Zum 50. Jahrestag des Memorandums zu Fragen der internationalen Arbeiterbewegung und ihrer Einheit.
Es war vor 50 Jahren. Im August 1964 bereitete sich Palmiro Togliatti auf ein Treffen mit Nikita Chruschtschow vor; auf der Krim, in einem Erholungsheim für sowjetische Parteifunktionäre. Seine Notizen, später unter dem Titel „Memorandum zu Fragen der internationalen Arbeiterbewegung und ihrer Einheit“ bekannt, waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Togliatti starb aber am 21. August 1964 um Alter von 71 Jahren. Die Partei, deren Generalsekretär er über Jahrzehnte hinweg gewesen war, die Italienischen Kommunistische Partei (PCI) entschied nun, diese Aufzeichnungen, die als eine Art politisches Testament des Veteranen der italienischen und der internationalen Arbeiterbewegung betrachtet wurden, in der Theoriezeitschrift Rinascita zu veröffentlichen.
Das sorgte für große Diskussionen, von denen das Schlagwort von der „Einheit in der Vielfalt“ sehr lange im öffentlichen Gedächtnis haften blieb. Togliatti hatte sich nämlich skeptisch gegenüber einer formelhaften Verurteilung des Kurses der damaligen Führer der KP Chinas auf einer von Chruschtschow vorbereiteten Weltkonferenz der kommunistischen Parteien geäußert, er wies auf Widersprüche in der Entwicklung der sozialistischen Länder hin, er betonte die Rolle der sozialistischen Demokratie und er verwies darauf , dass „in Westeuropa ein Prozess weiterer monopolistischer Konzentration“ vorherrsche, „für den der Gemeinsame Markt den Boden und das Instrument bildet“. „Auf diese Weise werden die objektiven Grundlagen für eine reaktionäre Politik stärker, die darauf gerichtet ist, die demokratischen Freiheiten zu beseitigen oder zu beschränken, faschistische Regimes am Leben zu erhalten, autoritäre Regimes zu errichten, jeglichen Vormarsch der Arbeiterklasse zu verhindern und deren Lebensniveau spürbar zu senken.“ (Togliatti, Memorandum, in Palmiro Togliatti. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Berlin (DDR) 1977 , S. 769)
Ich habe diesen sehr aktuell anmutenden Passus deshalb ausführlich zitiert, weil in den Jahrzehnten nach dem Tod Togliattis und in der Zeit des Niederganges unserer Weltbewegung zahlreiche Versuche gemacht worden sind, aus ihm nachträglich einen Dutzendliberalen und direkten Vorläufer der PCI-Zerstörer zu machen. Das war er – wie eine gründliche Lektüre des Memorandums zeigt – mit Sicherheit nicht. Er war bestrebt, seine reichen Erfahrungen mit einer Analyse des Weltzustandes zu verbinden, kritisierenswerte Tatsachen nicht zu verschweigen und Wege zum sozialen Fortschritt zu öffnen. Das Memorandum umfasst 15 Druckseiten und kann im oben erwähnten Sammelband nachgelesen werden. Harald Neubert hat in seinem Werk „Die internationale Einheit der Kommunisten. Ein dokumentierter historischer Abriss. Essen 2009“ auf den Seiten 244 -251 eine Analyse dieser Notizen vorgenommen, die sich vor allem auf die internationalen Aspekte beziehen.
Wirkliche und wirksame Aktion
Dieser Aufsatz will sich mit Gedankengängen Togliattis befassen, die in der Diskussion um das Memorandum nicht im Vordergrund stehen. Es geht um seine Sorge um die Entwicklungsperspektive der kommunistischen Bewegung in Westeuropa.
Dabei stellte der erfahrene und erfolgreiche Parteiführer fest: (Wir) „kommen nicht aus der Situation heraus, in der die Kommunisten nicht imstande sind, eine wirkliche und wirksame Aktion zu entwickeln, die sie mit den großen Massen der Werktätigen verbindet. Sie beschränken sich auf Propagandaarbeit und haben keinen effektiven Einfluss auf das politische Leben ihres Landes“. (P.T. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Berlin 1977, S. 770). Die meisten Aktivitäten der westeuropäischen kommunistischen Parteien seien nicht dazu geeignet, „sich in aktiver und kontinuierlicher Weise in die politische und soziale Wirklichkeit einzuschalten, politische Initiative zu entwickeln, eine wirkliche Massenbewegung zu werden“. (ebd. S. 770 f.)
Togliatti warnt seine Bruderparteien vor der Gefahr, „sich mit internen Polemiken rein ideologischen Charakters, die weit von der Realität entfernt sind, abzukapseln“. (Ebd. S. 771).
Diese Feststellungen stießen vor 50 Jahren auf großen Widerspruch, gerade bei den kleineren Parteien, die sich in ihrem Eigenwert bedroht fühlten. Schließlich konnte man das alles auch als hochmütige Abkanzelung durch den Generalsekretär der größten KP Westeuropas lesen.
Waren bisher die Empfehlungen und Ratschläge für die Parteien aus dem Osten gekommen, so maßte sich jetzt ein Westler an, wie ein Schulmeister aufzutreten. Übersah Togliatti nicht die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen die Genossen kämpfen mussten? In Spanien, Portugal und auch in der BRD waren die Parteien illegal, in Skandinavien, den Niederlanden oder Belgien waren sie Mittelparteien, die aber in den nationalen Parlamenten vertreten waren. Lediglich in Frankreich, Finnland und vor allem in Italien konnte man sie als Massenparteien bezeichnen. Überall aber, auch wo sie sehr klein waren, hatten die Kommunisten Positionen in Betrieben, Gewerkschaften und Gemeinden erkämpft, die nicht ohne Gewicht waren.
Die Abwehrreaktionen waren daher verständlich. Allerdings verstellten sie den Blick darauf, dass Togliatti ein Grundproblem unserer Bewegung angesprochen hatte.
Er tat dies mit der Erfahrung von 50 Jahren des Kampfes für die Sache der revolutionären Arbeiterbewegung. Als enger Mitstreiter von Antonio Gramsci, als Mitbegründer der KP Italiens, führender Kominternfunktionär, als Spanienkämpfer, Generalsekretär der Partei, als Architekt der politischen Linie und des Aufstiegs des PCI im Nachkriegsitalien war er ein Meister der Strategie und Taktik.
Keine Kommentatoren des Zeitgeschehens
„Interne Polemiken rein ideologischen Charakters“ und Propagandaarbeit sind zu wenig, um die Ziele zu erreichen, die sich aus der Stellung und der Funktion einer kommunistischen Partei ergeben.
Ja: Es ist notwendig, den Marxismus in allen seinen Bestandteilen und in seiner Entwicklung intellektuell zu meistern. Das ist aber nur die Vorbedingung für unsere eigentliche Aufgabe. 50 Jahre nach der Abfassung des Memorandums zeigt sich gerade im deutschen Sprachraum, dass wir oft eine Avantgarde sind, hinter der es keine Truppen gibt, mit denen man den Feind besiegen könnte. Wenn es nicht so traurig wäre, man könnte darüber lächeln, wenn die verschiedenen Strategen mit ihren diversen Programmen herumfuchteln; mit Programmen, die alles Mögliche enthalten und die bis hin zu den Satzzeichen marxistisch-leninistisch sind, denen aber eines fehlt: Die Verbindung der gewonnenen Erkenntnisse mit einer konkreten Bewegung. Wir wollen aber keine Kommentatoren des Zeitgeschehens sein, sondern in die gesellschaftliche Entwicklung eingreifen, um Wege zum Sozialismus zu öffnen.
Was bedeutet aber, „eine wirkliche und wirksame Aktion zu entwickeln, die uns mit den großen Massen der Werktätigen verbindet“?
Das kann und darf sich nicht auf das Schreiben von Aufrufen, Flugblättern und Manifesten beschränken, sondern das bedeutet vor allem Kontakte mit der Bevölkerung, gemeinsame Aktion. Die große Masse der Werktätigen, um beim von Togliatti gebrauchten Begriff zu bleiben, das sind aber die Menschen, die unter den heutigen Bedingungen der Entsolidarisierung und der Dauerbeeinflussung durch die Bewusstseinsindustrie um ihr Überleben und um die Sicherung ihres Lebensunterhalts eintreten müssen. Hier muss man sich etwas einfallen lassen. In Deutschland hat der Kampf um den Mindestlohn gezeigt, dass es möglich ist, eine Idee, die zuerst nur von wenigen mitgetragen wurde, mehrheitsfähig zu machen.
Auch die Auseinandersetzungen um das Projekt „Stuttgart 21“, bei denen AktivistInnen der DKP sehr aktiv waren, zeigen, dass es hier und heute möglich ist, genau das zu tun, wovon Togliatti geschrieben hat, und dabei den Widerspruch zwischen den Interessen der Konzerne und jenen der Bevölkerung aufzuzeigen.
In früheren Aufsätzen, die in den Marxistischen Blättern erschienen sind, hat der Autor den Versuch gemacht, die Methode aufzuzeigen, mit der es uns gelungen ist, in der Steiermark von einer Randerscheinung in der Landespolitik zu einer Bewegung zu werden, die gesellschaftlichen Einfluss, Ausstrahlung auf nicht unbeträchtliche Teile der arbeitenden Bevölkerung und schließlich und endlich auch Positionen in Kommunen und in Parlamenten gewonnen hat.
Dabei war und ist es wichtig, die erkannten Schwerpunkte so aufzuschlüsseln, dass die Leute auch verstehen, was wir wollen, und eine Möglichkeit sehen, aktiv für als richtig erkannte Ziele einzutreten.
Wie wir das beim Thema Wohnen gemacht haben, kann man beispielsweise im Aufsatz von Elke Kahr über „Die Wohnungspolitik der KPÖ in Graz“ (Mbl 3/2013/ S. 64 ff.) nachlesen.
Plattform 25
Es gibt aber auch positive Erfahrungen im Kampf gegen den Sozialabbau. Die rot-schwarze Landesregierung aus SPÖ und ÖVP führt derzeit eine Politik der angeblichen Budgetsanierung durch, die zu starken Belastungen der Bevölkerung führt und auf Punkt und Beistrich den Vorgaben der EU entspricht.
Von der KPÖ initiiert hat sich mit der Plattform 25 ein breites Bündnis gebildet, das seit 2011 kontinuierlich große Aktionen gegen diesen Anschlag auf die sozialen Rechte durchführt. In dieser Bewegung sind die Vertreterinnen und Vertreter der KPÖ von den anderen TeilnehmerInnen nicht nur akzeptiert sondern auch anerkannt worden. Berührungsängste wurden abgebaut. Dabei war es wichtig, dass diese Bewegung auch unter schwierigen Bedingungen Teilerfolge erzielt hat.
Wir haben gleichzeitig großen Wert auf unser eigenständiges Auftreten in dieser Frage gelegt. Dabei wurde die Entscheidung getroffen, sich auf einen besonders aufreizenden Punkt des Belastungspaketes zu konzentrieren. Die Steiermark war das einzige Bundesland Österreichs, in dem die Verwandten zu einem Zwangsbeitrag für die Unterbringung von pflegebedürftigen Menschen in Heimen verpflichtet waren. Diese als Pflegeregress“ bezeichnete Verwandtensteuer konnte bis zu 10 Prozent des Nettoeinkommens ausmachen und wurde bereits bei Gehältern von knapp über 1200 Euro wirksam.
Unter der Losung „Weg mit dem Regress“ sammelten wir fast 20000 Unterschriften, wir halfen mit, eine öffentliche Meinung zu schaffen, die diese Belastung entschieden ablehnte. Und als die Landesregierung trotz alledem daran festhalten wollte, machten wir mit spektakulären öffentlichen Aktionen, darauf aufmerksam. Vor jeder Landtagssitzung stellten wir beim Tagungsgebäude eine Mauer auf und verteilten Flugblätter, in denen wir darauf hinwiesen, dass die Regierenden gegen eine sinnvolle Forderung der Bevölkerung mauern. Viermal wurde diese Aktion durchgeführt. Schließlich gab die Landesregierung nach. Der Regress wurde mit 1. Juli 2014 abgeschafft.
Von dieser Bewegung ist es ein weiter Weg zu bewussten Massenaktionen, die über den Kapitalismus hinausweisen. Ohne solche wirksame politische Aktionen ist es aber nicht möglich, diesen Weg zu beschreiten.
Die Schranke
50 Jahre nach Togliattis Memorandum gibt es aber ein große Schranke, die unsere Bewegung daran hindert, sich mit den großen Massen der Werktätigen zu verbinden, eine Schranke, von der Togliatti nichts wissen konnte. Es ist dies der Zusammenbruch selbst von rudimentären Elementen des Klassenbewusstseins und selbst des Klasseninstinkts bei großen Teilen der Werktätigen und vor allem bei den aus dem Produktionsprozess ausgegrenzten Teilen der Bevölkerung. Dazu hat die Bewusstseinsindustrie, haben die im Eigentum und/oder unter Kontrolle der großen Konzerne stehenden Massenmedien nicht unwesentlich beigetragen.
Wir müssen bildlich gesprochen als Marxisten hier mit einer Alphabetisierungsarbeit beginnen. Wie soll das aber gehen? Eine vorläufige Antwort auf diese Frage ist der große Stellenwert, den wir in unserer Arbeit der konkreten Unterstützung von Menschen in Not geben. Manchmal begegnen wir der Auffassung, dass diese Hilfe zwar sinnvoll sei, aber der eigentlichen politischen Arbeit untergeordnet werden müsse. Ich halte diese Meinung für falsch.
Im Gegenteil: Nur durch diese Kontakte können wir Vertrauen schaffen und im Idealfall Kollektive bilden, die beginnen, organisiert für ihre eigenen Interessen einzutreten.
Vorbildhaft wirkt in diesem Zusammenhang die belgische Partei der Arbeit, die schon seit Jahren mit ihrer Volksmedizin, der Gratishilfe von fortschrittlichen Ärzten für Menschen in Not, den Grundstein dafür gelegt hat, dass in Belgien zuerst in Gemeinderäten und schließlich auch auf parlamentarischer Ebene der politische Durchbruch gelungen ist.
Zeitgebunden
Was Togliatti vor 50 Jahren niederschrieb, hat uns heute noch viel zu sagen. Vieles ist aber zeitgebunden und zeigt uns, welchen Abstieg unsere Bewegung in dieser Zeit gemacht hat.
Als Togliatti in einem Erholungsheim auf der Krim seine Notizen niederschrieb, war er der Generalsekretär der stärksten Kommunistischen Partei Westeuropas. Vorbildhafte Verwaltung großer Regionen Italiens, starke Positionen in Gewerkschaften und im Parlament wurden mit originellen Versuchen verbunden, Wege zur Umgestaltung der Gesellschaft zu finden.
Im Jahr 2014 ist die kommunistische Bewegung in Italien zersplittert und marginalisiert. Sie ist nicht in der Lage, Auswege aus der Krise in Italien und in der EU zu zeigen. Und wie zum Hohn ist der Staatspräsident Italiens und Beförderer des Sozialabbaus ein Ex-Kommunist, der sich 1964 sicher noch als Kampfgefährte Togliattis verstanden hat.
Und der Adressat des Memorandums war der Generalsekretär der KPdSU, die Sowjetunion war eine sozialistische Weltmacht, die dem Imperialismus seine Grenzen zeigte.
Und 2014? Die Krim ist seit einigen Wochen wieder ein Teil Russlands. Aber die Sowjetunion ist schon lange Geschichte. So sehr Geschichte, dass es in der Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine zu bewaffneten Konflikten kommt.
Togliatti machte sich im August 1964 große Sorgen darüber, dass die Sowjetunion in der Auseinandersetzung mit den ultrarevolutionären chinesischen Kommunisten übers Ziel hinausschießen könnte. In der Gegenwart versucht Putins Russland eine strategische Partnerschaft mit China aufzubauen, das noch immer von einer kommunistischen Partei geleitet wird, die man aber sicherlich nicht mehr als ultralinks bezeichnen kann.
Ein Passus in seinem Memorandum dürfte aber auch heute noch Gewicht haben: Togliatti war „stets der Meinung, dass es nicht richtig sei, eine vorwiegend optimistische Darstellung der kommunistischen und Arbeiterbewegung in den westlichen Ländern zu geben“.(ebd,S. 770)