DAS ZEITALTER DES DOKTOR ARTHUR SCHNITZLER
Da Schnitzler- wie Freud- tiefe Einblicke in die menschliche Psyche gibt („Die Seele ist ein weites Land“), habe ich mir wiedereinmal seine „Traumnovelle“ zu Gemüte geführt. Ich bekam Lust mehr über das Wechselspiel zwischen seiner Persönlichkeit und seinem Werk zu erfahren und begab mich auf die Suche nach einer Schnitzler-Biographie. Dabei stieß ich auf Peter Gays “ Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler „, das von der Neuen Zürcher Zeitung als „ein beeindruckendes Panorama des 19.Jahrhunderts“gelobt wird.
Um es vorwegzunehmen: das Lob ist unangebracht. Weder bekommt man ein umfassendes Bild der „viktorianischen Bourgeoisie“- dem leitenden Interesse des Autors-, noch von Schnitzler.
Ohne Zweifel hat Gay viel Material zu Rate gezogen und es gibt einige interessante Einblicke. Er zeigt, daß es notwendig ist zu differenzieren und das nicht alle Bourgois über einen Kamm zu scheren sind. Aber bei allem Respekt für den Autor: das ist doch nix Neues. Marx hat etwa im „18.Brumaire des Louis Bonaparte“ die verschiedenen Fraktionen des Bürgertums behandelt, ihre unterschiedlichen Haltungen und politischen Kehrtwendungen.
Dieser „Lapsus“ kommt nicht von ungefähr: Während Gay bei anderen AutorInnen ausschweifend, um nicht zu sagen geschwätzig ist, werden die Klassiker des ArbeiterInnenbewegung im wesentlichen kurz abgetan. Es sei dahingestellt, ob Marx tatsächlich die Kategorie „Cäsarismus“ ablehnte- wie Gay behauptet-, mit dem Phänomen hingegen hat er sich ausführlich beschäftigt. So charakterisiert er im „18.Brumaire“ Napoleon III als einen „Taschenspieler in der Notwendigkeit, durch beständige Überraschung die Augen des Publikums auf sich als den Ersatzmann Napoleons gerichtet zu halten“. In der ArbeiterInnenbewegung machte bekanntlich der antipopulistische Spruch vom „Antisemitismus als „Sozialmus des dummen Kerls“ die Runde. Und der alte Engels widmete sich dem „Jingoismus“ von Teilen der englischen ArbeiterInnenklasse- proimperialistische Lieder (und entsprechende politische Positionen!), bei denen als Refrain „hey jingo“ gesungen wurde.
Aber auch Engels “ Die Lage der arbeitenden Klasse in England“(1845) wird von Gay nur kursorisch gestreift.
Was die Analyse Schnitzlers betrifft erfährt man/ frau ebenfalls nicht allzuviel. Gelungen sind die Passagen über die Tagebucheintragungen Schnitzlers (S.97 ff), in denen dieser sehr kritisch mit sich selbst ins Gericht geht -auch /oder gerade wenn er im wirklichen Leben anders agierte: etwa seine skurille Sehnsucht nach der Jungfräülichkeit seiner „Geliebten“ („virgo intacta“) oder seine mitunter rasende Eifersucht .
Das Buch krankt vor allem daran, daß es trotz aller gegenteiligen Behauptungen zu einer Art Ehrenrettung der Bourgeosie antreten will . Da kommt es dann zu folgendem Resumee „Als Historiker stelle ich nur ungern boshafte Vergleiche an, aber mit dem Blick auf das Jahrhundert, das dem neunzehnten folgte, kann ich nur wiederholen, daß die viktorianische Ära ein bewundernswertes (sic!) Jahrhundert war und daß das Bürgertum sich ein Gutteil dessen als Verdienst anrechnen kann“ (S.336).
So ist es bloß folgerichtig, aber geradezu eine Chuzpe , daß der 1.Weltkrieg nur ganz schattenhaft am Horizont auftaucht- obwohl es doch die Widersprüche des 19. Jahrhunderts -schließlich der Imperialismus- waren , die für ihn die Fundamente legten. Und es war gerade Schnitzler, der das sah oder zumindest ahnte- etwa im „Leutnant Gustl“.
So aber endet das Buch mit schlichtem Unverständnis: „Die Aussichten auf einen andauernden Frieden schienen vielversprechend“(S.337). Und noch diffuser der Schlußsatz: „Wer immer indessen dieses Verhängnis über die Menschheit brachte, die Welt- und damit auch das Bürgertum- sollte nie mehr dieselbe sein „(S. 338).
Trotz aller Akribie verbleibt das Buch im Rahmen bürgerlicher Selbstverblendung. Heute, wo alle wesentlichen Fakten am Tisch liegen, gelingt es einem bürgerlichen Autor nicht das 19.Jahrhundert ungeschminkt darzustellen bzw. das Folgejahrhundert. zu begreifen. Erst recht würde dies bei der Gegenwart der Fall sein.-
Nachsatz: Nach einer guten Schnitzler- halte ich noch immer Ausschau…
Hermann Dworczak
Peter Gay Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19.Jahrhunderts
S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2012
379 Seiten. 11, 30 Euro.