J.Schögler: Quebec – Studentische Widerstandsbewegung weitet sich aus

100 Tage Streik, 100 Tage Missachtung, 100 Tage Widerstand, lautete die
zentrale Losung der Großdemonstration — 150 000 bis 250 000 waren am
22. Mai 2012 in Montréal auf die Straße gegangen. Neben den
Hauptakteuren, den StudentInnen, SchülerInnen, Lehrpersonal, die seit
drei Monaten einen erbitterten Kampf gegen drastische Erhöhungen der
Studiengebühren und eine Privatisierung der Ausbildung führen, waren
diesmal auch sehr viele engagierte Menschen aus verschiedenen
Berufsgruppen dabei, die vor allem gegen das von der Regierung
beschlossene Demonstrationsverbotsgesetz protestieren. Die Bewegung ist
zu einer allgemein politischen Widerstandsbewegung gegen die
Austeritätspolitik der konservativen liberalen Provinzregierung
angewachsen, die zum längsten Konflikt in der Geschichte Kanadas
geworden ist.

In der Nacht auf 24. Mai haben einige tausend Jugendliche wieder
demonstriert und 400 von ihnen waren festgenommen worden, nachdem die
Polizei ihre Demo als illegal erklärt hatte. Zugleich war dies die 30.
Nachtdemonstration — die meisten dauerten 6 bis 8 Stunden — seit
Beginn der Bewegung vor 3 Monaten. Insgesamt sind bisher in der ganzen
Provinz etwa 2400 Demonstranten festgenommen worden.

Was treibt die Jugend auf die Straße?

Die Regierung Québecs hatte vor einem Jahr angekündigt die
Studiengebühren von 1700 Euro pro Jahr in den nächsten 5 Jahren
stufenweise bis auf über 3000 Euro zu erhöhen ( dazu kommen noch eigene
Gebühren der einzelnen Institute ) und obwohl die Gebühren im übrigen
Kanada im Durchschnitt schon höher, und im angrenzenden Ontario sogar
drei mal so hoch sind, war dies das Signal für die Aufbruchstimmung in
der Jugend Québecs.

Seit drei Monaten beschließen in gewissen Unis die verschiedenen
Vollversammlungen der StudentInnen jede Woche aufs neue die Fortführung
des Streiks. Wieder andere haben einen einmaligen Beschluss, d.h. die
Kurse erst wieder aufzunehmen, wenn die Regierung nachgegeben hat. Etwa
die Hälfte der 400 000 StudentInnen sind seither im „unbefristeten Streik“.

Am 27. April verhandelte die Regierung Jean Charest mit
Bildungsministerin ( inzwischen zurückgetreten) Line Beauchamp das erste
Mal mit den 3 Studentenorganisationen ( zwei gemäßigtere FECQ; FEUQ und
eine radikalere, die CLASSE ). Bisher haben die drei Organisationen die
Spaltungsversuche der Regierung durchschaut und treten weiterhin
geschlossen gegen die Anhebung der Studiengebühren ein, denn tausenden
Jugendlichen würde der freie Hochschulzugang jedes Jahr versperrt.

Die Unterrichtenden werden per Dekret von der Regierung gezwungen Kurse
trotz der Streiks abzuhalten, um Streikende gegen Nichtstreikende
aufzubringen.

Die Regierungseite schlug vor, die stufenweise Anhebung der Gebühren von
5 auf 7 Jahre zu strecken und den StudentInnen Kredite zu gewähren und
auch bei der Aufbringung der Drittmittel mitzuhelfen.

Binnen 48 Stunden haben die StudentInnen an der Basis abgestimmt und
dieses Angebot zurückgewiesen. Somit gingen die Demos weiter und die
Unterrichtsministerin trat zurück.

Die Regierung setzt auf Totlaufen der Bewegung einerseits und auf
Repression andererseits, indem sie mit der Verabschiedung der
Gesetzesvorlage 78 ( sie soll bis Juli 2013 in Kraft bleiben) weitere
Demonstrationen einschränken möchte. Jede Demo müsste 8 Stunden vorher
mit genauer Route der Polizei bekannt gegeben werden; Verbot, sich vor
den Unis und Schulen zu versammeln; sehr hohe Geldstrafen für
Teilnehmende an illegalen Demos.

Gerade dies führte zu einer weiteren Eskalation in der Bewegung und die
Sache ist nicht mehr nur Angelegenheit der StudentInnen, sondern all
jener, die sich gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit zur
Wehr setzen … und das sind immer mehr.

Die Studentenorganisation CLASSE hat zum zivilen Ungehorsam aufgerufen,
das Gesetz nicht zu befolgen und zahlreiche Demos werden bereits
„gesetzwidrig“ durchgeführt.

Johann Schögler 24. Mai 2012