J. Riere: Victor Serge, biographische Notiz

siehe auch:
Konzept für eine Erneuerung des Sozialismus
und
I. Deutscher: Leo Trotzkis Kritik an V. Serge
 
Victor Serge, wirklicher Name Viktor Lwowitsch Kibalchich, wurde am 30. Dezember 1890 als Sohn russischer Eltern geboren, die als Revolutionäre ins Exil gehen mußten. Sein Vater, Leo Iwanowitsch Kibalchich, zunächst Offizier, dann Arzt, stand der Partei Volkswille (Narodnaja Wolja) nahe. Ein entfernter Verwandter, Nikolaus Iwanowitsch Kibalchich, Mitglied des Zentralkomitees dieser Partei, wurde 1881 nach der »Hinrichtung« Zar Alexanders II gehängt. Seine Mutter, Vera Poderewski, polnischer Abstammung, war Lehrerin.
 
Kindheit in Belgien und England: Armut, Unterernährung (sein jüngerer Bruder Raoul starb im Alter von neun Jahren an den Folgen der Entbehrungen …). Autodidakt. Beginnt mit 15 Jahren zu arbeiten: Fotografenlehrling (10 Francs im Monat, 10 Stunden Arbeit täglich), dann Fotograf, Zeichner, Angestellter, Typograph, nachdem er dieses Handwerk in anarchistischen Druckereien erlernt hatte (starker Einfluß Kropotkins: Serge wird immer der anarchistischen »Weigerung, es zu etwas zu bringen« treu bleiben), Journalist, Übersetzer, Mitglied der sozialistischen Jungen Garde von Ixelles (Brüssel), die bald als reformistisch gilt, dann Mitglied der Revolutionären Gruppe in Brüssel. Unter verschiedenen Pseudonymen – das bekannteste »Der Widerspenstige« (Le Retif) – Mitarbeiter der anarchistischen Presse (Der Aufrührer -Le Revolte, Der Kommunist -Le Communiste usw. in Brüssel; Die neue Zeit -Les Temps nouveaux, Der soziale Krieg -La Guerre sociale, Der Anarchist -Le Libertaire, Die Widerspenstigen -Les Refractaires usw. in Paris), beteiligt sich an Kundgebungen und aktuellen Prozessen. In Paris kämpft er 1908 in der extremen Richtung des Anarchismus mit: mit den Individualisten (Einfluß Stirners, Ibsens usw.). Mitarbeiter, dann treibende Kraft (Juli 1911 bis Januar 1912) der Wochenzeitschrift L‘ Anarchie. Organisiert öffentliche Gespräche -Diskussionen.
 
Wird fälschlich in den Prozeß der »Bonnot-Bande« (»die tragischen Banditen«) verwickelt, im Januar 1912 verhaftet, im Februar 1913 vor Gericht gestellt, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, die er zur Gänze absitzt, und zu fünf Jahren Aufenthaltsverbot, weil er sich geweigert hat, die »Illegalen« zu denunzieren, obwohl er sich weder an ihren Aktivitäten beteiligt hatte noch mit ihren Theorien übereinstimmte. Die Gerichtsprotokolle und die Zeugenaussagen jener Zeit sind günstig.
 
1917 wird er freigelassen, wird Typograph in Barcelona, Mitglied der C.N.T., Freund Salvador Seguis (der ihm als Vorbild für die Figur des Dario in Naissance de notre Force – Die Erwartung – dient), Mitarbeiter bei Solidaridad Obrera, Tierra y Libertad (in dieser Zeitung veröffentlicht er den ersten mit „Victor Serge” gezeichneten Artikel). Im Juli 1917 nimmt er in Barcelona an dem Volksaufstand teil. Scheitern. 1918 geht er als Freiwilliger nach Rußland; wird in Paris verhaftet (wegen des Aufenthaltsverbots), in einem Konzentrationslager interniert (Precigne im Departement Sarthe), unter Minister Clemenceau im Januar 1919 als bolschewistische Geisel gegen einen Offizier der französischen Militärmission, der in Rußland festgehalten wird, ausgetauscht. Trifft im Februar in Petrograd ein. Mitglied der russischen Kommunistischen Partei, Mitarbeiter Sinowjews im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, zuerst in Petrograd, dann in Moskau, anschließend in Berlin und Wien. Verantwortlich für die französische Ausgabe der Internationalen Presse-Korrespondenz, Journalist (L‘ I nternationale Communiste, L’Humanite (Paris), Monde (von Henri Barbusse), Clarte, La Lutte de Classes, Bulletin Communiste (Paris), La Vie Ouvriere (Paris) usw., Übersetzer Lenins, Trotzkis, Sinowjews, Vera Figners, E. Vargas usw.
 
Nimmt an den Vorbereitungen zum kommunistischen Aufstand in Deutschland 1923 teil. Tritt im gleichen Jahr der Linksopposition bei. 1925 Rückkehr nach Moskau, dann nach Leningrad. Verschiedene literarische Arbeiten und Kämpfe innerhalb der Partei. 1928 inhaftiert und ausgeschlossen. Freigelassen. Übersetzungen, Essays, Romane, in Frankreich erschienen. Im März 1933 wieder willkürlich von der GPU verhaftet, eingesperrt und ohne Verhandlung oder Verteidigung zu drei Jahren Verbannung nach Orenburg im Ural verurteilt. Seine Frau, die infolge der vielfältigen Verfolgungen an Bewußtseinsstörungen leidet, kann nicht ordentlich behandelt werden. April 1936: aus der UdSSR verbannt, der sowjetischen Staatsbürgerschaft für verlustig erklärt – wie auch seine Familie -, aller seiner Habseligkeiten und aller seiner Manuskripte beraubt, und das alles ohne legale Grundlage! Seine „Befreiung” erfolgte hauptsächlich dank der wiederholten Interventionen und Kundgebungen belgischer und französischer Schriftsteller (vor allem Henry Poulaille, Magdalaine Marx Paz, Jacques Mesnil, Marcel Martinet, Albert Ayguesperse, Charles Plisnier usw.), militanter Gewerkschafter (Alfred Rosmer, Pierre Monatte usw.), von Zeitschriften (die Revolution proletarienne, I ‚Ecole Emancipee, Les Humbles, Le Combat marxiste [von Lucien Laurat], Masses [von Rene Lefeuvre, Herausgeber der Spartakus-Hefte und Rosa Luxemburgs] usw.).
 
Die einigen Stalinisten (Aragon, Jean-Richard Bloch) oder gewissen „Weggefährten” (Romain Rolland, Andre Malreaux) zugeschriebenen Interventionen ließen sich nicht immer wirklich nachweisen: hier herrscht noch Zweifel (siehe unsere verbesserte Auflage von Litterature et Revolution [Schriftsteller und Proletarier], Paris, Ende 1977 oder Anfang 1978).
 
Zunächst bekommt er keine Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich und wird in Belgien nur unter Vorbehalt aufgenommen …Setzt seine Tätigkeit als Journalist, als Schriftsteller (La Wallonie, Liege; La Revolution proletarienne; Le Peuple,‘ Le Populaire usw., Paris) und als Kämpfer fort (innerhalb des »Komitees zur Untersuchung der Moskauer Prozesse und der Verteidigung der Gedankenfreiheit in der Revolution« und des »Komitees zur Verteidigung der spanischen Revolution«). Er steht durch die Vermittlung von A. J. Muste (Delegierter des Büros für die in den Vereinigten Staaten konstituierte Vierte Internationale) seit April 1936 mit Trotzki in Verbindung, schlägt ihm vor, durch Ergänzungswahl diesem Komitee beizutreten. Wird angenommen. Im Januar 1937 nimmt er in Amsterdam an der internationalen Konferenz der Vierten Internationale teil, verteidigt dort gemeinsam mit dem Belgier Georges Vereeken und dem Holländer H. Sneevliet die P.O.U.M. Von da an werden die Meinungsverschiedenheiten immer größer. Er tritt der P.O.U.M. bei, schreibt in ihrem Organ La Batalla, verteidigt bis zum Schluß seinen Freund Andres Nin. Trennt sich von den trotzkistischen Grüppchen (seiner Meinung nach sektiererisch und ungerecht) und bricht 1939 öffentlich mit Trotzki, da er der Meinung ist, “daß die Achtung und Bewunderung für einen großen Menschen durchaus mit kritischer Stellungnahme zu seinem Werk, seinen Ideen, seiner Tätigkeit vereinbar sind“. Seine geistige Unabhängigkeit und sein klarer Verstand fordern Angriffe heraus, in denen sich Hinterlist und verleumderische Anspielungen den Rang streitig machen. ..
 
Verläßt im Juni 1940 Paris, geht nach Marseille, wo er sich im März 1941 auf dem gleichen Dampfer wie Andre Breton undClaude Levi-Strauss nach Mexiko einschifft (das Visum wurde ihm vom Präsident Cardenas persönlich gewährt), via Martinique (ein Monat Internierung in einem Lager), Ciudad Trujillo, Havanna. Trifft im September 1941 in Mexiko ein.. Ist sofort Gegenstand heftiger Angriffe in Artikeln, Drohungen (Attentate) von seiten der einheimischen oder dorthin geflüchteten Stalinisten. … Setzt mehr schlecht als recht seine Tätigkeit als boykottierter Journalist und Schriftsteller, als Marxist, als internationalistischer Sozialist fort. Mitarbeit in der englischen, amerikanischen und südamerikanischen Presse. Lernt wieder die Not, den Hunger, die Krankheit, die polizeiliche Überwachung, die Verleumdung, die Verlassenheit kennen. Stirbt am 17. November 1947 – einem zeitgenössischen mexikanischen Minister zufolge ist die Hypothese einer verbrecherischen Vergiftung nicht auszuschließen -, hält bis zum Schluß einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz” die Treue.
 
Trotz verschiedener Interventionen ist er noch immer nicht als Sowjetbürger, militanter Bolschewik und revolutionärer Schriftsteller “rehabilitiert” worden. Seine Manuskripte (obwohl die Zensur -Glawlit -1936 ihre Herausgabe gestattet hat) und seine Archive sind noch immer nicht seiner Familie zurückerstattet worden… seit nun schon vierzig Jahren… Victor Serge – ob man ihn nun systematisch totschweigt oder ob man ihn verleumdet – ist zweifellos der klarsichtige und mutige Vorläufer der heutigen »Dissidenten«, der machtvoll und streng dreißig, vierzig Jahre vor Solschenizyn (und anderen) über die Prozesse und die Lager berichtet hat (die Stalins wie die Francos und Hitlers).
 
Sein Werk ist das eines Mannes, der immer wissent- und willentlich an den großen Auseinandersetzungen seiner Zeit Anteil hatte. Unserer Zeit. Wie Jean Duvignaud sehr richtig schreibt, »er ist der Häretiker in einer Epoche der Orthodoxie(n)«.
 
Jean Riere, Paris, April 1976