Die folgenden Ausführungen sind unmittelbares Ergebnis einer von mir soeben gemachten Erfahrung. Heute, am Samstag den 9.September, fand in Bonn eine weitere Kundgebung zur Solidarität mit Gaza statt. Sie fand ab 15 Uhr auf einem der belebtesten Plätze Bonns, dem Münsterplatz, statt. Der Aufruf zur Kundgebung stand
unter der Überschrift „Bonn trauert um die Ermordeten in Gaza!“ und: „Israel muss für seine Kriegsverbrechen vor den Internationalen Gerichtshof“.
Grob geschätzt waren bis 15:20h etwa 100 Teilnehmer erschienen. Wenn man bedenkt, dass in Bonn auch schon Kundgebungen mit unter zehn Teilnehmern stattgefunden haben, ist das nicht einmal besonders schlecht. Aber die Zahl der Kundgebungsteilnehmer – unter den aktuellen politischen Bedingungen vornehmlich Palästinenser – ist beileibe nicht die Hauptsache. Die primäre Frage ist die, welche Wirkung derartige Kundgebungen auf die Umsitzenden und die Passanten haben. Alleine die Zahl derer, die auf dem Platz im Café saßen, und derer, die über den Platz mit seinem Beethovendenkmal flanierten, war um ein Vielfaches größer.
Hat die Kundgebung mehr als eine Handvoll von diesen Menschen in irgendeiner – positiven oder auch negativen – Weise erreichen können? Nichts deutet darauf hin!
Wie schon der Titel deutlich macht, war die Stoßrichtung der Kundgebung in erster Linie humanitär und emotional. Auf handgeschrieben Plakaten wurden die Bürger darüber aufgeklärt, dass den israelischen Angriffen auf Gaza eine große Zahl von Zivilisten und darunter sehr viele Kinder zum Opfer gefallen sind. So traurig das ist – es ist offenkundig, dass diese Information, die jeder Erreichbare ohnehin schon seit Tagen oder Wochen den Medien entnehmen konnte, kaum praktische Reaktionen nach sich zieht. In der Tat ist die Menschenheitsgeschichte voll von blutigen Menschenrechtsverletzungen (einige aktuelle Beispiele: Massaker und Flüchtlingselend im Kongo, Massaker und Flüchtlingselend im Südsudan, Massaker und Flüchtlingselend in Syrien und im Irak, Massaker und Flüchtlingselend in der Ukraine – in allen Fällen natürlich mit Kindern als Opfer, wobei aber die Frage erlaubt sei, ob es denn weniger schlimm ist, wenn einem Arme oder Beine abgeschossen werden und man bereits 20 oder 50 Jahre alt ist oder wenn die Kinder tot sind und man als Eltern überlebt hat). Man müsste also permanent mitleiden und mitweinen. Aber das kann man nicht. Außerdem – sosehr das Mitempfinden eine notwendige Voraussetzung ist -: für sich genommen hilft es nicht, und das wissen die „normalen“ Menschen.
Die vorherrschende Haltung ist deshalb nicht die des „Ist mir egal“, sondern die des „Was kann man denn machen?“. Und hier liegt die fatale Schwäche solcher Kundgebungen. Sie zeigen keine Lösungen auf, noch klären sie über die zentralen Zusammenhänge auf, ohne deren Verständnis ohnehin keine Lösung auch nur denkbar ist.
Dass die heutige Kundgebung in Bonn wesentlich von Unterstützern der progressiven internationalen BDS (Boykott, Desinvestition und Sanktionen)-Kampagne getragen wurde, ist zu begrüßen, hat aber in Hinblick auf die auf dem Münsterplatz anwesenden Menschen wenig praktische Bedeutung, wenn das BDS-Flugblatt nur in geringer Zahl zurückhaltend unter den unmittelbar Umstehenden verteilt wird und im übrigen die zionistische Basis Israels gar nicht erst erwähnt, sondern das Übel mit der Besetzung der Westbank und Gazas 1967 beginnen lässt. Auch Reden, die kaum über den Kreis der Kundgebungsteilnehmer hinaus hörbar waren und die, soweit es sich um den kurzen Beitrag eines palästinensischen Diplomaten handelte, mehr schlecht als recht aus dem französischen übersetzt wurden, nutzen in dieser Hinsicht nichts. Überdies müsste eine solche Kundgebung, m.E. in allererster Linie durch die Plakataufschriften auf die Argumente des Gegners – des Zionismus ebenso wie die seiner Unterstützer in den hiesigen Medien und Parteien – von der CDU über die SPD hin bis zur PDS(Führung) – antworten.
“Das Problem“ liegt ja nicht in erster Linie darin, dass z.B.die aktuelle Regierung Israels “unverhältnismäßig“ auf die Raketen aus Gaza antwortet (was wäre denn „verhältnismäßig?) oder dass in dieser (wie in jeder anderen modernen) militärischen Auseinandersetzung vornehmlich Zivilisten sterben, sondern darin, dass der Zionismus in der historischen Praxis ein Siedlerkolonialismus ist und seine Bluttaten seit 1948 die notwendige Folge dessen sind, dass die Palästinenser nicht akzeptieren können, dass sie vertrieben und unterdrückt wurden und weiter werden. Daraus abgeleitet ist, dass Antizionismus und Antisemitismus antagonistische Haltungen sind, lebt doch der Zionismus vom Antisemitismus. Diese Aufklärung tut not, nicht nur, weil aktuell wieder einmal die Antisemitismus-Keule gegen die hiesige Palästina-Solidaritätsbewegung geschwungen wird, obwohl die unbestreitbaren antjüdischen Ausfälle reaktionärer oder intellektuell niedrigbegabter Teilnehmer an der einen oder anderen Demonstration völlig marginal waren, sondern weil diese die ideologische Rechtfertigung gerade auch für den deutschen Imperialismus war und ist, Israel – diese wichtigste und mächtigste imperialistische Flugzeugträger im Nahen Osten – massiv materiell und politisch zu unterstützen.