Schlachten während der Besatzung im April und November 2004; seitdem hält ISIS die Stadt.
Seit Januar 2014 hatten sich die FSA und ihre Verbündeten aus der Mehrheitsströmung im Islam und aus dem Salafismus, Ahrar ash-Sham („Freie Menschen der Levante“) und die Islamische Front gegen ISIS in Syrien gewendet, wo ISIS und Jabhat al-Nusra mit Unterbrechungen um die Vorherrschaft in den „befreiten Zonen“ außerhalb der Kontrolle des Regimes Bashir al-Assads gerungen haben.
Dieser blutige „Bruder“krieg inmitten von Syriens revolutionärem Bürgerkrieg hat in Kombination mit dem ominösen militärischen und finanziellen Schacher mit dem Assad Regime seitens beider „al-Quaida“-Milizen den Großteil der bewaffneten syrischen Opposition dazu verleitet, ISIS und Jabhat al-Nusra vorzuwerfen, in Wirklichkeit Stellvertreter oder Lakaien der syrischen Regierung zu sein. Es ist sicher der Fall, dass ISIS sich sowohl als entschiedener Gegner demokratischer Forderungen der syrischen Revolution erwiesen hat wie jene, die gegen sie selbst antreten.
UnterstützerInnen der syrischen Revolution in Syrien und der Region betrachten den Vormarsch von ISIS mit extrem gemischten Gefühlen. Kurzfristig schwächt dieser das schiitisch-sektiererische irakische Regime unter Nuri al-Maliki, welches zuließ, dass der Irak als Nachschubbasis für Assads brutalen Krieg gegen das syrische Volk fungierte. Das bringt auch Malikis iranischen Geldgeber in Verlegenheit, obwohl man das gegen die Tatsache aufwiegen muss, dass der Iran nun über einen Vorwand für noch offenere Einmischung im Irak verfügt, der die USA schwerlich eine Alternative bieten können.
Mittel- und langfristig stärkt er jedoch exakt jene Kräfte in Syrien, die eine klare Mehrheit unter Syriens Revolutionären entschlossen hat zu säubern und zu isolieren. Deren sektiererische und bis zur Vernichtung von Andersgläubigen reichende Politik hilft der Regierung Assads direkt, indem sie alle religiösen Minderheitsgemeinden und weltlichen Kräfte dazu treibt, jene als kleineres Übel im Vergleich zu einem ISIS-Kalifat einzuschätzen. Tatsächlich schürte Assad in zynischer Weise das Sektierertum, um einen Keil in die Opposition gegen ihn zu treiben.
USA: zwischen Baum und Borke
Präsident Barack Obama hat angekündigt, bis zu 300 Militärberater in den Irak zu entsenden, befahl aber keine Luftschläge gegen ISIS-Einheiten. Verteidigungsminister Chuck Hagel beorderte einen Flugzeugträger – bezeichnenderweise die USS George W. Bush – in den Arabischen Golf. Das große Schiff wird von je einem Lenkwaffenkreuzer bzw. -zerstörer begleitet.
Als Obama auf einem Programm an die Regierung gelangte, die US-Kampftruppen aus dem Irak abzuziehen, die schließlich im Dezember 2011 abrückten, hoffte er, die Administration al-Malikis weiterhin kontrollieren zu können. So unterstützte er sie bei den irakischen Wahlen auch. Maliki weigerte sich jedoch, verbleibenden US-Beratern Immunität vor der Verfolgung durch die irakische Justiz für Verbrechen einzuräumen, die jene an Zivilisten begangen hatten. Das führte zu einer Entfremdung von den USA und zu einer engeren Bindung an den Iran.
Heute scheinen sich die Dinge für die USA vom Schlechten zum Schlimmeren zu wenden. In Afghanistan vermochte es die US-Besatzung nicht, die Taliban zu vernichten oder ein taugliches Ersatzregime zu installieren, das für die Amerikaner nach deren Abzug herrscht. Pakistan ist zerrieben zwischen der Armee, den einheimischen Taliban und sich befehdenden PolitikerInnen. Libyen ist durch Konflikte unter den Regionalmilizen zerrüttet. Ägypten ist zu einer Militärdiktatur zurückgekehrt. Syrien steckt seit 3 Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg.
Obama befindet sich in einer ziemlichen Klemme. Soll er ein Bündnis mit dem Iran suchen, um ISIS zu schlagen und damit Saudis wie Israelis vergrätzen? Soll er Bomber und Drohnen schicken und die sunnitische Bevölkerung weiter von sich abstoßen? Welche sunnitischen Politiker wünscht er in ein neues irakisches Regime zu integrieren?
Doch wenn er nicht energisch eingreift, wird entweder al-Maliki stürzen oder ein sunnitisch-schiitischer Bürgerkrieg könnte eskalieren. Viele denken jetzt nicht zu unrecht, dass die USA nun als alternde Supermacht dastehen, überfordert und unfähig, weiter die Weltpolizei zu verkörpern.
Doch im Zweifelsfall greifen US-Präsidenten immer wieder zu Bombardements und Luftattacken mit dem unausweichlichen „Kollateralschaden“ an verheerenden Verlusten unter der Zivilbevölkerung. Und Obama sitzt ein Kongress aus chauvinistischen Kriegstreibern wie Senator John McCain im Nacken, die ihn bezichtigen, im Angesicht des „Terrorismus“ und der Aussicht auf „Verlust “des Irak, ja der ganzen arabischen Welt, auf Fallenlassen Israels, ein schwaches Bild abzuliefern.
SozialistInnen und AntikriegsaktivistInnen müssen weltweit gegen jede US-Intervention im Irak mobilmachen. In Britannien wird das durch die Intervention Tony Blairs beschleunigt, der behauptet, das Gemetzel und Chaos im Irak sei nicht durch seinen und George Bush Jrs. Krieg 2003 verschuldet, sondern durch den vorzeitigen Rückzug britischer und US-Truppen 2011. Der Hass-Ausbruch gegen den Erzkriegstreiber – zum Hohn jetzt UN-Friedensbotschafter – signalisiert, dass diese Leute die breite internationale Antikriegsbewegung von 2003-04 nicht vergessen haben. Sie kann und muss wiederbelebt werden!
Die irakische Arbeiterbewegung und die Linke
Falah Alwan von der Föderation der Arbeiterräte und Gewerkschaften im Irak (FCWUI) bezog wie folgt Stellung:
„Wir lehnen ein US-Eingreifen ab…(und) sind entschieden gegen die freche Einmischung des Iran, …gegen die Intervention der Golfregimes und ihrer Finanzierung bewaffneter Gruppierungen, besonders durch Saudi-Arabien und Katar. Wir weisen Nuri al-Malikis sektiererische und reaktionäre Politik zurück. Wir treten auch gegen bewaffnete terroristische Banden und Milizenkontrolle über Mossul und andere Städte auf. Wir stimmen mit den Forderungen von Menschen gegen Diskriminierung und Sektierertum in diesen Städten überein und unterstützen diese. Schließlich verurteilen wir die Einmischung religiöser Institutionen und ihr Verlangen nach wahlloser Kriegsführung.“
Für die Arbeiterkommunistische Partei Kurdistans „ist die Hauptsache, Kurdistan aus diesem Krieg herauszuhalten. Wir sagen, es soll eine Volksabstimmung und Unabhängigkeit für [Irakisch-]Kurdistan geben.“
Im Gegensatz dazu gewährt die Erklärung des Politbüros der Irakischen Kommunistischen Partei vom 11. Juni der Regierung nahezu bedingungslose Unterstützung:
„Wir von der KP Iraks verdammen den Terrorismus in all seinen Formen und Äußerungen; wir bekräftigen unsere volle Unterstützung und grenzenlosen Rückhalt für das Militär und die Sicherheitskräfte, rufen alle politischen Blöcke und Parteien, ob an der Macht oder nicht, zu einem sofortigen Treffen auf und dazu, einen nationalen Dialog abzuhalten. Dieser soll Maßnahmen in Erwägung ziehen, den Kräften des Bösen, der Aggression und des Verbrechens resolut entgegenzutreten, die Terroristen zu besiegen und den Streitkräften in der anhaltenden Schlacht politische, materielle und moralische Hilfestellung zu leisten, zusätzlich zur einwandfreien Umsetzung der allgemeinen Sicherheitspolitik.“
Was tun?
ArbeiterInnen, Gewerkschaftsmitglieder, laizistische Jugendliche und Frauen müssen al-Maliki und al-Baghdadi antworten, beiden Lagern „die Seuche an den Hals zu wünschen“, schiitischem wie sunnitischem politischen Islam. Sie dürfen weder die Offensive der ISIS-Koalition noch die irakische Regierung und die Gegenoffensive ihrer US-Verbündeten unterstützen. Der Sieg welcher Seite auch immer wäre für alle EinwohnerInnen des Irak katastrophal, welcher Religion sie auch angehören mögen.
Die gegenwärtigen Staaten in Nahost wurden aus dem osmanischen Reich als Völkerbundmandate durch Frankreich und Britannien zurechtgeschnitten. Sie waren künstliche Gebilde, wie die mit dem Lineal gezogenen Demarkationslinien auf der Landkarte ins Auge springen lassen. Dem gesamten arabischen Westen (Mashriq; das sind Jordanien, Libanon, Palästina und Syrien) widerfuhr eine zerreißende und undemokratische Balkanisierung, deren Grenzen nach der Unabhängigkeit im Zeitraum nach 1945 neu bestätigt wurden. Deren Überwindung war Ziel des pan-arabischen Nationalismus, aber dessen bürgerliche und militärische Vorkämpfer scheiterten bei diesem Projekt. Auch das Vorhaben der Islamisten, ein die Gegend einigendes Kalifat, wird scheitern, nicht zuletzt wegen seiner unterdrückerischen und reaktionären Natur.
Die fortgesetzte Aufteilung des Irak in einen Kurdenstaat im Nordosten, einen sunnitischen Staat oder islamisches Kalifat im Zentrum und Nordwesten und einen Schiitenstaat im Süden würde diese reaktionäre Zerstückelung fortschreiben, wo doch Einheit am dringendsten gebraucht wird. Doch diese kann nur die Arbeiterklasse erreichen, wenn sie sich zur führenden Rolle aufschwingt – auf Basis der Klassenunabhängigkeit von allen religiösen oder kapitalistischen Einflussfaktoren und so alle fortschrittlichen demokratischen und sozialistischen Kräfte auf ihrer Seite um sich schart. Hier und heute bedeutet das einzustehen für:
– Selbstverteidigung durch Arbeiter- und Volksmilizen unter Kontrolle von Delegiertenräten, gewählt in Betrieben, Groß- und Kleinstadtvierteln sowie auf den Dörfern!
– US-Truppen, Luftwaffenstützpunkte und Kriegsschiffe raus dem Irak und dem Golf! Keine Bombardierungen, keine Drohnenangriffe zur Festigung von al-Malikis korruptem tyrannischen und sektiererischen Regime!
– Nein zu einem ISIS-Kalifat mit seiner unvermeidlichen Verfolgung und Pogromen gegen SchiitInnen, ChristInnen, KurdInnen und weltlichen IrakerInnen sowie der sozialen Versklavung der Frauen!
– Nein zu einem konfessionellen Scharia-Staat ob unter al-Maliki, der Mahdi-Armee oder der Dominanz des Iran, der Völkermord an SunnitInnen und Hetzjagden gegen nichtreligiöse IrakerInnen mit sich brächte!
– Für das Recht auf Selbstbestimmung für die KurdInnen bis zur vollständigen Unabhängigkeit, wenn diese das wünschen!
Die einzig langfristige Lösung für die Marter des Irak liegt in der Auffrischung der Revolutionen, die von konterrevolutionären Kräften in Ägypten und Syrien wie auch im Irak zermalmt wurden und darin, die Arbeiterklasse, die Jugend und die Frauen an die Spitze der Auseinandersetzungen um Rechte für ArbeiterInnen, Frauen, nationale und religiöse Minderheiten in einem demokratischen und säkularen Staat zu hieven.
Die einzige Gesellschaftsmacht, die den Aufbau eines solchen Staates anleiten kann, ist die Lohnarbeiterklasse. Darum müssen der Irak und alle von Kolonialisten und Imperialisten im 20. Jahrhundert aufgeteilten Staaten der arabischen Welt zu Arbeiterstaaten werden, die zu einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens zusammengeschlossen sind.
Um dem in Europa, Nordamerika und sonst auf der Welt auf die Sprünge zu helfen, müssen wir der Antikriegsbewegung neues Leben einhauchen, um die US-Aggression im Golf aufzuhalten. Wir können damit bei der NATO-Konferenz in Südwales anfangen, die im September stattfinden soll. Ein großer und kampfbereiter Auflauf dort könnte eine Mobilisierungsbotschaft ausstrahlen, wie wir es 2003 schafften – doch diesmal mit wirksamen direkten Aktionen, um alle imperialistischen Mächte aus Nahost herauszuwerfen.