inprekorr, 3.3.2013: SYRIEN – REVOLUTIONAR MARXISTISCHE STIMMEN AUS DEM WIDERSTAND

Ob siegreich oder nicht — es ist wichtig, wahrzu­nehmen, dass es auch kämpfende Strömungen gibt, die sich auf den revolutionären Marxismus beziehen. Ihre politische Bedeutung werden sie auch nach dem Krieg — gewonnen oder verloren — entwickeln und verteidigen müssen.

1. Gründung der Sektion Daraja der Strömung der revolutionären Linken      (13. Dezember 2012)

Innerhalb der Strömung der Revolutionären Linken in Syrien haben Personen aus dem Umfeld der Linken und der revolutionären Marxistinnen die Sektion Daraja ge­gründet. Die Aktivistinnen der revolutionären Bewegung in Syrien haben das Übergangsprogramm der syrischen Revolutionären Linken angenommen. Es handelt sich um eine Strömung, die seit dem Beginn des Aufstands in Syrien aktiv ist und ihren Kampf mitten in der Revo­lution führt. Aus der Tatsache, dass volksferne politische Strömungen und Ideologien den Aufstand für sich nutzen wollen, ergeben sich für die Anhängerinnen der revolu­tionären Linken in der jetzigen Phase zwei Hauptaufga­ben: Leute aus der zivilen und laizistischen linken Jugend sammeln und einen, sich mit allen Mitteln an der Revolu­tion beteiligen und den demokratischen Aspekt sowie den zivilen Charakter des Aufstands stärken. Und langfristig: Beginn eines breiten, offenen Dialogs über die Einigung der syrischen revolutionären Linken im Rahmen einer ge­meinsamen organisatorischen Arbeit, die in die Gründung einer marxistisch-revolutionären Linkspartei münden soll. Als gemeinsame Basis dient ein politisches Programm, das eine sozial gerechte Gesellschaft sowie einen Bürger- und Rechtsstaat anstrebt.

Wir müssen ein Klima schaffen, das der Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins förderlich ist, so dass diverse Strömungen und unterschiedlich ausgerichtete Parteien ihre Politik betreiben und frei denken können. Außerdem müssen wir die sachlichen und subjekti­ven Voraussetzungen schaffen, damit Programme und Handlungsinstrumente für den Aufbau einer gerechten, sozialistischen Gesellschaft entwickelt werden können. So gesehen, stehen die linken Revolutionärinnen vor mehre­ren großen Herausforderungen. Die wichtigsten:

1. Kritik und Erneuerung des traditionellen Marxismus, Anpassung an die historische und technologische Ent­wicklung. Erarbeitung neuer Grundsätze, die der gesell­schaftlichen Kultur, dem sozialen Bewusstsein und der Entwicklung der herrschenden Produktionsverhältnisse entsprechen.

2. Kritik der gescheiterten sozialistischen Experimente in der Sowjetunion, in Osteuropa, in Ländern Lateinameri­kas und im Nahen Osten.

3. Sachliche Kritik der traditionellen marxistischen Par­teien, insbesondere der kommunistischen Parteien in der arabischen Region.

4. Beharrlicher Kampf gegen die Überbleibsel der Gegen­propaganda und die weltweiten Kampagnen zur Verleum­dung des Sozialismus und des marxistischen Gedanken­guts vonseiten der imperialistischen Länder. Während der gesamten Zeit der kalten und heißen Kriege zwischen dem sogenannten „sozialistischen” und „kapitalistischen Lager” wussten die imperialistischen Länder die reaktio­nären Kräfte unserer Region für ihre Ziele zu nutzen.

Die Schaffung einer basisorientierten Organisations­struktur wie jene der neu gegründeten Sektion Dar­aja — ein nachahmenswertes Beispiel für alle Gebiete in Syrien — entspricht in der Praxis dem Versuch, eine politische Partei aufzubauen, indem man von unten nach oben geht — dies ganz im Gegensatz zur Art, wie die meisten traditionellen Parteien aufgebaut wurden. Der basisorientierte Weg stärkt das Vertrauen in die Zukunft der jungen Partei. Sie verwirklicht mit dieser Methode das Konzept eines echten demokratischen Zentralismus und nicht eine Karikatur davon, die mit Unterwerfung von Individuen und Willkür erblicher Parteileitungen verbunden ist. Wir rufen dazu auf, weitere Sektionen in anderen syrischen Städten aufzubauen. Es braucht dazu ein rasches, gleichzeitig aber auch methodisches und organisiertes Vorgehen. Die Sektionen sollen auf Grund­lage der Hauptaussagen des Übergangsprogramms der revolutionären syrischen Linken möglichst viele linke Revolutionäre und ihre lokalen Verbündeten sammeln und sofort beginnen, die wichtigsten Zwischenziele der Strömung umzusetzen.

Strömung der Revolutionären Linken in Syrien

Sektion Daraja Freiheit —

Würde — soziale Gerechtigkeit

2. Auszüge aus La linke de front, dem Organ der Strömung der Revolutionären Linken in Syrien

2.1 Daraja 1: Vorbild in Sachen Militär 2

Im Folgenden berichte ich über die Vorgehensweise der Freien Armee in Daraja. Urteilen Sie selbst und verglei­chen Sie mit dem, was in anderen befreiten Gebieten geschieht:

Sämtliche Bewegungen und Aktivitäten der Brigaden der Freien Armee erfolgen in enger Koordination mit dem örtlichen Rat der Stadt und sind dessen Verwaltungsmacht unterstellt.

Alle Spenden und Hilfsgelder, die in die Stadt fließen, gelangen in eine gemeinsame Kasse. Der örtliche Rat be­aufsichtigt dieses Geld und unterstützt damit die Brigaden, die Rettungsdienste und die Hilfeleistungen für die in der Stadt eingeschlossene Bevölkerung.  Alle kämpfenden Bri­gaden unterstehen einer zentralen militärischen Leitung.

Es ist ihnen nicht erlaubt, außerhalb dieses Rahmens aktiv zu werden. Sie müssen immer gemeinsam mit den Kämp­fern und Brigaden vorgehen, die sich zur Verteidigung der Stadt zusammengefunden haben.

Innerhalb von Daraja gibt es keine extremistischen Kräfte oder Brigaden. Das zentrale Kommando der Freien Armee hat sie trotz des dringenden Bedarfs an Unterstüt­zung mehrmals zurückgewiesen. Sie dürfen sich nur hier aufhalten oder betätigen, wenn sie sich dem zentralen Kommando unterstellen.

Den Kämpfern und Brigaden der Freien Armee ist strikt untersagt, andere als die von der Revolution verein­barten Fahnen oder Transparente zu zeigen.

Es ist streng verboten, die Beeinträchtigung der Un­versehrtheit der Gegner als Ziel zu verfolgen. Anstatt zu schießen, ist es besser, über ihre Kapitulation zu verhan­deln oder sie festzunehmen und dabei die Sicherheit der Gefangenen zu garantieren. An den Kämpfern der Armee von Assad darf keine Rache geübt und ihre Toten dürfen nicht zur Schau gestellt werden. Gelingt es, die Gegner einzuschließen, müssen ihre Verletzten im örtlichen Krankenhaus behandelt werden.

Obwohl die Freie Armee in der Stadt dringend auf Unterstützung angewiesen ist, verzichtete sie bei min­destens vier Gelegenheiten auf politische Gelder oder militärische Hilfsangebote, die an Bedingungen geknüpft waren [.. .].

Das zentrale Kommando der Freien Armee hat einen lokalen Polizeiapparat auf die Beine gestellt, um den Besitz der Vertriebenen zu schützen, Plünderungen und Diebstähle zu verhindern und gegen kriminelle Banden vorzugehen. Die örtliche Polizei erfüllt ihre Pflicht, ohne diskriminierende Unterschiede zwischen dem Besitz von Moslems und Christen zu machen. Zudem respektiert sie die Unantastbarkeit und die Güter der städtischen Kir­chen. Diese wurden lediglich zwei oder drei Mal aufge­sucht, um Trümmer nach Bombardements wegzuräumen.

Das, was ich berichte, sind keine leeren Worte oder Propa­ganda, sondern Tatsachen. Ich hoffe, dass dieses Beispiel in allen syrischen Gebieten, die der Freien Armee unterste­hen, Schule machen wird.

Mouafak Zrik

 2.2 Editorial: Eine Übergangsregierung … für wen?3

Die Zahl der Gebiete, die sich vom Joch des bürgerlich-diktatorischen Regimes befreit haben, wird immer grö­ßer. Sie leiden unter den wiederholten Bombenangriffen der Regierungsarmee, die zu massiven Zerstörungen ge­führt und viele Infrastruktureinrichtungen verwüstet ha­ben. Das ganze gesellschaftliche Leben ist beeinträchtigt. Gleichzeitig wächst die Zahl an zivilen, lokalen Räten, die sich darum bemühen, den Alltag der Bevölkerung zu regeln. Parallel dazu agieren die Koordinationen weiter-hin als selbstorganisierte Strukturen der Volksbewegung, wenn sich die Einheiten des demokratischen bewaffneten Widerstands — bewaffnete Massen und übergelaufene Sol­daten — der mörderischen Maschinerie des diktatorischen Regimes entgegenstellen. Davon ausgenommen sind die Dschihadisten und Islamisten, die von den Ölmonarchien unterstützt werden. Es handelt sich dabei um kleine Split­tergruppen, die ein anderes Ziel haben: einen islamischen Staat oder anders gesagt: ein reaktionäres Projekt, für das sich die revoltierenden Massen nicht opfern wollen. Diese kämpfen vielmehr für Freiheit, Demokratie, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit.

Eine revolutionäre Übergangsregierung muss alle ge­sellschaftlichen Teile des Volksaufstands vertreten, nament­lich die Arbeiter, die armen Bauern und die Soldaten. Sie darf nicht aus einem Deal oder aus Absprachen hervorge­hen, die von Katar, Saudi-Arabien oder der Türkei gelei­tet wurden — in einem Hotel in Istanbul, hinter dem die Muslimbrüder stehen. Letztere belasten und behindern den Fortschritt der Revolution. Sie sind opportunistisch und ordnen sich den rückschrittlichen Staaten organisch unter, insbesondere dem Emirat Katar. Sie scheuen auch nicht davor zurück, sich von diesen Staaten finanziell und medial unterstützen zu lassen, um sich in der Bevölkerung Verbün­dete zu erkaufen. Man konnte dies bei zahlreichen Kund­gebungen beobachten. Die liberale Regierung von Hito, die der Muslimbruderschaft nahesteht, wurde im Auftrag Katars sowie mithilfe übler Tricks der Muslimbrüder gebildet. Sie wird von der Freien Armee und der Volksbe­wegung abgelehnt und muss als Teil der Konterrevolution genauso gestürzt werden wie das diktatorische Regime.

Wir fordern eine revolutionäre Übergangsregierung, die dem Willen des Volkes entspricht.

2.3 Schlusserklärung des 1. Forums der syrischen marxistischen Linken in Europa4

Verschiedene Genossen und Vertreter der syrischen Linken versammelten sich am 2. und 3. März in Brüssel, Belgien, zu einem ersten Treffen. Zur Diskussion standen die Herausforderungen für die syrische Linke, die in Op­position zum diktatorischen Regime steht und sich an der Volksrevolution beteiligt, ihre Stellung in der aktuellen Situation, die Übergangsphase und die zukünftige Rolle der Linken.

Die Teilnehmenden einigten sich auf folgende Grund­sätze:

1. Die kämpferische Linke ist am Volksaufstand beteiligt, um für Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Sie ist entschlossen, das diktatorische Regime mit all seinen Symbolen und Institutionen zu stürzen.

2. Sie engagiert sich an der Seite der einfachen Bevölke­rung, der Werktätigen und der Ausgegrenzten. Sie wird ihre Rolle in der Revolution in der nächsten Phase deut­lich machen und unterstützt alle Formen der Selbstorgani­sation und Selbstverwaltung.

3. Sie stellt sich entschieden gegen alle negativen Erschei­nungen und Gefahren, die die Revolution bedrohen, zum Beispiel der Konfessionalismus, die bewaffneten Banden, die organisierte Kriminalität und die Dschihadisten.

4. Sie wehrt sich gegen jegliche Form regionaler und reaktionärer imperialistischer Intervention von alliierten Staaten oder von Staaten, die sich als Freunde des syri­schen Volkes ausgeben. Diese Mächte und Staaten wollen die Revolution ersticken oder unterdrücken, insbesondere indem sie sie in einen langfristigen Bürgerkrieg verwan­deln.

5. Sie setzt sich dafür ein, dass alles Nötige getan wird, um die Probleme der Entwicklung und der sozialen Ungerechtigkeit zu lösen. Es braucht dazu eine gerechte Verteilung des Reichtums und eine Politik, die auf dem freien Volkswillen fußt.

6. Sie anerkennt die legitimen nationalen Rechte des kur­dischen Volkes und aller ethnischen Gruppen. Sie kämpft für die garantierte Meinungs- und Gewissensfreiheit für alle, insbesondere durch Einführung einer umfassenden Staatsbürgerschaft und eines radikalen, auf der strikten Trennung von Religion und Staat beruhenden Laizismus. Außerdem fördert sie die Gleichheit zwischen Männern und Frauen und schützt die Rechte der Kinder.

7. Sie stellt die nationale Frage und setzt sich besonders für die Befreiung der Golanhöhen ein. Sie unterstützt sowohl das palästinensische Volk im gerechten Kampf gegen die Besatzung und den Zionismus als auch die Völker der Region und der Welt im Kampf gegen die imperialistische Aneignung ihrer Gebiete und Ressourcen.

8. Sie hilft mit, die verschiedenen Teile der oppositionel­len Linken aufzubauen und in einer revolutionären Front zu vereinigen. Danach arbeitet sie in breiteren Bündnissen mit allen radikalen laizistischen und demokratischen Kräften zusammen.

9. Sie befürwortet, dass die Einheit des syrischen Staates in Bezug auf Territorium und Bevölkerung erhalten bleibt.

10. Gegen Schluss der Veranstaltung einigten sich die Teilnehmenden auf die Bezeichnung „Treffen der revolu­tionären syrischen Linken in Europa”.

Die kämpferische syrische Linke trägt wesentlich zu brei­teren Mobilisierungen in der laufenden Revolution bei: für ein neues Syrien, in dem die Bürger echte demokrati­sche und soziale Freiheiten genießen.

Am Ende der Versammlung wählten die Beteiligten für die Dauer eines Jahres ein Exekutivbüro, das aus fol­genden Genossen besteht: Sommer Khalil, Ghayath Nais­se, Moataz Zaim, Imad Azzouz, Hassan Zine El Abidin.

Brüssel, 3. März 2013

Infos:

Fläche: Mit rund 185 000 Quadratkilometern ist Syrien ungefähr halb so groß wie Deutschland.

Einwohner: Vor dem Bürgerkrieg etwa 21 Mio.

Bürgerkrieg:    Seit Frühjahr 2011 sind im Bürgerkrieg mindestens 93 000 Menschen umgekommen, mehrere Hunderttausend sind verletzt (Stand: April 2013). Ca. 1,5 Mio. sind ins Ausland geflohen, vier Mio. sind innerhalb Syriens auf der Flucht.

Wirtschaft:      Bis zum Bürgerkrieg wurden hauptsächlich Erdöl, Textilien und Nahrungsmittel exportiert. Das Assad-Regime hat in den letzten 10 Jahren eine zunehmend neoliberale Politik umgesetzt und damit die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten vorangetrieben.

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Brüssel, 3.März 2013

Übersetzung: Alena Wehrli

1 Daraja liegt im Norden von Damaskus, nicht zu verwechseln mit Daraja an der Grenze zu Jordanien.

2 La ligne de front, Nr. 12, Februar 2013 (Auszüge, übersetzt aus dem Arabischen durch Luiza Toscane)

3 La ligne de front, Nr. 13, März 2013 (Auszüge, übersetzt aus dem Arabischen durch Luiza Toscane)

4 La ligne de front, Nr. 13, März 2013 (übersetzt aus dem Arabischen durch Rafik)

 

Inprekorr 4/2013