George Ismael: Arbeitsmigration und Rassismus – Die Legende vom “Haus Europa”

Seitdem ab dem 31. Dezember letzten Jahres volle Freizügigkeit für ArbeiterInnen aus Bulgarien und Rumänien herrscht, malen insbesondere CDU und CSU Schreckensbilder an die Wand. Die CSU ging sogar soweit, vier Monate vor den Europawahlen ein Thesenpapier unter dem Namen „Keine Armutsmigration in die Kommunen begünstigen“ zu veröffentlichen, wo sie forderte, den „Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch Armutszuwanderung“ zu verhindern – mit der Schlussfolgerung „Wer betrügt, der fliegt“.

Die Debatte, in die sich mittlerweile alle bürgerlichen Parteien, Kapitalverbände, Gewerkschaften und die Presse eingemischt haben, ist nicht neu. Doch sie ist aktueller und wichtiger für die europäische Arbeiterbewegung denn je.

Erschreckend ist in der Debatte das Ausmaß an Heuchelei und die schamlose Offenheit reaktionärer Propaganda. Zurecht meinte Bernd Riexinger, Parteichef der LINKEN, dass, „wer eine solche Melodie intoniert, den Tanz für die Rechtsextremen bereitet.“

Diese Aussage sollte nicht so verstanden werden, dass CDU/CSU faschistische Parteien wären, doch ihre rassistische Politik unterscheidet sich hier kaum von jener der offen rechtsextremen Parteien. Dennoch schaltete sich natürlich auch die faschistische NPD ein, die auf ihrer Homepage stolz verkündet, dass sie äußerst erfreut darüber ist, dass „die CSU zu Beginn des Superwahljahres 2014 mit dem Kampf gegen ‚Armutsmigration‘ ein NPD-Kernthema salonfähig macht“.#

Osteuropa: Vorhof des deutschen Imperialismus

Als Bulgarien und Rumänien 2007 der EU beitraten, bedeutete dies nicht automatisch die volle Freizügigkeit, überall in der EU arbeiten zu können, wie es für die meisten Staatsbürger der imperialistischen Kernländer Europas gilt.

Ähnlich wie bereits im Falle des Beitritts Polens zur EU drängte v.a. Deutschland darauf, die Freizügigkeit für ArbeitnehmerInnen einzuschränken. Wer in EU-Ländern arbeiten wollte, brauchte nach wie vor eine Arbeitserlaubnis. Deutschland reizte diese Regelung, das „2+3+2- Modell“ auch voll aus. Erst nach zwei Jahren sollte der voll Zugang gewährt sein, der durch die jeweiligen Mitgliedsländer um drei Jahre verlängert und im Falle „schwerer Störungen des Arbeitsmarktes oder der Gefahr solcher Störungen“ noch einmal um drei Jahre verlängert werden konnte.
Diese reaktionäre Politik, die im Fall Polens durch die rot/grüne und im Fall Bulgariens durch die rot/schwarze Regierung getragen wurde, bedeutete für das deutsche Kapital volle Bewegungsfreiheit in diesen Ländern. Gerade Osteuropa war auch schon in den Jahren vor der Krise die Spielwiese neoliberaler Politik. So wurden durch Maßregeln der EU unter deutsch-französischer Führung insbesondere in diesen Ländern mithilfe von Privatisierungen, Auslandsinvestitionen, dem Wegfall der Zollschranken und Angriffen auf Löhne und soziale Errungenschaften große Profite erzielt, während die Abhängigkeit dieser Länder vom deutschen Imperialismus zunahm.

So war das „Wirtschaftswunder“ mit Wachstumszahlen von bis zu 5%, das 2003 Polen den Weg in die EU öffnete, v.a. auf Privatisierungen, Subventionsstreichungen, restriktiver Finanz- und Haushaltspolitik und Streichung von sozialen Leistungen ab Anfang der 90er Jahre aufgebaut. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Industrie dieser Länder infolge der kapitalistischen Restauration und der „Strukturanpassungsprogramme“ des IWF vernichtet worden waren. Auch das bildete die Basis für den folgenden Aufschwung und selektive Investitionen des imperialistischen Kapitals. Ähnliche Pläne wurden auch in Bulgarien und Rumänien durchgeführt oder, wie im Fall der Ukraine, durch das deutsche Kapital in Osteuropa forciert.

Wer also über Arbeits- und Armutsmigration spricht, der sollte auch nicht über die Verursacher des sozialen Elends dieser Länder schweigen. In Polen führte diese Politik damals zu Arbeitslosenzahlen von bis zu 20%, die sich mittlerweile auf „nur noch“ rund 10% abgeschwächt haben. Besonders dramatische Ausmaße nimmt die Krisenpolitik der EU und die Ausbeutung durch das deutsche Kapital in Griechenland und Spanien an.

Dass diese soziale Misere zu verstärkter Auswanderung führt, ist weder erstaunlich noch Schuld der ArbeiterInnen aus den betroffenen Ländern. Darüber kann auch die Heuchelei eines Bouffier (CDU, Ministerpräsident in Hessen) nicht hinwegtäuschen, der zugab, „dass niemand gern sein Heimatland verlässt. Wenn er es aus Armut tut, dann müssen wir ihn dort unterstützen. Gleichzeitig müssen wir aber auch einfordern, dass er sich darum bemüht, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten.“

Der Drang nach Fachkräften

Doch während die Produktionskapazitäten in den Krisenländern Europas vernichtet werden, braucht das deutsche Kapital auch gut ausgebildete – und weil man die Ausbildungskosten spart und zudem deren Not ausnutzt und sie in Billigjobs drängt – besonders günstige Arbeitskräfte. Ein Teil der deutschen Bourgeoisie befürchtet daher, dass VertreterInnen von CDU und CSU womöglich übers Ziel hinaus schießen könnten und fordert – wie Angela Merkel (CDU) und Wirtschaftsminister Gabriel (SPD) – eine „Versachlichung“ der Debatte.

Ihre geringste Sorge dürfte dabei der Rassismus gegen „Armutsmigration“ sein. Ihnen geht es viel mehr darum, neue Arbeitskräfte zu gewinnen, um die deutsche Industrie wettbewerbsfähig, profitabel und am Laufen zu halten. Ihnen geht es nicht in erster Linie darum aufzudecken, dass die Mär von den die „Sozialsysteme ausbeutenden Osteuropäern“ nicht stimmt. Der Anteil an Hartz IV-BezieherInnen aus Bulgarien und Rumänien beträgt nur 0,6% und liegt damit unter der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von Menschen deutscher Staatsangehörigkeit. Auch beziehen sie im Durchschnitt seltener Kindergeld u.a. soziale Leistungen, obwohl sie eine Berechtigung dazu nach EU-Recht hätten.

Der „sachlichen“ Fraktion der Bourgeoisie geht es um etwas anderes. In Deutschland stagnieren die Arbeitslosenzahlen seit einiger Zeit, obwohl durchaus ein Bedarf an neuen Arbeitskräften herrscht. So erklärte das „Institut für die Zukunft der Arbeit“ (IZA): „Es gibt keine Anzeichen für eine Zuwanderung in Arbeitslosigkeit oder Armut. Die Arbeitssuchenden, die kommen, finden in der Regel Jobs, ohne einheimische Arbeitskräfte zu verdrängen.“

Das erklärt auch, warum die Arbeitslosenzahlen gleich blieben, obwohl 2012 und 2013 zusammen 770.000 EinwanderInnen (netto) nach Deutschland kamen. Gäbe es sie nicht, würde gleichzeitig auch ein nicht zu unterschätzender ökonomischer Druck auf das Lohnniveau nach oben entstehen.

Regierung und Arbeitgeberverbände wünschen sich also eine Politik, die vergleichbar mit den damaligen Anwerbe-Abkommen mit der Türkei, aber auch Ländern wie Griechenland, Italien, Jugoslawien, Marokko, Südkorea, Portugal, Spanien und Tunesien aus den 50er und 60er Jahren ist.

Ein Kabinettsprotokoll der Bundesregierung von 1955 bemerkte zur Situation damals folgendes: „Angesichts nahezu erreichter Vollbeschäftigung und sogar drohenden Arbeitskräftemangels plante die Bundesregierung, durch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte dem Arbeitskräftemangel zu begegnen und dadurch gleichzeitig auf künftige Lohnforderungen dämpfend zu wirken“.
Das Ziel war also damals wie heute, eine nach den Interessen des Kapitals gerichtete, kontrollierte Vergrößerung des Pools an Arbeitskräften. Diese Politik war allerdings damals wie heute an die rassistische Spaltung der ArbeiterInnenklasse gebunden. Und hier schließt sich der Kreis zwischen den „Populisten“ aus CSU und FDP, als auch den besonnenen „Regierern“ aus SPD, Teilen der CDU und auch dem rechten Flügel der LINKEN.

Arbeiterbewegung und die Rolle der Gewerkschaften

Die Politik der bürgerlichen Parteien wie auch der beiden bürgerlichen Arbeiterparteien SPD und LINKE, die sich alle in letzter Instanz dem „Standort Deutschland“ und damit dem Interesse des deutschen Kapitals unterwerfen, sollte uns daher nicht überraschen – auch, wenn die Linkspartei eine etwas linkere Politik vertritt, weil sie nicht so sehr durch „Regierungsverantwortung“ mit dem bürgerlichen Staat und den Institutionen des Kapitals verwoben ist.

Doch insbesondere die Politik der DGB-Gewerkschaften und ihrem Apparat aus führenden BürokratInnen ist beschämend. So stellte sich Michael Sommer, Vorsitzender des DGB, Mitte Februar auf eine gemeinsame Position mit dem Arbeitgeberpräsidenten Ingo Kramer. Gemeinsam appellierten sie an Politik und Regierung eine „vernünftige Politik“ zur Anwerbung von Fachkräften zu betreiben.
Im Grunde ist dieser Appell nichts anderes als die Forderung, die jetzige Regierungspolitik fortzusetzen. Auch für die Gewerkschaftsbürokratie bedeutet es eine Fortsetzung ihres Kurses. Denn die aktuelle Politik der Gewerkschaften ist es, die noch bestehenden Errungenschaften einer weiter schrumpfenden Schicht von gut bezahlten FacharbeiterInnen, die wir als Arbeiteraristokratie bezeichnen, zu schützen – auf Kosten breiter Teile der prekär Beschäftigten, der Arbeitslosen und der migrantischen ArbeiterInnen.

In der Realität bedeutete diese Politik letztlich natürlich auch Verluste für die privilegierteren ArbeiterInnen, eine Abnahme von Organisierungsgrad und Kampfkraft der Gewerkschaften, als auch ein Klima unter den ArbeiterInnen, die dem jetzigen Rassismus gegen „sozialschmarotzende Bulgaren“ oder „faule Griechen“ Tür und Tor öffnet.

Die Antwort der deutschen Gewerkschaftsbewegung bei steigender Arbeitslosigkeit (19 Millionen in den EU-Staaten) in Europa darf nicht der Rückfall in Nationalismus und „Burgfriedenspolitik“ (Politik der Unterstützung der Kriegskredite im ersten Weltkrieg durch die SPD zugunsten des deutschen Kapitals) sein. Nur der gemeinsame Widerstand und die Ausdehnung der gewerkschaftlichen Organisierung, insbesondere auf die migrantischen und prekär beschäftigten ArbeiterInnen ist unser Mittel gegen Lohndumping die Demontage sozialer Systeme.

Rassismus, das „Haus Europa“ und die Steuerzahler

Diese Politik wird aber mit Leuten wie Michael Sommer oder IG Metall-Chef Berthold Huber samt ihrem reformistischen Apparat, der die Gewerkschaften kontrolliert, nicht möglich sein. Das zeigte sich einerseits an den letzten Tarifrunden, die Abschlüsse unter der Inflationsrate brachten, als auch an chauvinistischen Statements wie von Huber, der im vergangenen Jahr verlauten ließ, dass die Spanier aufgrund ihres zu hohen Lohnniveaus selbst Schuld an der Krise seien. So wird noch im Nachhinein indirekt ein Lob für die DGB-Politik ausgesprochen, die mit der Unterstützung der Agenda 2010-Politik oder durch den Lohnverzicht 2009-11 diesen „Fehler“ nicht begangen hat.

Vom „gemeinsamen Haus Europa“ bleibt nach der EU-Erweiterung und -Vertiefung und erst recht seit dem Beginn der Krise 2008 nur die volle Bewegungsfreiheit des Kapitals übrig, das danach strebt, den „dynamischsten Wirtschaftsraum“ der Welt zu schaffen. Die damit verbundenen Entbehrungen und Angriffe auf demokratische Rechte, Löhne und soziale Leistungen für die Lohnabhängigen werden durch rassistische Propaganda verdeckt.

Das Höchstmaß an Heuchelei erreichen die immer wiederkehrenden Sorgen um „den deutschen Steuerzahler“. Denn dieser würde entweder immer mehr belastet oder Gesundheits-, Renten- und Sozialsysteme müssten unter dem Druck der Einwanderung zusammenbrechen.

Doch damit wird nur vertuscht, wer eigentlich „der Steuerzahler“ ist. Die Hauptlast des Steueraufkommens in Deutschland wird eben nicht durch „die Deutschen“ getragen, sondern durch die arbeitenden Klassen – auch die migrantischen ArbeiterInnen, die dem deutschen Staat in der Bilanz mehr Einnahmen als Ausgaben bringen. Dieser Sachverhalt, dass die Lohnabhängigen und nicht die Kapitalisten für unsere, von ihnen gemachte Arbeitslosigkeit oder Krankheit aufkommen, ist durchaus ein Problem. Bei all dem Gejammer um die angeblich fehlenden Steuermittel geht dann auch schnell unter, dass Kapital und Reichtum seit Jahren immer stärker steuerlich entlastet wurden – von Steuerflucht und -betrug ganz zu schweigen.

Die Androhung der Herrschenden, die Sozialsysteme bei steigender Zuwanderung weiter unter Beschuss zu nehmen, sollte daher nicht zur Spaltung der Arbeiterklasse und der Gewerkschaftsbewegung führen, sondern zum gemeinsamen Gegenschlag gegen die Rassisten aus Regierung und Kapital. Das wird aber nur möglich sein, wenn sich auch in den Gewerkschaften eine Opposition gegen die Bürokratie und ihre reformistische Politik formiert. Wir brauchen dringend eine klassenkämpferische Basisopposition, die zusammen mit der Gewerkschaftslinken, aber auch über ihr aktuelles Spektrum hinaus, zu wirken beginnt.
Auch die antikapitalistischen und sich als revolutionär verstehenden Organisationen müssen eine ernsthafte Debatte über gemeinsame Aktionen gegen den erneut erstarkenden Rassismus, der sich im Bezug auf die Flüchtlingsbewegung am deutlichsten zeigt, und die Krise in der EU führen. In einer solchen Debatte müsste auch die Frage einer neuen revolutionären Arbeiterpartei diskutiert werden, ohne dabei die bestehenden Differenzen zu verwischen. Der Prozess für eine Neue antikapitalistische Organisation (NaO) ist ein erster Ansatz dazu, und wir laden all jene, die gegen Rassismus, Krise und Kapital kämpfen wollen, dazu ein, sich daran zu beteiligen.

Forderungen

Wir schlagen folgende Punkte für den gemeinsamen Kampf vor:

– Volle Staatsbürgerrechte inkl. des passiven und aktiven Wahlrechts für alle, die in Deutschland leben! Weg mit allen „Ausländergesetzen“ und Einschränkungen für MigrantInnen!
– Schluss mit jeder offenen oder versteckten Diskriminierung von MigrantInnen bei Einstellungen, Wohnungssuche usw.! Für Kontrollausschüsse von MigrantInnen und Arbeiterorganisationen gegen diese Diskriminierung!
– Für das Recht aller MigrantInnen auf Verwendung ihrer Muttersprache bei allen Behörden, Ämtern und in Verträgen! Für mehr Zweitsprachen-Unterricht in Sprachen, die von MigrantInnen am Ort gesprochen werden! Für die verstärkte Einstellung migrantischer LehrerInnen! Kostenloser Deutschunterricht für alle MigrantInnen, insbesondere im Vorschulbereich!
– Volles Asylrecht für alle Flüchtlinge! Weg mit dem Asyl- und Ausländergesetz von 1993! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen! Weg mit den Abkommen von Schengen und Trevi!
– Gemeinsamer Kampf der ArbeiterInnen aller Nationalitäten! Kein Platz für rassistische Positionen in den Gewerkschaften! Keine Rassisten in Gewerkschaftsfunktionen, in Betriebs- und Personalräten!
– Legalisierung aller MigrantInnen. Enteignung aller Unternehmen, die MigrantInnen entrechten, ihnen Lohn und Einkommen vorenthalten. Unbefristete, tariflich gesicherte Arbeitsplätze für alle, die hier arbeiten. Sofortige Angleichung der Löhne, Arbeitszeit- und Arbeitsbedingungen für alle MigrantInnen! Mindestlohn von 12 Euro netto für alle!
– Statt Standortkonkurrenz: Europaweiter Kampf gegen Rassismus und koordinierte gewerkschaftlicher Kampf für Arbeitszeitverkürzung, Anhebung aller Sozialleistung und Transferzahlungen an das höchste Niveau, Einführung von Mindestlöhnen, deren Höhe von der Arbeiterbewegung festgelegt wird.

Der Artikel wurde ursprünglich  in der Zeitschrift „Neue Internationale“ („Arbeitermacht“)