Saul Friedländer -Autor bedeutender Werke über den Holocaust- hat eine Studie zu Franz Kafka, den Schriftsteller, der ihn ein Leben lang faszinierte, verfaßt. Das Buch ist interessant und wichtig, weil es Persönlichkeitsstrukturen Kafkas behandelt, die maßgeblich sein literarisches Schaffen bestimmten.
Kafka hatte gelinde gesagt ein gebrochenes Verhältnis zur Sexualität. Er war alles andere als der „Heilige“, als den ihn sein Freund Max Brod gerne hinstellte. Er „kultivierte“ den Konflikt mit seinem Vater, offen sichtlich hatte er etwas zu verbergen. Scham- und Schuldgefühle begleiten sein ganzes Leben.
Saul Friedländer geht den Ursachen dafür auf den Grund. „Kafka fürchtete den Geschlechtsverkehr mit seinen FreunhdInnen, er ekelte sich davor und betrachtete ihn als Strafe (so seine eigenen Worte)“ (S.23). Darüberhinaus entwickelte Kafka eine Vielzahl homoerotischer, pädophiler und sadomasochistischer Phantasien. Das ausführliche Schildern von Foltern kommt in seinen Schriften immer wieder vor.
Der Prager Jude Kafka war weder religiös noch Zionist. In seinen Interpretationen stützt sich Friedländer- meines Erachtens nach zu einseitig- auf Walter Benjamin: von der „klassisch-jüdischen Triade Offenbarung- Gesetz- Kommentar“ sind nur mehr Bruchstücke übergeblieben (S. 102 ff). Hoffnung scheint unmöglich. Nur mit Ironie- so Friedländer- kann Kafka durchhalten.
Ebenso einseitig verfährt Friedländer mit dem politischen Menschen Kafka. Seiner Ansicht nach hat er kaum/nicht existiert. Klaus Wagenbach- etwa in seiner Rororo- Monographie und Michael Löwy („Erlösung und Utopie“) haben die reale Faktenlage geschildert: Kafkas Sympathie mit dem Sozialismus/ Anarchismus.
Kein Zufall, daß sich Friedländer nicht der (gesellschaftlichen) Entfremdung stellt, die doch bei Kafka so eine entscheidende Rolle spielt. Gänzlich abstrakt spricht er nur vom „Bösen in der Welt“, das Kafka plagte (S.147). So überinterpretiert Friedländer auch die vorletzte Eintragung Kafkas in sein Tagebuch: die neuerliche Lektüre von Sören Kierkegaards „Entweder/0der“. Angesichts genereller Hoffnungslosigkeit verbleibt dem Schriftsteller- wie in seiner letzten Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“- nur die beschränkte Rolle „der Gemeinschaft eine zeitweilige Illusion zu verschaffen“ (S.232). Unverständlich wird so, wie Kafka zu einem Bezugspunkt für so viele gegen die Diktaturen in West und Ost werden konnte. Trotz dieser Einseitigkeiten ist das Buch von Friedländer spannend: es zeigt, daß auch (literarische ) Größen alles andere als „aus einem Guß“ sind. Hermann Dworczak Saul Friedländer FRANZ
KAFKA C.H. Beck, München 2012, 251 Seiten, 20,60 Euros