Ghayath Naisse: SYRIEN – Kritische Bemerkungen zu der Opposition (inprekorr)

 

Bei revolutionären Bewegungen ist häufig ein Abstand zwischen den aufständischen Massen und den Parteien zu beobachten, die behaupten, in de­ren Namen zu sprechen. Aber der Graben ist selten so breit gewesen wie in Syrien, wo die beiden großen Bünd­nisse, die vorgeben, sie repräsen­tierten die Revolution, sich in einem Fall durch eine Unterordnung unter die westlichen Imperialismen und ih­re Verbündeten am Golf auszeichnen, im anderen Fall durch ihre versöhnle­rischen Positionen gegenüber dem Re­gime. Das steht im Gegensatz zu den Bestrebungen des syrischen Volks, das ebenso entschlossen ist, seine radika­len demokratischen Ziele durchzuset­zen, wie seine nationale Unabhängig­keit zu verteidigen.

DER SYRISCHE NATIONALRAT

Im März diesen Jahres hat in Istanbul die zweite Versammlung der Gruppe der „Freunde Syriens” stattgefunden, an der Repräsentantinnen von 83 Län­dern teilgenommen haben; diese Ver­sammlung hat den Syrischen Natio­nalrat als „Repräsentanten aller Syrer” und „Hauptbestandteil” der syrischen Opposition anerkannt. Diese Erklä­rung ist zwar nicht so weit gegangen wie die Behauptungen des National­rats, der sich als „einzigen und legiti­men Repräsentanten des Volks und der Republik” ausgibt, sie benennt dennoch die klare und offene Unterstüt­zung der vertretenen Regierungen, vor allem der USA, Europas und Saudi-Arabiens, von Katar und der Türkei, seiner Paten, die ihm politische, finan­zielle und Medienhilfe leisten.

Die Bildung des Syrischen Nati­onalrats, die am 2. Oktober 2011 in Istanbul bekannt gegeben wurde, hat ein gewisses Echo innerhalb der sy­rischen Opposition gefunden, der es an einem politischen Ausdruck ge­fehlt hatte. Aber der Nationalrat hat aufgrund seiner nicht-demokratischen Organisation, der Zögerlichkeit in sei­nen Erklärungen, seiner opportunisti­schen Positionen in Bezug auf die Re­spektierung des Willens des syrischen Volks, seiner erklärten Feindselig­keit gegenüber der Achse Iran–Hes­bollah zugunsten von Saudi-Arabien, Katar und der Türkei, seiner Zurück­haltung in der Frage des Golans (er hat zu „seiner Rückgabe mittels Ver­handlungen aufgrund der internatio­nalen Legitimität” aufgerufen), kon­fusen Positionen einer ganzen Rei­he von führenden Mitgliedern – wie etwa den lobenden Erklärungen sei­nes Sprechers Bassma Kodmani ge­genüber Israel – seinen Kredit bei den Massen rasch verspielt.

Die Illusionen des Syrischen Nati­onalrats in Bezug auf eine unmittelbar anstehende ausländische Intervention und seine organische Unterwerfung unter die politische Agenda der Paten-Staaten, zu dem politische Meinungs­verschiedenheiten und Finanzskanda­le hinzukommen, haben am Ende den Rest von Glaubwürdigkeit in den Au-gen der Demonstrierenden beseitigt. Seine Verbindungen in das Landesin­nere beschränken sich auf eine be­grenzte Zahl von Gruppierungen, im Wesentlichen die Freie Syrische Ar­mee.

In einem Bericht von zwei euro­päischen Forschungszentren, der im Januar diesen Jahres erschienen ist, heißt es: „Der Syrische Nationalrat, der in Syrien wenig Gewicht und we­nige Wurzeln, wenige aktive Anhän­ger, keinerlei internen Rückhalt hat, wird von Katar, Saudi-Arabien und den westlichen Staaten und ihren Me­dien unterstützt und finanziert. Hauptziel dieser Unterstützung ist es, eine eventuelle Intervention in Syrien zu legitimieren, die der Syrische Natio­nalrat herbeisehnt.”

Das Gründungskommunique des Syrischen Nationalrats ließ bereits einen Widerspruch zwischen zwei Grundsätzen zutage treten, näm­lich der Ablehnung „jeglicher militä­rischen Intervention, durch die die na­tionale Souveränität angetastet wird”, und der Forderung nach „internatio­nalem Schutz der Zivilisten” in Form von humanitären Korridoren oder Sicherheits- und Pufferzonen. In sämt­lichen Kommuniques wird zu aus­ländischen militärischen Interventi­onen aufgerufen, so in der an den Si­cherheitsrat gerichteten Aufforderung von Mitte April zu „einer Intervention nach Artikel 7” und in dem Kommunique vom 21. April, in dem eine „ent­scheidende militärische Intervention” verlangt wird.

Der Syrische Nationalrat hat vor kurzem eine ernsthafte Krise durch-gemacht, als es nicht gelang, nach dem Rücktritt von Boran Ghalioun ei­nen Präsidenten zu benennen, und als aus diesem Anlass die Kulissenkämp­fe zwischen den Islamisten mit der Or­ganisation der Moslembrüder an der Spitze und denen, die sich zu den lai­zistischen Kräften rechnen oder ihnen nahe stehen, zu Tage getreten sind. Hinzu kommt, dass in den letzten Mo­naten eine ganze Reihe von Mitglie­dern aus unterschiedlichen Gründen aus dem Rat ausgeschieden ist.

Die Lokalen Koordinationskomi­tees haben ebenfalls gedroht, sich zu­rückzuziehen oder zumindest ihre Zu­gehörigkeit auf Eis zu legen, sofern es keine Korrektur der begangenen Fehler und eine Befassung mit ihren we­sentlichen Forderungen nach Reform des Rats gibt. Sie waren der Auffas­sung, dass er sich nach der Versamm­lung in Rom, auf der es zu einer extremen Verschärfung der Meinungs­verschiedenheiten gekommen war, in permanentem Niedergang befand. Es fehle „ein Konsens zwischen dem Rat und der revolutionären Bewegung über ein gemeinsames Projekt”; offenbar haben die Repräsentantinnen der Lokalen Koordinationskomitees wie Khalil Elhadsch Salah, Husan Ibrahim und Rima Filihane in den vergangenen Monaten als Zeichen ihres Protests gegen die Marginalisierung der revolutionären Bewegung die Sitzungen des Nationalrats boykottiert. Der Sy­rische Nationalrat reduziert sich immer mehr auf ein Büro für „Public Re­lations” und Finanzen, eine Geisel der Paten der genannten Staaten.

 

DAS KOORDINATIONSKOMITEE FÜR DEMOKRATISCHEN WAN­DEL

Die andere bekannte politische Kraft der Opposition, das Koordinationsko­mitee für Demokratischen Wandel, ist am 26. Juni 2011 entstanden und fasst die Kräfte der traditionellen Oppositi­on, Reste der linken und nationalisti­schen Parteien (Nationale Demokrati­sche Sammlung, Sammlung der Mar­xistischen Linken) und einige islamis­tische und liberale Persönlichkeiten zusammen. Bereits in den ersten Mo­naten ist das Komitee mit Ausnahme von einigen jungen Kadern der (nas­seristischen) Partei der Sozialistischen Union in seinen Beziehungen zur Re­volution gestrauchelt. Auch Mitglie­der anderer Parteien nehmen in ihrem eigenen Namen an dem Komitee teil. Es handelt sich um traditionelle Poli­tiker, die beileibe nicht verstehen, was vor sich geht, nämlich eine Revoluti­on, und die unfähig sind, den Puls der revolutionären Bewegung zu fühlen, an die sie sich mit Verachtung und von oben herab wenden.

Das Koordinationskomitee für De­mokratischen Wandel zeichnet sich durch seine inkonsequenten Positi­onen aus, denn während es zur Be­seitigung des „Sicherheits- und auto­ritären Regimes” und zur „Verände­rung des Regimes” aufruft, erklärt es sich offen zum Dialog mit dem Re­gime. Seine führenden Mitglieder, die behaupten, sie repräsentierten den „schweigenden Block”, haben sich zu Erklärungen hinreißen lassen, durch die die Aufstandsbewegung und die Revolutionärinnen beleidigt wurden. Das Koordinationskomitee für Demo­kratischen Wandel hat eine Reihe von Positionen bezogen, die im Wesent­lichen auf diplomatisches Handeln in Richtung der mit dem Regime verbün­deten Staaten setzen — Russland, Chi­na und Iran. Es hat auf eine arabische Initiative und lange auf die von Kofi Annan gesetzt.

Viele Mitglieder sind unter Protest gegen die Monopolisierung der Lei­tung durch eine kleine Gruppe aus-geschieden. Es sind politische Kräfte, die von dem Regime weiterhin als eine „nationale Opposition” betrachtet werden und die zum Dialog mit die­sem aufrufen. Wenn das Koordinati­onskomitee nicht für eine relative „Si­cherheit” von vielen politisch Aktiven in Syrien sorgte, wäre eine noch be­deutendere Anzahl ausgetreten.

Eine weitere in Syrien präsente Struktur ist die Strömung zum Aufbau des Syrischen Staats von Louay Hos­sein, die erklärt, ihr gehe es nicht um die Machtfrage, sondern um einen po­litischen Dialog mit dem Regime zu festgelegten Bedingungen, nahe an den Thesen des Koordinationskomi­tees für Demokratischen Wandel.

Schließlich versteht sich noch die Front für Veränderung und Befreiung als oppositionell. Es setzt sich aus der Partei Volkswillen (einer neuen Be­zeichnung der Partei von Kadri Ja­mil), der Einheit der Kommunisten (einer Abspaltung von der Syrischen Kommunistischen Partei) und einer der Fraktionen der Syrischen Natio­nalen Sozialen Partei unter Führung von Ali Haider zusammen, wobei die beiden zuletzt genannten den Macht-habenden nahe stehen. Aufgrund der Positionen ihrer Führungen zur Revo­lution sind viele Kader dieser Parteien aus ihnen ausgetreten, vor allem Jün­gere, um sich der revolutionären Be­wegung anzuschließen.

Seit Februar versuchen Aktive, die aus ihren Erfahrungen im Koordinati­onskomitee oder anderen Strukturen Schlussfolgerungen ziehen oder die dort keinen Platz gefunden hatten, ei-ne Organisation zu schaffen: das Sy­rische Demokratische Forum. Es hat vom 13. bis 16. April in Kairo sei-ne erste Versammlung abgehalten. Es versteht sich als Raum für Diskussion und Dialog, als eine Brücke zur Ver­einigung der Opposition für Aktivi­täten zur „Versöhnung” und zur „Re­flexion”. Von dieser Versammlung ist nichts ausgegangen, was das Forum von den anderen Kräften der Opposi­tion abheben würde, und seine Initia­torinnen sind vom selben Schlag wie die Führungen des Koordinationsko­mitees oder des Nationalrats.

 

AUSDRUCKSFORMEN DER RE­VOLUTIONÄREN BEWEGUNG

Die syrische Revolution ist am 15.März 2011 spontan ausgebrochen. Der Brand hat sich auf das gesam­te Land ausgeweitet, die jungen Re­volutionärinnen sahen sich gezwun­gen, Organisationsformen für die Pro­testbewegungen und zur Bewältigung der Probleme der Information und der Aktivitäten zu schaffen. Sie haben auf der Ebene von Stadtteilen, Städten und Regionen „Koordinationen” eingerichtet. Diese Koordinationen ha­ben Agitation, Information und Hilfe­leistungen übernommen, doch wenige nehmen sich all dieser Aufgaben zugleich an.

Das Fehlen von organisierten poli­tischen Kräften vor Ort hat zum erup­tiven Entstehen dieser Koordinationen geführt, so dass es schwierig bzw. un­möglich ist, deren Zahl, ihren Umfang und die jeweilige Rolle zuverläs­sig einzuschätzen. Es lässt sich jedoch sagen, dass es territoriale Koordinati­onen, deren Zahl nicht veröffentlicht worden ist, und andere gibt, deren Ak­tivitäten sich um Information und Me­dien drehen und die bekannt sind. In den letzten Monaten haben sich we­gen der Verschlechterung der huma­nitären Situation Komitees oder Ko­ordinationen für humanitäre Hilfe ge­bildet.

Einige Monate nach Beginn der Re­volution gab es Versuche zur Zusam­menfassung der Koordinationen, Anfang Juni 2011 wurde die Bildung der „Union der Koordinationen der syrischen Revolution” mit einem Korn­munique bekannt gegeben. Sie hat vor, die zivile Bewegung politisch und in den Medien zu repräsentieren, und die Aktivitäten in den Bereichen zu ko­ordinieren und zu vereinigen. Sie hat zum Ziel, die Basis für einen Rat der Jugend und der Aktivistinnen der Re­volution zu bilden, um deren Ziele und deren vollständige Verwirklichung zu sorgen. Das Komitee der Union umfasst örtliche Koordinationen aus al­len Regionen, Städten und Stadtteilen. Sein Diskurs zeichnet sich durch eine islamische Färbung ab, ohne dass dies seine politische Zugehörigkeit zu den Moslembrüdern oder den salafistischen Strömungen bedeuten würde.

Weiter haben sich die Lokalen Ko­ordinationskomitees gebildet. In ih­rem Kommunique vom 29. August 2011 lehnen sie die Militarisierung der Revolution ab und gehen auf die

Gefahren ein, die sie für den revolu­tionären Kampf der Massen bedeu­ten würde. Diese Komitees sind dem Syrischen Koordinationsrat beige-treten und gehören zu dessen Gründungsmitgliedern. Sie haben hierzu in einem Kommunique vom 20. Septem­ber 2011 präzisiert, dass sie das „trotz der Bemerkungen über die Aktivität des Rats, die Art und Weise seiner Bil­dung und der Repräsentation der Kräf­te in ihm” täten.

Die Lokalen Koordinationsko­mitees zeichnen sich auch durch ih­re Einschätzung der internationalen Intervention und von internationa­lem Schutz aus. In ihrem Kommuni­que vom 2. November 2011 erklären sie: „Wir treten unter diesen ganz be­sonderen Bedingungen für das Recht des syrischen Volks ein, sein Recht auf Entscheidung über sein Geschick gegenüber der internationalen Ge­meinschaft zu behaupten. Wir sind der Auffassung, dass die Aufrufe, die auf der Grundlage des ,Rechts auf Einmischung`, der ,Pflicht zur Ein­mischung‘, der ,humanitären Einmi­schung‘ oder auch der ,Verantwortung für den Schutz` stattfinden, den Bestrebungen des syrischen Volks nach einer friedlichen Veränderung aus sei­nen eigenen Kräften nicht zuwiderlau­fen und das syrische Volk nicht frem­den Einflüssen im Spiel der Nationen ausliefern dürfen. (…) Das syrische Volk will die Unterdrückung nicht durch Unterordnung unter einen aus­ländischen Einfluss ersetzt haben. Das syrische Volk hat seine Unabhängig­keit erkämpft und seinen modernen Staat gegründet. Es hat die Ambition, sein gesamtes Territorium zu befreien, in erster Linie den Golan, und seine Unterstützung für den Kampf der Völker für die Bestimmung über ihr Geschick, in erster Linie für die Rech­te des palästinensischen Volks, fortzu­setzen. Das syrische Volk, das sich ge­gen seine Unterdrücker erhebt, wird die Revolution nicht für die Formen ausländischer Beherrschung aufge­ben.”

Trotz der Besonderheiten der Posi­tion der Lokalen Koordinationskomi­tees betrachten sie den Syrischen Na­tionalrat noch als ein politisches Vehi­kel, das ihre Positionen zum Ausdruck bringt, obwohl sie gelegentlich dazu völlig im Widerspruch stehen. Ihre Aktivitäten bestehen im Wesentlichen in Medienarbeit, abgesehen von be­stimmten Koordinationen vor Ort.

Am 18. August 2011 ist bei einem Treffen in Istanbul die Generalkom­mission der Syrischen Revolution ent­standen, in einem Klima zahlreicher Kongresse der Opposition im Aus­land. Sie umfasst ihrer Gründungsmit­teilung zufolge 40 Koordinationen, die Facebook-Seiten der syrischen Re­volution und Mediennetze. Ein Dis­kurs mit islamischen Begrifflichkeiten dominiert in den letzten Monaten den Ton ihrer Kommuniques und ihrer Medienaktivitäten.

Auf der Ebene der Aktion sind diese Koordinationen nicht die wich­tigsten. Es gibt zahlreiche territoriale Koordinationen in den Städten, wäh­rend Komitees in Ortschaften und Dörfern sich Koordinationen nennen. Darin befinden sich Aktivistinnen un­terschiedlicher politischer Zugehörig­keit oder ohne festgelegte politische Linie. Ihr wesentliches Ziel ist der ge­meinsame Kampf zur Beseitigung des Regimes, doch bleiben ihr örtlicher Charakter und ihre Zersplitterung ei-ne der Schwächen der revolutionären Bewegung.

Erwähnt seien noch das Nationale Treffen der Kräfte und der Koordina­tionen der Revolution, das im Wesent­lichen eine bedeutende Anzahl von Aktivistinnen in drei Regionen (Ha­ma, Deraa und Dir Ezzor) umfasst; die Freien der Revolution der Würde, eine Zusammenfassung von Koordina­tionen, die in Damaskus und seinen Vororten aktiv sind; die Sammlung NABDH für die zivile Jugend, die in Homs und auf dem Land in dieser Re­gion sowie in Damaskus und seinen Vororten aktiv ist. Ferner gibt es die am 13. Februar 2012 gebildete Koali­tion Watan, die zahlreiche aktive Ko­mitees umfasst, der es jedoch noch nicht gelungen ist, ihrer Stimme Gel­tung zu verschaffen. Sie ist dem Druck von zahlreichen Seiten ausgesetzt: wie zu erwarten der Sicherheitsapparate, aber auch des Koordinationskomitees für Demokratischen Wandel, des Sy­rischen Nationalrats, des Demokrati­schen Forums, jeweils mit eigenen po­litischen Zielen.

Die Koalition Watan, die jetzt 17 Gruppierungen umfasst, könnte zum Ausgangspunkt für den Aufbau einer alternativen revolutionären Massenführung werden, zumal sich in ihren Reihen mehrere linke Gruppen befinden. Es sollte darauf hingearbeitet werden , diejenigen die sich noch außerhalb befinden, zu integrieren, beispielweise die Koordinationen der syrischen Kommunisten, zu der außerordentlich enthusiastische Jugendliche gehören, und die Gruppe Linke Perspektiven.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Wüten des diktatorischen Re­gimes, die zunehmende Zahl der De­serteure parallel zu der Tendenz zur Militarisierung und Bewaffnung als Mittel zur Selbstverteidigung zahlreiche Koordinationen zu einer Ver­mengung ihrer auf den nicht-be­waffneten Massenkampf orientierten Mehrheit und Minderheitsgruppen, die bewaffneten Aktionen zuneigen, veranlasst.

Ein notorisches Problem innerhalb der revolutionären Bewegung ist das des Syrischen Nationalrats, insbeson­dere seines hegemonialen Bestandteils, der Moslembrüder. Sie erlangen — wenn auch begrenzt — bei den Ak­tiven Sympathie, weil sie ihnen Hil­fe, Schutz, finanzielle Unterstützung bieten, da ihnen das finanzielle Manna zugutekommt, das aus ihren Patenlän­dern stammt. Aber weder der Syrische Nationalrat noch die Moslembrüder können machen, was sie wollen, denn wenige Aktive akzeptieren an Bedin­gungen geknüpfte Hilfeleistungen: Die Revolutionärinnen haben sich von dem Hinterherlaufen freigemacht, sie betrachten Hilfe als eine Pflicht, nicht als ein Gunsterweisen.

DIE LAGE IN DEN KURDISCHEN GEBIETEN

Während die Revolte des kurdischen Volkes im März 2004 die kurdische Frage ins Zentrum der Kämpfe in Syrien gerückt hatte, hat die Mehrzahl der syrischen Oppositionskräfte deren Bedeutung erst spät verstanden. Die Position der Mehrzahl dieser Kräfte war in der Tat schändlich und hat Spu­ren hinterlassen. Die kurdischen Kräf­te haben sich isoliert und alleingelas­sen gefühlt. Ihr Misstrauen ist legitim, insofern die Positionen gegenüber den Kurden weiterhin verworren und wi­dersprüchlich sind.

Das hat mehrere kurdische Par­teien dazu veranlasst, sich im Okto­ber 2011 aus dem Koordinationsko­mitee für Demokratischen Wandel zu­rückzuziehen, um den Kurdischen Nationalrat zu bilden. Ebenso sind die hauptsächlichen kurdischen Bestandteile nach der Versammlung des Sy­rischen Nationalrats vom 26. und 27. März 2012 in Istanbul, die unter dem Motto „Vereinigung der syrischen Opposition” stattfand, ausgetreten. Nach der Veröffentlichung des „natio­nalen Dokuments zur kurdischen Fra­ge” durch den Syrischen Nationalrat ist die Mehrheit der Kräfte des kur­dischen nationalen Blocks in ihn zurückgekehrt.

Im Kurdischen Nationalrat ist jetzt die Mehrheit der kurdischen politischen Kräfte und Koordinationen zu­sammengefasst, mit Ausnahme der Partei der Demokratischen Union (PYD), des syrischen Zweigs der Ar­beiterpartei Kurdistans (PKK) unter Leitung des in der Türkei gefange­nen Abdullah Ocalan. Die PYD gehört dem Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel an. Dem Kur­dischen Nationalrat gehört auch die Unabhängige Kurdische Strömung an, die 2005 von Michel Tempo gegrün­det wurde, einer bedeutenden Persön­lichkeit, die am 7. Oktober 2011 ermordet worden ist. Diese Partei ver­tritt entschiedene Positionen zu dem diktatorischen Regime und ist zu dessen Sturz entschlossen.

Die kurdische Jugend hat von Anfang an mit großer Begeisterung an den Protesten teilgenommen, und sie tut das weiter. Wie in den anderen Re­gionen Syriens hat sie ihre Koordina­tionen gebildet, die vor Ort aktiv sind. In der Mehrzahl haben sie sich dem Kurdischen Nationalrat angeschlos­sen.

Mit Ausnahme der Region Afarin, wo die PYD eine hegemoniale Stel­lung hat und in der es relativ ruhig ist, sind die kurdischen Regionen in Auf­ruhr. Sie befinden sich auf einer Linie mit der allgemeinen Dynamik, wäh­rend es zugleich eine nationale Beson­derheit gibt. So haben die Demons­trationen im März diesen Jahres unter dem Motto „kurdische Rechte” stattgefunden, um die ablehnende Haltung des kurdischen Volks gegenüber den Positionen des syrischen Nationalrats und der übrigen arabischen Oppositi­on zur kurdischen Frage deutlich werden zu lassen.

Die kurdischen Kräfte insgesamt fordern das Recht des kurdischen Volks, selbst über ihr Schicksal in einem „nicht zentralisierten Staat” zu bestimmen, die verfassungsmäßige Anerkennung der nationalen Rech­te des kurdischen Volks (der zweitgrößten Nationalität des Landes), die Ablehnung der Ungerechtigkeiten und die Abschaffung aller Gesetze und Maßnahmen, die ihre Rechte be­schneiden. Ein Aufruf zur Sezession ist nicht zu vernehmen.

Die PYD hat seitens des Regimes eine besondere Behandlung erfahren: Sie sollte „Kröten schlucken”. Der Grund dafür ist ihre Feindseligkeitgegenüber der türkischen Regierung, die für die syrischen Machthaber eine Bedrohung darstellt. Die PYD baut in den Regionen, in denen sie prä­sent oder einflussreich ist, eine „de­mokratische Selbstverwaltung” auf. Die Kräfte des Kurdischen National­rats haben ebenfalls „lokale Räte” ge­schaffen.

Die PYD zeichnet sich durch die Disziplin ihrer Mitglieder und die Här­te gegenüber Abtrünnigen und Kon­kurrenten sowie dadurch aus, dass die Mutterpartei in der Türkei über bewaff­nete Kräfte verfügt, die eine Verlänge­rung nach Syrien haben. Die Furcht vor einer Eskalation der Kämpfe mit den Kräften des Kurdischen Nationalrats hat dazu geführt, dass am 3. März 2012 ein Dokument der „gegenseitigen Ver­ständigung” angenommen worden ist, dessen Ziel es ist, innerkurdische Bru­derkämpfe zu vermeiden.

Eine Strategie für Syrien kann ei­ner klaren Antwort auf die kurdische nationale Frage nicht ausweichen, ei­ner Antwort, die dazu geeignet ist, Vertrauen zwischen dem kurdischen Volk sowie seinen politischen Kräf­ten (die unter denselben Problemen wie die arabische Opposition zu lei­den haben, wobei sie sich von ihnen dadurch unterscheiden, dass sie in der Mehrheit nicht-religiös sind) und den Kräften der Revolution sowie den ara­bischen aufständischen Massen zu schaffen, um die Kämpfe zum Sturz des Regimes und zum Aufbau eines freien, demokratischen und laizis­tischen Syrien zu vereinigen, dessen Bürgerinnen alle gleich wären, unab­hängig von ihrer ethnischen, religi­ösen oder sexuellen Orientierung.

Marginalisierte und verarmte kur­dische Regionen werden sich nur dann in gemeinsame politische und soziale Kämpfe begeben, wenn die arabischen Kräfte eine klare revolutionäre Positi­on zur kurdischen nationalen Frage beziehen. Wir werden die Abtrennung des kurdischen Volkes in Syrien nicht ermutigen, denn wir sind der Auffas­sung, dass dies unter den gegenwär­tigen Bedingungen für den gemein­samen Kampf der Volksschichten ge­gen ihre Bourgeoisien schädlich wäre, sämtliche Nationalitäten zusammengenommen. Dies würde den Kampf gegen die Diktatur und unseren ge­meinsamen Kampf für soziale Ge­rechtigkeit schwächen und das Land in einen katastrophalen Bürgerkrieg stürzen. Dies würde die kurdischen Volksmassen nationalen Führungen unterordnen, die den arabischen Füh­rungen in nichts nachstehen.

Unsere prinzipielle Position geht aus von dem gemeinsamen kurdisch-arabischen Interesse im Kampf gegen das despotische Regime, der Anerken­nung der nationalen Unterdrückung seitens aller arabischen Regierungen in Syrien, unter der das kurdische Volk leidet, dem Ende dieser Ungerechtig­keiten und der völligen Gleichheit al­ler syrischen Bürgerinnen gleich wel­cher nationalen, ethnischen, religi­ösen Zugehörig oder sexuellen Orien­tierung, der verfassungsmäßigen An­erkennung der nationalen Rechte des kurdischen Volks in Syrien — also von dem Recht auf Selbstbestimmung und auf Sezession, auch wenn wir unsere kurdische Bevölkerung darum bitten, integrierter Bestandteil der Bevölke­rung Syriens zu bleiben.

Nur wenn wir von dieser Positi­on ausgehen, werden wir den gemein­samen Kampf aller nationalen Teile der syrischen Massen zum Sturz des unterdrückerischen Regimes stärken und Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit verwirklichen können.

 

EINE REVOLUTIONÄRE MAS­SENFÜHRUNG AUFBAUEN

Die Stärke einer revolutionären Be­wegung liegt, ganz allgemein gespro­chen, in den arbeitenden und verar­mten Klassen sowie in der Jugend. Der einzige gesellschaftliche Bereich, der sich bis jetzt massiv erhoben hat, sind die Studierenden, die in der Mehrheit von Arbeitern oder der Mit­telschicht abstammen und die unter diesen Bedingungen die „Intellektu­ellen” dieser Klassen repräsentieren. Bislang ist die Arbeiterklasse als sol­che nicht in Erscheinung getreten. Eine Ausnahme ist der Protest der Mit­tel- und unteren Klassen in den Ge­werkschaften, die von den Apparaten der Staatsmacht beherrscht werden, für die Autonomie der Gewerkschaf­ten im Verhältnis zum Staat, die An­hebung der Löhne, bessere Arbeitsbe­dingungen und gegen Entlassungen. (Im vergangenen Jahr wurden über 100 000 Beschäftigte entlassen, die Behörden haben über 180 Werke ge­schlossen.) Trotz der Verbindungen zwischen Staatsmacht und Bürokra­tie ist die Generalunion der Arbeitenden seit 2006 von dem Aufbegehren betroffen, und mit der in Gang befind­lichen Revolution nimmt diese Ten­denz zu.

Keine politische Kraft der Oppo­sition kümmert sich um Aktivitäten in der syrischen Arbeiterklasse, deren Zahl nahe bei zwei Millionen liegt. Es schlägt auch keine ein Programm vor, das deren Interessen und Forderungen aufgreifen würde, ruft zu ihrer Unab­hängigkeit vom Staat oder zum Aufbau von autonomen Gewerkschaften auf. Nicht zu vergessen sind die Mar­ginalisierung und die Beschlagnahme von Ländereien, von der die Arbeitenden in den ländlichen Gegenden in den letzten Jahren betroffen gewesen sind, sowie die Notwendigkeit eines neuen Entwicklungsprogramms, mit dem die Kleinbauern ihre Rechte und die di­rekte Verwaltung ihrer Angelegenhei­ten mit Staatlicher Hilfe erhalten.

Die syrische Gesellschaft ist plu­rinational und multikonfessionell. Es wird unmöglich sein, breite Sek­toren, vor allem die Mittelschichten, die in den beiden Großstädten Damas­kus und Aleppo leben, zu überzeu­gen, ohne dass ein Programm aufge­stellt wird, in dem die Rechte der na­tionalen Minderheiten und die Laizi­tät des Staats anerkannt werden. Diese Laizität, die auf den Ruinen des ge­genwärtigen Regimes errichtet wird, bedeutet keineswegs Feindseligkeit gegenüber den Religionen, jedoch Trennung von Religion und Staat so-wie die Anerkennung der Rechte der Frauen, ihre Gleichheit mit den Män­nern, die Gleichheit aller Bürgerinnen in Bezug auf Rechte und Pflichten, un­abhängig von ethnischer, nationaler, religiöser Zugehörigkeit oder sexuel­ler Orientierung.

Das aufständische syrische Volk wird sorgsam über seine Unabhängig­keit wachen, es wird alle Versuche ablehnen, sie zu beschneiden, sei es sei­tens der bestehenden Macht oder der ausländischen Mächte. Ihm liegt daran, dass es die geraubten Ländereien zurückerhält, wie auch an dem Kampf des palästinensischen Volks für all seine historischen Rechte.

Während des Spanischen Bürger­kriegs der 1930er Jahre vertrat Trotzki die Auffassung: „Die dringende Auf­gabe der spanischen Kommunisten ist nicht (nur) der Kampf für die Er­oberung der Macht, sondern auch der Kampf um die Massen.” In Syrien müssen die linken (und radikalen la­izistischen, demokratischen) Kräfte heute eine revolutionäre Allianz bil­den, um die Massen auf der Grund­lage ihres Programms zu gewinnen, über das direkte Engagement in der revolutionären Bewegung und Hilfe für die revolutionären Massen bei dem Aufbau ihrer Selbstorganisations- und Selbstverwaltungskomitees in den Stadtteilen, Betrieben und Städten und bei dem Eintreten für ihre wirtschaft­lichen und sozialen Forderungen, im gegenwärtigen gewaltsamen Kampf für den Sturz des Regimes.

Sie sollten die Übergangslosung ei­ner provisorischen revolutionären Re­gierung aufstellen, die nach dem Sturz des Regimes im Rahme des demokra­tischen, revolutionären Übergangsprogramms, um das sich die breites­ten Schichten der aufständischen Mas­sen sammeln werden, zwei Aufgaben hat: den Sicherheitsstaat zu zerstören und die freie Wahl einer verfassung­gebenden Versammlung, die auf einer nicht-konfessionellen Proportionalität beruht.

Die Herausbildung solch einer re­volutionären Massenführung ist eine wesentliche Frage für die Zukunft des revolutionären Prozesses. Sie ist die Garantie für den Sturz des Re­gimes und die tieferen politischen und sozialen Änderungen über einen per­manenten revolutionären Prozess. Sie wird die Rückständigkeit des Massen­bewusstseins beenden, mit der man­che ihr Aufgeben eines solchen Pro­gramms rechtfertigen. Denn wie Trotzki geschrieben hat: „Wir solida­risieren uns nicht einen Augenblick lang mit den Illusionen der Massen, aber mit dem Fortschrittlichen, das sich hinter diesen Illusionen verbirgt, wir müssen das bis ans Ende nutzen, ansonsten wären wir keine Revolutio­näre, sondern elendige Pedanten.”

Die Abwartenden und Jamme­rer sollten also aufhören, sich zu be­schweren und Vorwände für ihr Des­interesse zu suchen, sie sollten den Platz räumen für den Kampf und Ak­tivitäten mit dem Ziel der Herausbil­dung dieser alternativen, revolutio­nären Massenführung.

1. Juni 2012

Dieser Artikel erschien zuerst auf Arabisch im Juni 2012 in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift Permanente Revolution. Er wurde von Luiza Toscane ins Französische übersetzt. Die gekürzte Fassung, die der vorliegenden Über­setzung ins Deutsche zugrunde liegt, erschien in Tout est ä nous! La revue, Nr. 35, Septem­ber 2012.

Übersetzung: Friedrich Dorn

INPREKORR 6/2012            13