Hermann Dworczak: Henry Kissinger CHINA – Zwischen Tradition und Herausforderung (Rezension)

Kissingers Buch hält bei weitem nicht, was die New York Times verspricht: „faszinierund und scharfsichtig“ zu sein.
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In deutlicher Anspielung an Thomas von Aquin und seiner „summa“ sprechen die Verleger, daß Kissinger „jetzt die Summe seiner Gedanken und Erfahrungen mit dem ‚Reich der Mitte‘ vorlegt“. Realiter überrascht wie unmethodisch und oberflächlich der ehemalige Harvard- Professor für Politikwissenschaft, Sicherheitsberater und US-Außenminister vorgeht. Was vorliegt, ist eine ziemliche krude Mischung von facts , persönlichen Erinnerungen und insbesonders Diplomatie-Geschichte.
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Der „analytische Rahmen“, den Kissinger seinem Buch geht, ist denkbar einfach: er konstatiert die „Einzigartigkeit Chinas“ (S.19ff) und stellt das Land in eine „tausendjährige Tradition“. Was als Einzigartigkeit angesprochen wird, kann man /frau in jedem besseren Reiseführer nachlesen: die extrem starke Position des chinesischen Kaisers; die Rolle des Konfuzianismus; der Umgang mit den „Barbaren“; die Verweigerung des Kotaus durch den britischen Botschafter im 18.Jahrhundert, etc.
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Es fehlt jegliche ernsthafte Auseinandersetzung mit der ökonomischen Basis des Landes (egal ob man/frau mit Marx von „asiatischer Produktionsweise“ spricht oder nicht). Brüche in der historischen Entwicklung werden kaum erwähnt. Es ist bezeichnend, daß die langandauerende chinesische Revolution der 20er, 30er und 4Oer-Jahre (u.a. der legendäre „lange Marsch“) auf dreieinhalb Seiten behandelt wird(S. 102f)!
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Das Buch ist auf breiten Strecken rein personalistisch, oberfächlich psychologisierend, strukturelle Faktoren werden nur gestreift.
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Kein Wunder, daß bei dieser eklektischen „Methode“ Zentrales draußen bleibt bzw. offensichtliche logische Widersprüche produziert werden. Um nur einige Beispiele zu nennen:
– da heißt es richtig daß die siegreiche Revolution 1949 radikal mit der Vergangenheit brach, aber dann ist davon die Rede, daß Mao eine „neue Dynastie“(S. 107) schuf.
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– da wird die chinesische „Sozialimperialismus „-Theorie für die Charakterisierung der Sowjetunion für bare Münze genommen- dann jedoch analytisch folgenlos die Bestürzung der chinesischen Führung geschildert als die SU (und ihre Glacis-Staaten ) zusammenkrachten (S. 471f)
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Wichtige historische Vergleiche -eine der Basen jeder seriösen Analyse- fehlen. Stalin und seine Gefolgschaft hatten bekanntlich panische Angst vor jeder autonomen Revolution: in Spanien, in Jugoslawien und eben in China.
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Natürlich erfährt man/ frau bei der Lektüre des Buches von Kissinger einiges: diverse Insider- Infos; wie konkret die „Annäherung“ Chinas und der USA in den 70er-Jahren über die Bühne ging; die dievielschichtige Charakterstruktur von Mao etc. Gemessen an den Ansprüchen und dem Umfang des Buches (600 Seiten) ist das jedoch herzlich wenig.
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Dennoch sollte es kritisch gelesen werden. Denn der Metternich- und Bismarck-Bewunderer Kissinger vermittelt über seine seichten historischen Exegesen hinaus unverblümt eine Botschaft: China möge noch mehr den „Weg der Marktwirtschaft“ beschreiten und mit dem US-Imperialismus im Rahmen einer „Pazifischen Gemeinschaft“ zusammenarbeiten- „Ko-evolution“(S.54Off) heißt das bei ihm.
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Ich hatte in den letzten Jahren die Gelegenheit, dreimal China unmittelbar kennenzulernen und kann aus Erfahrung sagen, daß derlei Signale von den MarktfanatikerInnen außerhalb und innerhalb der KP Chinas nur allzu gern gehört werden. Darum reicht es nicht aus, den mangelnden Tiefgang des Buches festzuhalten, sondern es bedarf – im Intersse der Wahrung der Errungenschaften der chinesischen Revolution – einer Fundamentalkritik seiner politischen Implikationen.
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Hermann Dworczak
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Herry Kissinger CHINA- Zwischen Tradition und Herausforderung
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C. Bertelsmann Verlag München , 2011. 606 Seiten