K.N.: Zur sozialen Krise in Griechenland (GPA/djp, 11.9.12)

Bereits im 5. Folgejahr befindet sich die griechische Wirtschaft in der Rezession. Die Aussichten für 2013 bleiben düster. Immer deutlicher wird, dass in Griechenland bislang nichts „gerettet“ wurde, sondern die Spar- und Kürzungspolitik der letzten Jahre das Land vielmehr in eine tiefe soziale Krise gestürzt hat.

Griechenland ist pleite. Folgt man den gängigen Erklärungsmustern der Boulevardblätter, der EU-Kommission, konservativer ÖkonomInnen und führender PolitikerInnen in vielen  europäischen Ländern, so liegt dies am „ausufernden Lebensstil“, den unverschämt hohen Pensionen oder der mangelnden Steuer- und Arbeitsmoral der GriechInnen. Mit der Realität hat dies freilich wenig zu tun. So gehen Männer in Griechenland durchschnittlich mit 61,9 Jahren (in Österreich mit 58,9) und Frauen mit 59,6 Jahren (in Österreich mit 57,5) in Pension. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit in Griechenland liegt bei 2119 Stunden (in Deutschland bei 1390 Stunden) und während in Deutschland die Urlaubstage bei 30 pro Jahr liegen, sind es in Griechenland lediglich 23.1 Ein weiterer Grund für die Krise in Griechenland liegt angeblich im aufgeblähten Staatsapparat.

Doch auch diese Argumentation hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Zwar arbeiten 22% aller Beschäftigten in Griechenland im Öffentlichen Dienst (in Deutschland 15%). Betrachtet man jedoch den hohen Anteil an Beschäftigten in Staatsbetrieben von 13% (in Deutschland 4%) heißt dies, dass in Griechenland 9% und in Deutschland 11% aller  Beschäftigten im Öffentlichen Dienst (Beamte, LehrerInnen, ÄrztInnen) arbeiten.2 Die Zahlen belegen also lediglich, dass Griechenland im Vergleich zu Deutschland noch über eine große Anzahl an Staatsbetrieben verfügt. Ein erstrebenswerter Umstand, also!

Die hohe Schuldenquote Griechenlands reicht als Erklärung ebenso wenig aus. Diese lag 2010 bei 143%. Im Vergleich dazu verzeichnete Japan eine Schuldenquote von 197% und hat dennoch nicht ansatzweise jene Probleme, mit denen Griechenland derzeit zu kämpfen hat. Anhand der Staatsverschuldung zeigt sich jedoch recht deutlich, dass die griechische Misere nicht unabhängig von der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 betrachtet werden kann. Zwar galt Griechenland aufgrund seiner traditionell strukturschwachen Ökonomie bereits vor der Krise als wunder Punkt der Europäischen Währungsunion, der Anstieg der Schuldenquote im Zeitraum von 2007-2010 um über 40% hat die Situation jedoch erst wirklich eskaliert. Hinzu kam ein massiver Zinsanstieg bei Staatsanleihen, die von nervös gewordenen Ratingagenturen ab Herbst 2009 nach oben getrieben wurden.

Die Mär von den GriechInnen, die über ihre Verhältnisse gelebt haben, geht einher mit der Umdeutung der Finanzmarktkrise in eine Staatsschuldenkrise. Die angestiegenen Budgetdefizite in vielen Ländern werden also nicht mehr als Auswirkung der Krise 2008/2009 betrachtet, sondern als Ursache dafür werden aufgeblähte Staatsapparate, hohe Mindestlöhne und soziale Sicherungssysteme gesehen. Die fatalen Auswirkungen der jahrzehntelangen Umverteilungspolitik von unten nach oben, die Entkoppelung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft, die  Machenschaften der Ratingagenturen und ein Wirtschaftssystems, dass auf Standort- und Wettbewerbsvorteilen aufbaut und somit auch VerliererInnen erzeugt, werden dabei bewusst verschwiegen.

Nichtsdestotrotz wurde die Krise in Griechenland erfolgreich zur Staatsschuldenkrise umgedeutet. Nachdem Anfang 2010 bekannt wurde, dass Griechenland de facto zahlungsunfähig ist, wurden EU-Kommission, Europäische Zentralbank (EZB) und Internationaler Währungsfonds (IWF) – die berüchtigte Troika – aktiv. Spät aber doch, wurden „Hilfspakete“ für Griechenland geschnürt. In Anlehnung an die IWF-Strukturanpassungsprogramme der vergangenen Jahrzehnte waren Zahlungen jedoch an Maßnahmen geknüpft, die einen tiefen Einschnitt in das griechische Sozialgefüge mit sich brachten. Das Programm dabei ist nicht neu: Löhne und Gehälter wurden gekürzt, arbeitsrechtliche Bestimmungen empfindlich eingeschränkt, tausende Beschäftigte im Öffentlichen Dienst und Staatsbetrieben wurden entlassen, die Mehrwertsteuer wurde erhöht, die Pensionen gesenkt, Sozialleistungen gestrichen und im Gesundheits- und Bildungsbereich wird massiv eingespart. Hinzu kommt eine der weltweit größten Privatisierungswellen, die bislang jedoch an den unstabilen Verhältnissen und am Widerstand der griechischen Gewerkschaften gescheitert ist.

All diese Maßnahmen haben weder das Budgetdefizit noch die Zinsen für griechische Staatsanleihen gesenkt. Vielmehr zeichnet sich, angetrieben von einem Teufelskreis aus Sparprogrammen, Rezession und sinkenden Staatseinnahmen, eine Rückentwicklung der griechischen Ökonomie ab. Der Produktionsindex ist im Vergleich zu 2011 um 13,3% eingebrochen. Besonders betroffen sind die Produktion und das Baugewerbe, wo alleine im letzten Jahr 65.000 bzw. 50.000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Weitere 88.000 Arbeitsplätze sind im Handel und im Gewerbe verloren gegangen.3 Hierbei handelt es sich jedoch nicht um vorübergehende oder konjunkturbedingte Kündigungen; in den meisten Fällen sind die Unternehmen in Konkurs gegangen, die Jobs wird es also auch in 1-2 Jahren nicht wieder geben.

Alleine im Jahr 2011 ist die Anzahl an Unternehmensinsolvenzen um 27% angestiegen.4 Das Ergebnis dieser Politik ist fatal: Die Arbeitslosigkeit explodiert, Armut und Obdachlosigkeit nehmen von Tag zu Tag zu, sozialstaatliche Strukturen wie das Gesundheits- und Pensionssystem sind kollabiert.

Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit

Besonders in den Städten spitzt sich die Situation immer weiter zu. In Athen prägen neben heruntergelassenen Rollläden und geschlossenen Geschäftslokalen selbst in den touristischen Vierteln Obdachlose das Straßenbild. Sie bitten um Essen, verkaufen Taschentücher und Kugelschreiber an TouristInnen und suchen in Abfalltonnen nach Verwertbarem. Viele haben Teile ihres Hausrates bei sich. Geschirr, Matratzen, Koffer und Taschen mit Kleidung. Mit jedem verkauften Stück schwindet auch die Hoffnung bald wieder in einer Wohnung zu leben. Über 20.000 Menschen leben derzeit in Athen auf der Straße, hinzu kommen tausende Menschen, die in Notquartieren untergebracht sind. Laut Bürgermeister Kaminis ist die Zahl der Obdachlosen alleine im Jahr 2011 um 20% gestiegen.5

Viele von ihnen hatten bis vor kurzem noch eine Wohnung, einen Job und jeden Tag ein warmes Essen am Tisch. Durch die massiven Kürzungen des Arbeitslosengeldes ist der Weg von der Arbeitslosigkeit in die Obdachlosigkeit nicht mehr weit. Die Unterstützung für Arbeitslose wurde in den letzten Jahren zweimal auf 358 Euro gekürzt! Nach einem Jahr endet der Anspruch und damit geht auch die Krankenversicherung verloren. Die offizielle Arbeitslosenquote in Griechenland liegt bei 23%. Alleine im letzten Jahr haben über 300.000 GriechInnen ihren Arbeitsplatz verloren. Mehr als die Hälfte der über 1 Million Arbeitslosen gelten als „Langzeitarbeitslose“, das heißt sie suchen bereits länger als 1 Jahr vergeblich nach einen neuen Job, erhalten kein Arbeitslosengeld mehr und sind nicht krankenversichert. Noch drastischer ist die Situation für junge Menschen unter 25 Jahren. Hier liegt die Arbeitslosigkeit bei 54,9%.6 Tatsächlich dürfte die Zahl der Arbeitslosen jedoch noch höher sein, da viele aufgrund von „Scheinselbstständigkeit“ erst gar nicht erfasst werden.

Die in Griechenland immer noch starken Familienstrukturen konnten bisher noch Einiges abfedern. Doch auch hier scheinen inzwischen die Grenzen erreicht zu sein. Die Ankündigung weitere Einsparungen im Bereich der Pensionen umzusetzen, gefährdet inzwischen in vielen Familien die Existenz mehrere Generationen, da die meist geringen  Pensionen oftmals die letzte Einnahmequelle für ganze Großfamilien darstellen. Viele Familien lebten zudem von Ersparnissen, aber auch diese neigen sich dem Ende zu. Auch karitative und soziale Einrichtungen können den Ansturm nicht mehr bewältigen, da sie selbst von der Kürzungspolitik betroffen sind und nur mehr sehr eingeschränkt Unterstützung anbieten können. Im November 2010 wurden laut Angaben der EU-Kommission in Athens Obdachloseneinrichtung KYADA 61 der 85 Beschäftigten entlassen.7 Im August 2012 wurden zudem sämtliche staatliche Förderungen für NGOs eingestellt, was zu einer weiteren Verschlechterung der Versorgung durch Hilfsorganisationen führen wird.8

Dies ist angesichts der zunehmenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten fatal. 3 Millionen Menschen waren 2010 in Griechenland von Armut betroffen – das war bereits über ein Viertel der Bevölkerung. Die „neue“ Armut hat  inzwischen auch längst die Mittelschicht erreicht.

Die Schlangen in den Suppenküchen in den Städten werden von Tag zu Tag länger. Während früher vor allem Flüchtlinge die Suppenküchen aufsuchten, hat sich inzwischen der Anteil der GriechInnen von 15% im Jahr 2009 auf 60% im Jahr 2011 erhöht.9 Hunger ist in Griechenland kein Randphänomen mehr. Die Unterernährung von Kindern an Schulen ist weiter verbreitet als bisher angenommen. Verzweifelte Eltern bringen ihre Kinder in Kinderheime, weil sie sie nicht mehr ernähren können. Über 250.000 Menschen werden alleine von kirchlichen Einrichtungen täglich im ganzen Land mit Essen versorgt.10 Ein Großteil der Hungrigen hat eine Wohnung und Arbeit, kann sich jedoch das tägliche Essen nicht mehr leisten. Am späten Abend und in der Nacht machen sich jene, die in den Suppenküchen leer ausgegangen sind, auf die Suche nach Essen. So kann man in Athen Menschen beobachten, die in Gastgärten möglichst unauffällig übrig gelassenes Essen in ihre Taschen stecken oder Kartons und Plastiksäcke in den Einkaufsstraßen durchsuchen. Gut gekleidete alte Frauen mit Hut und Handtasche, Männer in gebügelten Hemden und Sakkos. Hunger und Armut haben die Mittelschicht längst erreicht. Laut Angaben der EU-Kommission liegt die Armutsgefährdung in Griechenland derzeit bei 68%.11

Gesundheits- und Pensionssystem vor dem Kollaps 

Wie tief die Krise bereits in die ohnedies schwachen sozialstaatlichen Strukturen gedrungen ist, zeigen das Gesundheits- und Pensionssystem. Hilfsorganisationen warnen seit Monaten angesichts der schlechten medizinischen Versorgung vor einer humanitären Katastrophe in Griechenland. Oftmals fehlt es am Nötigsten, wie Verbandsmaterial oder Infusionen. Viele öffentliche Krankenhäuser sind überfüllt. Besonders drastisch ist jedoch der Umstand, dass in Apotheken Medikamente nur mehr gegen Barbezahlung ausgegeben werden. Der Grund dafür ist, dass der öffentliche Träger für Gesundheitsleistungen E.O.P.Y.Y. bei den meisten Apotheken Schulden hat. Diese wiederum haben Schulden bei den Pharmakonzernen und können nur gegen Barzahlung Medikamente beziehen. Die Rückerstattung für Medikamente seitens der staatlichen Gesundheitsorganisation erfolgte bisher gar nicht oder mit sehr langen Verzögerungen. Inzwischen hat auch die Ärztekammer angekündigt PatientInnen nur mehr gegen Barzahlung zu behandeln, da auch viele ÄrztInnen seit längerem keine Zahlungen der E.O.P.Y.Y. erhalten haben. Auch hier ist keine Entspannung zu erwarten. Die neuesten Sparpläne der Regierung sehen weitere Einschnitte im Gesundheitsbereich vor. Aktuell wird über die Anhebung von Selbstbehalten diskutiert. Das Pensionssystem leidet ebenso unter schwindenden Einnahmen. Die
Bearbeitung von Neuanträgen auf Pensionen dauert meist bis zu einem Jahr. Für diese Zeit wird das Geld jedoch nicht rückwirkend ausbezahlt. Zudem häufen sich Bericht über Verzögerungen bei monatlichen Auszahlungen.

Working Poor und die Prekarisierung des Arbeitsmarktes

Eine Arbeit zu haben bedeutet in Griechenland längst keine Sicherheit mehr. 2012 wurde der gesetzliche Mindestlohn ein weiteres Mal gekürzt: 585 Euro netto für eine Vollzeitjob, bei einem ähnlichen Preisniveau wie in Österreich! Junge ArbeitnehmerInnen erhalten lediglich 490 Euro netto! Beides wurde von der Troika zynischerweise als Maßnahme gefordert, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Ohne Erfolg, wie die aktuellen Arbeitslosenzahlen zeigen. Der niedrige Mindestlohn und die de facto Aushebelung von Kollektivverträgen in Kombination mit der hohen Arbeitslosigkeit und der Aufhebung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen haben vielmehr zu einer völligen Erosion und Prekarisierung des Arbeitsmarktes geführt. Aus Not und Verzweiflung arbeiten viele Menschen unangemeldet und schlecht bezahlt für ein paar Stunden, mal hier mal dort. Dies erhöht den Druck auf die ohnedies zu niedrigen Mindestlöhne und untergräbt arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen. Die Obdachlosen auf den Straßen sind jenen die noch irgendeinen Job haben tagtäglich ein mahnendes Zeichen.

Fast 60% der Personen, die einen Halbzeitjob aufnahmen, taten dies nur mangels Alternativen.12 Zudem mehren sich Berichte über längst überwunden geglaubte Formen der Existenzsicherung. An den Stadträndern von Athen werden auf brachliegenden Flächen Kartoffel und Tomaten angebaut, die Anträge auf Fischereilizenzen haben sich innerhalb des letzten Jahres verdoppelt und die Fälle von „illegaler“ Fischerei häufen sich.13 BäuerInnen auf dem Land beklagen zunehmende Diebstähle auf ihren Feldern. Junge, meist gut ausgebildete Menschen aus den Städten gehen zurück in die Dörfer ihrer Großeltern und beginnen das seit Jahren brach liegende Land zu bestellen. Mit Aussteigerromantik hat dies recht wenig zu tun. Es handelt sich dabei nicht um eine aus freien Stücken gewählte Form der Existenzsicherung. Es sind Hunger und Not, die viele Menschen wieder zurück auf die Äcker ihrer Vorfahren zwingen.

Rassismus und Gewalt gegen MigrantInnen

Die Gewalt gegen MigrantInnen hat in den letzten Monaten erschreckende Ausmaße angenommen. Über 500 gewalttätige Übergriffe auf MigrantInnen wurden alleine in den letzten Monaten registriert.14 MigrantInnen erzählen, dass sie sich kaum mehr außer Haus trauen, immer in Gruppen gehen und in der Nacht möglichst zu Hause bleiben. Doch auch dort sind sie nicht mehr sicher. Immer wieder werden sie in der Nacht in ihren Quartieren überfallen. Die Täter sind
meist schwarz gekleidete Männer auf Motorrädern. Das Naheverhältnis dieser Schlägertrupps zur faschistischen Verbrecherbande Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte), die mit 17 Mandaten im Parlament sitzt, ist inzwischen kein Geheimnis mehr. Umso fataler, dass die offizielle Politik in Griechenland dieser Radikalisierung nichts entgegensetzt, sondern die entsolidarisierte und gewaltbereite Stimmung gegen MigrantInnen zusätzlich anheizt. Pünktlich mit der Ankündigung von neuen Einschnitten im Sozial- und Gesundheitsbereich startete die neu gebildete Regierung aus Nea Dimokratia, PASOK und Demokratische Linke (DIMAR) die Operation „Xenios Zeus“. Landesweit, aber vor allem in den Großstädten, machten Hundertschaften von PolizistInnen Jagd auf MigrantInnen. Allein in Athen waren über 4.500 PolizistInnen auf der Straße.

AugenzeugInnen und NGOs berichteten von massiven Übergriffen und Gewaltanwendung. 6.000 Menschen wurden inhaftiert, über 1.500 von ihnen sollen nun in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, präsentierte der Innenminister stolz das Ergebnis. Wenige Tage später wird ein Iraker in Athen auf offener Straße erstochen, in einem kleinen Ort am Peloponnes wird ein Ägypter mit dem Kopf in ein Autofenster eingeklemmt und kilometerweit  mitgeschleift.

Durch seine lange Landesgrenze gilt Griechenland, noch vielmehr als Italien oder Spanien, als bevorzugtes  Einwanderungsland in die EU. Hilfsorganisationen schätzen die Zahl von „illegalisierten“ Menschen in Griechenland bei über 1 Million. Alleine 2011 strandeten über 55.000 MigrantInnen in Griechenland.15 Ihre Zielorte liegen meist in anderen Ländern der Europäischen Union. Aufgrund der Dublin-II-Verordnung müssen Asylsuchende aber in Griechenland auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten; Menschen, die es in ein anderes Land schaffen und dort aufgriffen werden, werden nach Griechenland zurückgeschoben. Die Mittel, die seitens der EU zur humanitären Versorgung von Flüchtlingen in Griechenland zur Verfügung gestellt werden belaufen sich auf 10 Millionen Euro, während sich die EU die „Grenzsicherung“ 300 Millionen Euro kosten lässt.16 Angesichts der sozialen Lage ist die, ohnedies angespannte Situation, nun vollkommen eskaliert. Der Alltagsrassismus ist in Gesprächen mit Menschen auf der Straße ständig präsent. Vor allem wird dabei das Bild von MigrantInnen, die dem Staat auf der Tasche liegen, fleißig reproduziert. Tatsächlich konnten Flüchtlingen in Griechenland noch nie auf eine umfangreiche Unterstützung durch den Staat bauen. Sie haben ihr Schicksal längst selbst in die Hand genommen und arbeiten im informellen Sektor als StraßenverkäuferInnen oder schuften illegalisiert und ohne Rechte auf den Obst- und Gemüseplantagen. Ihre Hungerlöhne garantieren, ähnlich wie in Italien und Spanien, nach wie vor die Profite im Landwirtschafts- und Lebensmittelsektor.

Solidarität ist das Gebot der Stunde!

„Insofern ist die Solidarität mit Protestaktionen der griechischen Bevölkerung Hilfe zur Selbsthilfe. Damit nicht auch wir demnächst zur Schlachtbank geführt werden…“ (Sepp Wall-Strasser) Derzeit zeichnet sich kein Ende der sozialen Katastrophe in Griechenland ab. Die Krisenpolitik der griechischen Regierung und der Troika haben das Land sowohl ökonomisch als auch sozial um mehrere Jahrzehnte nach hinten katapultiert. Dennoch wird derzeit in Athen das nächste
Sparpaket geschnürt. Dabei hat die Troika einmal mehr die Löhne und Gehälter im Visier. Die „Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit“ ist dem Vernehmen nach das oberste Ziel. Zudem sind weitere Kürzungen bei den Pensionen, ein erneuter Personalabbau im Öffentlichen Dienst, Einschnitte im Gesundheitsbereich und eine Privatisierungswelle im Umfang von 50 Mrd. Euro vorgesehen.

In den nächsten Wochen und Monaten entscheidet sich nicht nur, ob Griechenland weiterhin in der Eurozone verbleiben wird, sondern auch, ob eine neue Ära der Sozial- und Wirtschaftspolitik in Europa eingeläutet wird. Es wird sich zeigen, ob sich jene Kräfte, die die Wirtschaftskrise und deren Auswirkungen zu verantworten haben, einmal mehr mit ihrem neoliberalen Programm durchsetzen können. Die Solidarität mit jenen Kräften in Griechenland, die dieser Politik den Kampf angesagt haben, ist also das Gebot der Stunde! Kathrin Niedermoser ist Politikwissenschafterin und langjährige Gewerkschaftsaktivistin und hat im Juni 2012 die Parlamentswahlen in Griechenland beobachtet.

1 ver.di Bundesvorstand (2012): Europa am Scheideweg.
2 ILO Laborsta (2008): Public Sector Employment 2008.
3 EL.STAT. (2012): Labour Force Survey. 1st Quarter 2012
4 Handelsblatt, 2. Dezember 2011
5 Kathimerini, 2. November 2011
6 EL.STAT. (2012): Labour Force Survey. 1st Quarter 2012
7 European Comission (2012): EU Employment and Social Situation, Quarterly Review, June 2012
8 Ansamed (2012): Crisis: Greece freezes public funding for NGOs, 22. August 2012
9 European Comission (2012): EU Employment and Social Situation, Quarterly Review, June 2012
10 Caritas Europe (2012): Popular soup kitchens and good people.
11 European Comission (2012): EU Employment and Social Situation, Quarterly Review, June 2012
12 EL.STAT. (2012): Labour Force Survey. 1st Quarter 2012
13 Kathimerini, 17. August 2012
14 To Vima 14. August 2012
15 taz 15. Juni 2012
16 ebd.