Gedanken aus der Ferne …
Militärs und Moslembrüder: Die zwei Feinde der verarmten größtenteils moslemischen Bevölkerung und einfachen Soldaten befinden sich im tödlichen Konflikt.
Das größte Problem für eine wirkliche Lösung der schweren ökonomischen und politischen Krise in Ägypten ist die ungeheure Schwäche der revolutionären Demokratie, Attraktionspol der verarmten ägyptischen Massen und einfachen Soldaten zu werden.
Das Mursiregime
Vergessen soll nicht die Regierungsphase der Moslembrüder unter Mursi sein. Im August 2012 hatte er noch Verfassungszusätze zugunsten des Militärs geändert. Vorher hatte er natürlich noch den mächtigen Feldmarschall Hussein Tantawi zusammen mit weiteren Militärführern in den Ruhestand geschickt und den moslemischen General Abdel Fattah al-Sisi zum neuen Militärchef ernannt. Ein, wie sich später herausstellen wird, ein für ihn verfehlter und Schicksal-schwerer Schritt.
Dann folgten Schlag auf Schlag. Der Moslembrüder und aller westlich-imperialistischer Staaten Plan war es ja, in Ägypten ein türkisch-Erdogan-ähnliches Regime zu errichten. Also langsam aber konsequent eine „Demokratur“ auf einer Scharia-ähnlichen Verfassung zu errichten, um brav die US-Militär- und andere Milliardendollar-Subventionen zu erhalten und dafür den „Frieden“ mit Israel zu sichern. Ägyptens Gesellschaft ist allerdings nicht wie jene in der Türkei. Das Land hatte erst seine erste Revolution gegen das Mubarak-Regime hinter sich, also ein Land mit selbstbewussten Revolution-erwachten verarmten Mittelschichten und eine kämpferische Arbeiter_innenklasse. Und das kleibürgerliche liberale Bürgertum im Gewerbe und Tourismus war nach den Revolutionswirren auf wirtschaftlichen Aufstieg in einem weltoffenen Ägypten aus.
Doch am 22.November 2012 setzte das Mursi-Regime de facto das Oberste Verfassungsgericht ab und ernannte das von Islamisten dominierten Verfassungskomitee zur höchsten Verfassungsinstanz. Das brachte die ersten Hunderttausend auf die Straßen. Gleich sieben Tage später, am 29. November, hatten die Moslembrüder gerade in ihrem Verfassungskomitee den neuen Verfassungsentwurf durchgepeitscht. Die Massenproteste dauern an und Mursi weicht kurz zurück und nimmt seine Sondervollmachten wieder zurück. Im Dezember sind es schließlich die schweren, von der Revolution kaum berührten Reserven im Süden und Südosten Ägyptens und etliche Wahlfälschungen, die Mursis islamischer Verfassung „63,8%“ bescherten. Jetzt schien es Mursi offenbar, die Islamisierung Ägyptens (gegen rund die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung) rigoros durchziehen zu können. Jetzt sind 500.000 auf der Straße. Aber in den Dörfern, kleinen Städten und Stadtvierteln Kairos, Alexandrias usw. hatte sich schon längst von den Orts- und Stadtverwaltungen bis ins Bildungswesen die Islamisierung durchgesetzt. Frauen ins Haus und verschleiert hinter dem Mann, islamisch-repressiv gegen alles, was mit freiem Frausein und Sexualität zu tun hat und Einführung des Koran als vorherrschenden Lehrplan im Bildungswesen. Auf dem Weltsozialforum in Tunis trafen wir einen ägyptischen Lehrer, der uns vom „neuen“ Unterricht des Kopfnickens beim Koranlesen in ägyptischen Schulen erzählte, was seine Lehrer_innengewerkschaft völlig ablehnt.
Am 27. und 28. Jänner 2013 verhängt Mursi den Ausnahmezustand über Port Said, Suez und Ismailiya am Suez-Kanal. Trotzdem gehen Proteste nicht nur weiter, sie werden immer gewalttätiger. Das Oberste Gericht rafft sich nochmals auf und erklärt das von Moslembrüdern und Salafisten dominierte Oberhaus und die neue Verfassung für illegitim. Die Mursi-Regierung ignoriert natürlich diesen Richterspruch und lehnt seinen Rücktritt brüsk ab. Sich als gewählt wähnender Präsident setzt er unbeirrt weitere Schritte in Richtung islamischer Diktatur: 17. Juni: Sieben Muslimbrüder und ein Mitglied der ehemaligen Terrorgruppe Gamaa al-Islamiya werden zu Provinzgouverneuren ernannt. Ende Juni stoßen aberhundertausende Mursi Gegner_innen und Anhänger_innen in Ägyptens Städten aufeinander. Die Initiatoren von “Tamarud” (Rebellion) sammelten nach eigenen Angaben über 22 Millionen Unterschriften gegen Mursi.
Werner Pirker geht von 15 Millionen Stimmen aus und schreibt: „Wenn binnen kurzem 15 Millionen Unterschriften, die die Forderung nach einem Rücktritt Mursis bekunden, gesammelt werden, kann es sich nicht bloß um eine Mittelschichtenbewegung handeln; dann ist die Basis der Gesellschaft in Bewegung geraten.“ Es sind trotzdem mehr Stimmen gegen Mursi als dieser bei den Wahlen „offiziell“ bekommen hatte. Und richtig merkt Pirker sinngemäß an, dass Millionen Bekundungen gegen Mursi mitten im Bürgerkrieg abgegeben schwerer wirken als pro Mursi in der Wahlzelle.
Der Militärputsch
General Abdel Fattah al-Sisi stellt dem Mursi-Regime am 1. Juli 2013 ein Ultimatum, den Konflikt innerhalb von 48 Stunden zu lösen. Mursi lehnt alles ab und wird vom Militär am 3. Juli abgesetzt und die Verfassung wird außer Kraft gesetzt.
Rund ein Drittel der ägyptischen Wirtschaft wird vom Militär, oder besser gesagt, von der führenden Militärclique kontrolliert. Die hohen Offiziere sitzen in Vorständen von zivilen- und Waffenfabriken bis hinein in die Tourismusbranche. Da gibt es hunderte Millionen Dollargewinne, um so mehr als die Militärbetriebe natürlich klare Konkurrenzvorteile gegenüber der privaten Konkurrenz besitzen.
Ähnlich Mursis Moslembrüdern könnten jetzt die Militärs machtpolitisch agieren, weil sie sozusagen trotz des EU-Boykotts und selbst gegenüber den USA mehrere Atout im Ärmel haben. 12 Milliarden erhielten sie von Saudi-Arabien, den arabischen Emiraten und Kuweit; eine Rückkehr zu Nassers Bündnisausgleichpolitik mit Moskau blinkt im Hintergrund. Trotzdem wollen Abdel Fattah al-Sisi-Kameraden sicherlich nicht ganz auf den Verbündeten USA verzichten, ernannten Mohammed el-Baradei zum Vize und versteckten sich bei ihrer ersten Präsentation hinter zivilen Persönlichkeiten.
Mohammed el-Baradei ist schon wieder zurück getreten, 800 Tote auf Ägyptens Straßen, ein erneuter Aufstand von Moslembrüder-Massen, die jetzt in der zweiten Phase des Aufstands für die Wiedereinsetzung der Mursi-Diktatur bereits selber mit Schusswaffen ausrücken, Polizeistationen, Ämter und koptische Kirchen stürmen. Stadtviertel in Kairo und in anderen Städten gleichen Syriens Schutthaufen-Städten.
Alles das will die Militärdiktatur auch nicht. Sie haben Mubarak und dann Mursi gestürzt, damit ihre Geschäfte in der Industrie und im Tourismus blühen. Aber da müssen sie jetzt durch: Die Moslembrüder so weit zu unterdrücken, damit wieder „Friedhofsruhe“ herrscht.
Revolutionärer Defaitismus: Für die Niederlagen der Hierarchien der Militärs und Moslembrüder
Den Bruch von Millionen moslemischen Menschen in den Armenvierteln und –regionen Ägyptens mit den Moslembrüdern, in denen diese 2012 starke Wahlmehrheiten erhielten, folgte in diesem Jahr eine katastrophale Wirtschaftspolitik, die die Armut des Landes stark verbreitete und mit der Depression Ägyptens der 1930er-Jahre verglichen wurde. Das brachte die Millionen Mursi-Gegner_innen im Juni auf den Tahirplatz und trieb sie zu den Straßenkämpfen gegen die treue Basis der Moslembrüder.
Schon nach dem Wahlsieg Mursis 2012 stellte sich die grundlegende Frage, ob sein „wahlarithmetischer“ Sieg gegen(!) die Revolution der städtischen progressiven Jugend, der demokratisch gesinnten Mittelschichten und der kämpferischen Textil- und Chemiearbeiter_innenklasse, die den Sturz Mubaraks errungen hatten, über Politik, Verfassung und Macht in Ägypten autoritär bestimmen kann? Sie waren die Träger_innen des Sturzes der Diktatur Mubaraks und wohl auch nun wieder des Widerstandes gegen die islamische „Demokratur“!
Einen demokratischen und revolutionären Ausweg aus der heutigen Pattsituation kann es meiner Meinung nach nur geben, wenn es den revolutionären Kräften gelingt, alle Illusionen in die Militärs aufzugeben und eine Strategie zu verfolgen, das Gros der verarmten moslemischen Massen und der einfachen Soldaten von den Moslembrüdern bzw. von der Militärhierarchie in das revolutionäre demokratische Lager herüber zu ziehen. Breite gläubige verarmte Massen haben sich im Juni von den Moslembrüdern politisch verabschiedet, im Militär sind die einfachen Soldaten unbezahlte Arbeitssklaven in den Wirtschaftsbetrieben der Generalität…
Jetzt im August 2013 haben sie in Ägypten vielleicht einen Phase erreicht, in der sie sowohl die Mursi- als auch die Militärdiktatur satt haben. Und heute vor allem den Krieg in den Städten und die furchtbaren Zerstörungen und Menschenrechtsverletzungen. Verarmte in der Landwirtschaft in den kleinen Betrieben, die Lohnarbeitenden und einfachen Soldaten sind potenziell die „dritte Kraft“ der revolutionären Demokratie. Sie müssten nur wollen, Schluss zu machen mit Diktatur und Krieg!
Eine Verfassung in Ägypten tut Not, die aufbaut auf den Errungenschaften von Demokratie, religiöser Freiheit und(!) sozialer Zuwendung zur lohnarbeitenden und verarmten Bevölkerung in Stadt und Land – angefangen mit einer Reichtums-Umverteilung von den Reichen für den Aufbau eines sozialen und demokratischen Ägyptens.
Wien, 20.7.2013
Karl Fischbacher