Goethe war einer der ersten, der in Griechenland ein Modell für ein utopisches Deutschland erkannte. Die Deutschen wollten nicht die griechischen Skulpturen und Tempel imitieren, sondern den Geist, der diese Werke möglich machte. Diese Assimilation des Griechischen hat und hatte einen großen Einfluß auf alle Aspekte der deutschen Nation. 1953 erließen 22 Staaten darunter auch Griechenland Deutschland die Hälfte der unerträglichen Schulden. Der aktuelle Druck auf Griechenland verleugnet alle jene hellenischen Werte, die aus Deutschland einen modernen Staat gemacht haben.
Heute wird Griechenland für alle Übel in Europa verantwortlich gemacht und Deutsche erheben am häufigsten den mahnenden Zeigefinger, obwohl Europa und das moderne Deutschland aus hellenischen Werten geschmiedet wurden. Wer weiß, ob Goethe heute nicht einen Nachlass der griechischen Schulden gefordert hätte, so wie die Griechen nach dem Krieg die deutschen Schulden erlassen hatten!
Auf dem Wandgemälde “Weimar 1803” stellt Otto Knille eine fiktive Zusammenkunft der literarischen Gesellschaft der Stadt dar. In der Mitte des Bildes steht eine überdimensionale Büste Homers. Die rechte Hand des geheimen Legationsrates Goethe ruht auf der Skulptur. Am rechten Rand des Gemäldes – mit seiner wohl durchdachten Zusammensetzung – steht Schiller, der alle irgendwie aus der Distanz zu betrachten scheint. Andere Personen auf dem Gemälde: Die Brüder Humboldt, Wieland, Schleiermacher, Herder, Gauss, Wilhelm von Schlegel, Klinger, Tieck, Jean Paul, Pestalozzi und andere. Zu ihren Füßen Terpsichore, die Muse für Chorlyrik und Tanz.
„Weimar 1803“ entstand 1884 als idealisiertes Bild die „Aristokratie des Geistes“ dieser bedeutenden deutschen Stadt. Auch wenn sie nicht dargestellt sind, hätte Knille unter anderen auch Hegel, Hölderlin, Schelling, Fichte – vielleicht auch die Brüder Schlegel und Kant aufnehmen müssen, obwohl jener, der im Jahr 1804 starb, die Promenade vielleicht nicht gern mitgemacht hätte.
Es möchte extravagant erscheinen, dass unter der autoritären Präsenz der Büste Homers so viele bessere Deutsche versammelt wurden, aber so ist es nicht. Goethe, der als nächster bei ihm steht, war einer der ersten, der in Griechenland ein utopisches Modell für Deutschland sah, wenn das Land auch noch mehr als 60 Jahre auf die Vereinigung warten musste. Schon 1774 im Werther singt Homer dem melancholischen Jüngling Wiegenlieder. Diese Lieder sind ein einmaliger Trost für seinen Kummer. Jahre später verglich Schiller Goethe mit Homer wegen seiner ungekünstelten Eleganz und seines Realismus.
Goethe entdeckte Griechenland in den Büchern von Johann Joachim Winckelmann : „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ (1755) und „Geschichte der Kunst des Alterthums“. (1764). Auch wenn der Historiker Goethe nie nach Griechenland kam, erkannte er in den römischen Nachfolgewerken alle ästhetischen, physischen und ontologischen Qualitäten der griechischen Kunst, sie wurden von Winckelmann mit der Formel „edle Einfalt, stille Größe“ beschrieben. Er beschrieb die Skulpturen des Apollo von Belvedere, des Laokoon, der drei Vestalinnen und andere als genaue, sinnliche Abbilder der Schönheit des menschlichen Körpers und sah darin ein Ideal des Zusammenspiels zwischen Materie und Geist.
Diese Prinzipien führten zu unvorhersehbaren Konsequenzen in einem Land, in dem die Sinnlichkeit als Perversion der schönen Seele galt, und wo die Sinnlichkeit abgelehnt wurde, nur um zu einer durchscheinenden Reinheit zu gelangen. Die protestantische Mystik und der Pietismus verdammten das Fleisch. Die Forderung der griechischen Ästhetik hingegen war das Bekenntnis zum menschlichen Körper, seinen Sinnen und seiner Freude am innigen Genuss an sich selbst.
Für Winckelmann entsteht dieser Genuss aus einer ästhetischen Erkenntnis, dass diese Werke die Frucht der Zivilisation sind und ein Ergebnis des politischen Systems, das nur möglich ist mit einer Freiheit, die er so beschreibt: “In Absicht der Verfassung und der Regierung von Griechenland ist die Freiheit die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst.“ Winckelmann weiter: Die Denkungsart der Griechen unterscheide sich stark von jener der unterworfenen Völker. Herodot beschreibt, wie die Freiheit die Ursache war für Athens Macht und Größe seinen Gegnern gegenüber. Durch die Freiheit erhebe sich, wie ein edler Zweig aus einem gesunden Stamm, das Denken des ganzen Volkes.
Es ist sehr gut vorstellbar, dass die Idee, die Kunst quelle aus der Freiheit hervor, und die Freiheit sprieße nur aus einem freien Volk und einer freiheitlichen Regierung, zu einem explosiven Effekt unter der „geistigen Aristokratie“ Deutschlands geführt hat. Die angebliche Nachahmung der Griechen sollte keine grobe und servile Kopie der Skulpturen und Tempel sein, sondern sollte der Geist nachgeahmt werden, der diese Werke erst möglich machte. Es waren die Emulation und der Stimulus des Griechischen, die in Deutschland eine eigenständige Kunst hervorbringen und festigen sollten und zur Entdeckung der Grundlagen einer Kunst führen würde, die nur ein freier Mensch in einem freien Volk schaffen könne.
Schönheit und Freiheit ist das, was Griechenland zu bieten hat. Trotz allem fühlte man sich in Deutschland unfähig und anachronistisch, ohne irgend eine Tradition, auf der griechische Rezepturen gestaltet werden könnten, ohne eine gemeinsame Idee, wie man das in die Praxis umsetzen könnte. Eine solche Verantwortung konnten weder Politiker noch Beamte übernehmen, das können nur die Humanisten schaffen, welche den griechischen Geist ganz und gar aufnehmen können, der als einziger im Stande ist, Kultur und Natur in Harmonie zu bringen.
Die griechische Paideia – ein Erziehungsideal, das über die menschlichen Werte aufklärt und zum Bürger erzieht – ist ein riesiges Projekt für die Deutschen, denn die Grundsätze des Humanismus können erst durch Bildung erworben werden. Die Bildung und Erziehung beginnen mit der Aneignung der Sprache, der deutschen und der griechischen; dann kommt der mündliche Ausdruck, damit diskutiert, überredet und allfällige Fragen entschieden werden können, und schließlich die „reinen Wissenschaften“, Mathematik und Philosophie, Wissensgebiete, welche auf kritische Objektivität vorbereiten, die notwendig ist, um Gesetze für sich selbst und andere erlassen zu können
Der deutsche Kulturlkreis bezog sich ab Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr auf Griechenland. Die Begriffe Lyzeum, Gymnasium, Athenäum, Elysium ersetzten die alten deutschen Begriffe. Die Zeitschriften die Propyläen, die Horen und Thalia drängten auf eine Erneuerung des Deutschen nach griechischem Vorbild. Goethe schrieb die Dramen Prometheus, Iphigenie auf Tauris, Pandora, Achilleus und das Gedicht Ganymed. Diese und viele andere seiner Werke sind Zeugnis einer Sehnsucht nach einer neu zu gewinnenden Weltanschauung. Die Griechisch und Latein wurden zu Pflichtfächern und standen fast bis heute auf dem Lehrplan deutscher Gymnasien.
Auch wenn Goethe und Schiller zwei eigenständige Temperamente besitzen, zwei gegensätzliche Konzepte für das Leben und die Kunst verfolgen, sind sie der gemeinsamen Überzeugung, dass Deutschland eine Nation nur werden kann, wenn es die Weisheit der Griechen versteht. Die beiden waren die ersten hellenischen Deutschen, die das griechische Muster umsetzten: bei Schiller kommt es in der Grazie und Würde, bei Goethe in der Sinnlichkeit und dem Pragmatismus zum Ausdruck. Der gebildeten Gesellschaft gegenüber kritisch, schrieben sie ironische, wütende und sarkastische Distiche gegen die Behörden und die Institutionen in der Art der Epigramme des Martial. Jene wurden im Musen-Almanach publiziert und verwirrten die gebildete Gesellschaft sowie all diejenigen, die vom sardonischen Pfeil des Humors der Kritiker getroffen wurden.
Der echte Hellene war ohne Zweifel Schiller, Goethe bevorzugte Rom, vor allem nach seiner italienischen Reise, wo er seine wissenschaftlichen und hedonistischen Tendenzen erkannte. Schiller hielt sich mehr an den bildenden Geist der griechischen Paidea und publizierte die „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795), worin er den erzieherischen Wert der Schönheit vorlegt, die Harmonie und Gleichgewicht bietet und dem sinnlichen Menschen die Welt des Denkens, dem Intellektuellen die Welt der Sinne eröffnet. Die Vorherrschaft des Politischen bleibt in der ästhetischen Bildung, weil das Gesetz der politischen Gemeinschaft sich von der Harmonie der Schönheit ableitet und die gegensätzlichen Instinkte ausgleicht: „Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Wert eines Menschen oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als dass es ihm nunmehr von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – dass ihm die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist“ (21. Brief) . In den „Philosophischen Gedichten“ bestätigt er, dass im Schaffensprozess Herz und Verstand zusammen finden. Die Sinne und die Gedanken des Schaffenden gehorchen einem inneren Gesetz, der obersten Würde des Menschen.
Durch seinen Meister Schiller angeregt, der sein Fragment des “Hyperion” in der Zeitschrift “Thalia” veröffentlichte, hat Friedrich Hölderlin das Zeugnis der Griechen wieder aufgenommen und sah in deren Reinheit, Leistungsfähigkeit, Schönheit und Freude die Inkarnation des Göttlichen auf dieser Erde. Mit einer schmerzlichen Sehnsucht identifiziert er sich mit der griechischen Tradition, die in Einheit mit den göttlichen Mächten lebte, was der moderne Mensch vergessen hat, indem er Natur und Geist, Objekt und Subjekt, Sensibilität und Bewusstsein voneinander trennt. Die griechische Alleinheit (hen kai pan) ist für immer verloren gegangen. Hyperion ist das Scheitern des Wunsches, das unterdrückte griechische Volk aus der Versklavung zu befreien: Im Wirbel und Lärm des Kampfes verrauchte das Ideal der Menschlichkeit, die Zeit ist noch nicht gekommen, das Leben zu ändern.
Hölderlin behandelt in seinem unvollendeten Dramenprojekt Der Tod des Empedokles, den Philosophen, der sich in den Krater des Ätna stürzt, als Symbol für den modernen Dichter, dessen unmögliche Mission ihn zum Scheitern verurteilt. Der Philosoph, Priester, Dichter und Krieger Empedokles büßt für seinen Ehrgeiz nach Wissen und seinen Hochmut in einem Akt, der die Menschheit retten soll. Hölderlin übersetzte König Ödipus und Antigone von Sophokles, schaffte es jedoch nicht, die Oden des Pindarus zu übersetzen, da er vierzig Jahre im Wahnsinn verbrachte. Er vertraute auch darauf, dass das Beispiel Griechenlands in ein deutsches Ideal umgesetzt werden könnte.
Hegel, ein enger Freund von Hölderlin aus den Studentenjahren im Tübinger Seminar, teilte dessen jugendliche Faszination für Griechenland: er behauptete, vom “glühenden und schmerzvollen Wunsch, den ursprünglichen griechischen Volksgeist neu zu entdecken“ besessen zu sein und versuchte ihn durch einen Vergleich zwischen deutscher und griechischer Dichtkunst zu erfüllen. Er begnügte sich jedoch nicht damit, die beiden Literaturen zu vergleichen, sondern wollte zum Kern der griechischen und deutschen Welt vordringen. Hegel war der Ansicht, dass sich der Hellenismus im Reich dervorhandenen Realität, die Moderne in jenem der Darstellung entfaltete. Wenn der griechische Dichter spricht, eröffnet sich eine zugleich leuchtende und dunkle Welt, die über seine Worte nach außen dringt, Worte, die allen gehören, die der Allgegenwart der Natur in den Taten und Entscheidungen der Menschen treu bleiben. Der moderne Dichter erstellt ein Bild, das er analysiert, aus dem alles Dunkle klar und leuchtend hervorgeht. Dabei spricht die Sprache nicht über die Dinge selbst, sondern über deren Darstellung: Das Bewusstsein schafft eine Welt und diese Darstellung wird zum Wesentlichen.Hegel lehnte den Hellenismus im reiferen Alter ab, obwohl jener sein späteres Denken formte: Die Weltgeschichte ist Ausdruck des göttlichen Willens, und der Verwirklichungsprozess der Ideen ist der dialektische Prozess der Erkenntnis der Freiheit. Indem er behauptete: „Was wirklich ist, das ist vernünftig“, ging er davon aus, dass die vorrangigen Aufgaben des Lebens seien, die politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Interessen gegenüber der Literatur und der Religion zu bewahren. Damit legte er die Grundlagen des modernen Staates. Nietzsche hingegen wütete mit griechischen Argumenten gegen den modernen Staat.
Die Angleichung Deutschlands an Griechenland wirkte sich entscheidend auf alle Aspekte der germanischen Nation aus, von der Sprachstruktur über Verwaltung, Politik, Bildung, Pädagogik, Universität bis hin zu sozialen und kulturellen Gepflogenheiten. Griechenland seinerseits erkannte die Anstrengungen eines Landes, sich in die Moderne einzufügen, von einem Agrarland zu einer Industriegesellschaft zu werden. Dieser jähe Übergang erschütterte das Land, da die Gesellschaftsstruktur trotz industrieller Produktionsmethoden mittelalterlich geblieben war. Diese dramatische Situation war Nährboden für zwei Weltkriege, die es selbst auslöste. Das Ausmaß der deutschen Niederlagen war den Ursachen jener Kriegeangemessen.
Als der Erste Weltkrieg 1918 zu Ende ging, wurde Deutschland im Versailler Vertrag zu Entschädigungszahlungen an seine Feinde verpflichtet. In Weimar war der Krieg verloren worden und die Verschuldung betrug 20 Milliarden Goldmark. Dieser Betrag erhöhte sich auf 296 Milliarden, die innerhalb von 42 Jahren zurückgezahlt werden mussten. Die Demütigung durch diese Niederlage und die wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der Verschuldung führten das Land an den Rand des Abgrunds, wodurch sich der Aufstieg des Nationalsozialismus teilweise erklären lässt. Adolf Hitler stellte die Reparationszahlungen ein und stürzte sich in den Zweiten Weltkrieg. Auch dieser Krieg wurde wieder mit katastrophalen Folgen verloren.
Die Schuldsituation war so unerträglich, dass Deutschland 1953 seine Gläubiger bat, die Schulden zu erlassen. Zweiundzwanzig Länder, darunter Griechenland, unterzeichneten das Londoner Abkommen. Sie erließen die Hälfte der 50 Milliarden Schulden aus dem Ersten Weltkrieg und willigten ein, dass die erzeugten Zinsen erst gezahlt werden sollten, wenn Deutschland wiedervereint sei. “Für die junge Bundesrepublik war dies eine enorme Erleichterung”, sagt Jürgen Kaiser, Koordinator der Entschuldungsinitiative Erlassjahr. “Der damalige Schuldendienst ist vergleichbar mit der Summe, die Griechenland heute zahlen muss.”
Die deutsche Wiedervereinigung wurde am 3. Oktober 1990 Wirklichkeit. Die deutschen Behörden ließen sich jedoch einundzwanzig Jahre Zeit, die Schulden zu bezahlen. 2010 wurden 25 Milliarden gezahlt, die noch aus dem Ersten Weltkrieg stammten.
Deutschland gehört zu den Ländern der europäischen Gemeinschaft, das am meisten Griechenland drängt, seine Finanzen zu klären. Doch es werden Stimmen laut, die Deutschland daran erinnern, dass Deutschland aus vielen anderen Gründen als für den Schuldenerlass in Griechenlands Schuld steht. Albrecht Ritschl, Wirtschaftshistoriker, sowie der Koordinator von Erlassjahr, Jürgen Kaiser, haben an Berlin appelliert, die Vergangenheit nicht zu vergessen. Diese deutschen Initiativen rufen dazu auf, ein Regelwerk für staatliche Insolvenz zu schaffen und das Londoner Abkommen von 1953 als Beispiel heranzuziehen. Damals trugen die Griechen zum Schuldenerlass für die Deutschen bei und damit teilweise zum deutschen Wirtschaftswunder. Nunist Griechenland überschuldet und könnte mit einem teilweisen Schuldenerlass von Seiten Deutschlands und anderer Länder Hilfe erfahren, wie es 1953 der Fall für Deutschland war. Warum hat es Deutschland so eilig, dass Griechenland seine Schulden bezahlt?
Es ist doch paradox, die Situation kommt einem Gedächtnisverlust gleich, oder vielleicht ist es Absicht, eine Abkehr von den hellenischen Werten, die Deutschland in ein modernes Land, eine Nation verwandelt haben. Nicht nur wegen der Entscheidung Griechenlands, die deutschen Schulden zu erlassen, sondern auch wegen der deutschen Humanisten, die das griechische Erbe zur Europäisierung Deutschlands und das Beispiel der griechischen Demokratie übernommen haben.
Eine solche Verachtung von Seiten Deutschlands ist reiner Hohn für die Weimarer Humanisten von 1803.