Diskussion zu den Entwicklungen in der Ostukraine

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5) A.Holberg, 28.8.2014: Anmerkungen zum Artikel in „der Funke“

4) „der Funke“, 26.8.2014: Kiew, IWF-EU und die Süd-Ost-Ukraine

3) Karl Fischbacher, 18.8.2014 Süd-Ost-Ukraine – Wo ich mit Holberg übereinstimme und wo nicht

2) A. Holberg, 15.8.2014: Ich glaube, Fischbacher unterliegt weitgehendem  Wunschdenken

1) Karl Fischbacher, 12.8.2014: Reaktionärer Aufruhr rund um die Welt und Probleme fortschrittlicher Aufstände


 A.Holberg, 28.8.2014: Anmerkungen zum Artikel in „der Funke“

Werte GenossInnen,

dem Artikel in „Der Funke“ möchte ich nur Eines hinzufügen. Die Stalin’sche Politik gegenüber der Ukraine hat sicher dem ukrainischen Nationalismus weiteren nachhaltigen Auftrieb gegeben, aber sie war auch in der üblichen brutalen stalinistischen Weise eine Antwort auf den bereits vorhandenen reaktionären Nationalismus insbesondere in der Westukraine. Hier möchte ich auf das hervorragende Buch hinweisen, das im Oktober 2004 von der „Arbeitsgruppe Marxismus“ unter dem Titel „Nationale Frage und marxistische Theorie. Teil 2: Die sowjetische Erfahrung“ veröffentlicht wurde.

mit solidarischen Grüßen        A. Holberg


Karl Fischbacher: Süd-Ost Ukraine – Wo ich mit Holberg übereinstimme und wo nicht

Holberg stimmt mir ohnehin in einem meiner Punkte in dem S-O-Ukraine-Absatz in meinem Artikel Reaktionärer Aufruhr rund um die Welt und Probleme fortschrittlicher Aufstände“ zu:

dass es in den Süd-Ost-Ukraine sozial-ökonomische Gründe waren, die zum Aufstand führten.

Die nationalistische Regierung in Kiew, die immensen Preiserhöhungen nach dem EU-Kiew-Vertrag und schließlich der brutale Brandanschlag in Odessa, alles das hatte die normale Bevölkerung im Süden und Osten der Ukraine auf die Straßen getrieben.

Was Holberg aber auslässt in seiner Beschreibung der süd-östlichen Ukraine ist, dass avantgardistische Gruppen der dortigen Bevölkerung sehr bald dazu übergegangen sind, räteähnliche Gegenmachtorgane aufzubauen, indem sie Ämter und regionale Ministerien besetzten und dort legislative und exekutive Versammlungen abhielten.

http://www.labournetaustria.at/ukraine-donezk-ist-unabhangig-07-04-2014-13-00-uhr/

Ich hatte schon im Mai aus dem Aufsatz von Boris Kagarlitzki, der die Südost-Ukraine besucht hatte, zitiert, dass zwar die Südost-Ukrainer_innen unter dem militärischen Druck aus Kiew umso lauter „Russland, Russland“ geschrien hätten und auf die militärische Hilfe der russischen Armee gehofft hätten und habe mit Boris‘ Texten einen Labournet-Austria-youtube-Film gemacht. Aus Boris‘ Aufsatz ging aber auch hervor, dass Putin gar nicht so sehr an bewaffneten Volksmilizen in der Süd-Ost-Ukraine interessiert sei.

http://www.labournetaustria.at/die-logik-des-aufstands-der-konflikt-im-osten-der-ukraine-ist-vor-allem-ein-klassenkampf/

Inzwischen stellt sich ohnehin heraus, dass eine Mehrheit in der Süd-Ost-Ukraine ebenfalls mehr an einer politisch-ökonomisch-autonomen Provinz in(!) der Ukraine interessiert ist als an einem Anschluss an Putins Russland.

http://www.labournetaustria.at/sudost-ukraine-lugansk-krisentagebuch/

Holberg hat natürlich recht, dass Putin an einer instabilen Ukraine interessiert sei, daher Lebensmittel und Medizin in die Ukraine transportieren lässt und Militärmanöver an der süd-östlichen Ukrainischen Grenze durchführt.

Eine der letzten aktuellen Meldungen sagt, dass die westukrainische Armee Desertations- bis Zerfallsprozesse aufweist und der imperialistische Westen offensichtlich an keiner weiteren Zuspitzung mit Russland interessiert ist. Nicht einmal Lettlands Aufruf an die EU, Russlands Importverbote gegen EU-Waren bei der WTO anzuzeigen, will die EU-Spitze zur Zeit übernehmen, geschweige die West-Ukraine für ihren Krieg gegen Südosten duch die NATO aufzurüsten.

Große Sorgen mache ich mir eher deshalb, dass sich in diesem Jahr des Krieges gegen Kiew in der Süd-Ost-Ukraine eine Militärhierarchie etabliert hat, die sich mit ihrer Macht in der allgemeinen prekären sozialen Situation Privilegien angeeignet hat und ihre Machtpositionen gegenüber basisdemokratischen Ansätzen, die es vor allem in Donezk gegeben hat, nicht mehr abgeben will. Das sind jedenfalls die traurigen Lehren alle bisherigen Revolutionen von der französischen bis zur russischen Revolution.

Für eine autonome demokratische Süd-Ost-Ukraine!

Karl Fischbacher, 20.8.2014


Karl Fischbacher: Reaktionärer Aufruhr rund um die Welt und Probleme fortschrittlicher Aufstände

Rund um die Welt gibt es Aufstände. Leider sind es hauptsächlich nicht fortschrittliche, linke oder gar revolutionäre Kräfte. Aber selbst hinter den mittelalterlichen islamistischen IS-Militanten sind die eigentlichen Antriebskräfte „in Allahs Paradies als Märtyrer einzugehen“ soziale und psychische Armut, Perspektivlosigkeit oder Einsamkeit. Solche Jugendliche oder vielleicht auch Ältere sind besonders empfänglich für eine Märtyrer-Rolle.

Rund um die Welt eben – von Thailand 2013/14 über Afrika (Boko Haram) bis zur Ukraine. Linke könnten auch von klassenfremden bis Gegner_innen lernen, die wie in Thailand damals Plätze langfristig besetzten. Fortschrittlicher waren die arabischen Umsturzversuche mit ähnlichen Methoden, wo es der Linken aber auch nicht gelungen ist, wie am brisantesten in Ägypten, die einfachen Soldaten, die nach wie vor unter der Repression ihrer privilegierten Offiziere und Generäle litten und leiden,  auf die Seite des Aufstands gegen Mubarak und dann Mursis zu ziehen.

Und die Ukraine?

In der Ukraine haben die verarmten & Arbeiter_innenmassen in der Ostukraine ja auch am Beginn ihres Aufstands vom Maidan in Kiew gelernt, Plätze, Ämter und Ministerien zu besetzen, sondern auch die Leitung dort zu übernehmen.  In der Ostukraine ist es zumindest demokratischer zugegangen als in Kiew, als sie räteähnliche Basisstrukturen geschaffen hatten. Immer wieder sind auch Soldaten der ukrainischen Armee zu den Milizen übergelaufen. Aber der entscheidende Schlag gegen die nationalistische Regierung in Kiew,  die ebenfalls verarmte Bevölkerung in der Westukraine und das Gros der ukrainischen bewaffneten Kräfte auf ihre Seite zu ziehen, ist ihnen nicht gelungen.

Und so ging es den geschichtlichen Weg aller bisherigen Revolutionen, dass im folgenden Bürgerkrieg auch auf  fortschrittlicher Seite der Militarismus die Oberhand bekommt, eine Militärkaste sich mehr und mehr festigt, während  hunderttausende nicht-militante Menschen vor Bomben bis zu Vergewaltigungen fliehen müssen. Im Bürgerkrieg geht jede Demokratie zugrunde und immer wieder hatte sich gezeigt, dass die Militaristen & Bürokraten selbst im Untergang ihre Allmacht nicht aufgeben wollen…

Diese Situation gibt es offenbar heute in der Ostukraine. Putin wird sich hüten, die ostukrainischen Milizen militärisch zum Sieg zu führen, denn so sehr die ostukrainischen Massen die russischen Fahnen schwenken und „Russland, Russland“ riefen und rufen, unter einer neuerlichen diktatorischen Knute wie Putin würde eine siegreiche Ost- und Süd-Ukraine nicht leben wollen.

Kiew soll jedenfalls ins Tagebuch geschrieben werden: Sein militärischer Sieg über Lugansk,  Donezk  und die Ost-und Süd-Ukraine wird der Regierung in Kiew eine passive bis renitente Bevölkerung bescheren. Denn das Zusammenbomben ganzer Wohnviertel der Städte werden die Ost- und Süd-Ukranier_innen nicht vergessen.

Diskutier mit!

ka.fi


A. Holberg: Ich glaube, Fischbacher unterlegt weitgehendem  Wunschdenken

K.Fischbacher schreibt u.a.: „Diese Situation gibt es offenbar heute in der Ostukraine. Putin wird sich hüten, die ostukrainischen Milizen militärisch zum Sieg zu führen, denn so sehr die ostukrainischen Massen die russischen Fahnen schwenken und „Russland, Russland“ riefen und rufen, unter einer neuerlichen diktatorischen Knute wie Putin würde eine siegreiche Ost- und Süd-Ukraine nicht leben wollen.“

Ich glaube, dass ist weitgehend Wunschdenken. Es ist richtig, dass auch in der SO-Ukraine sozioökonomische Proble eine wichtige Rolle für die (vielgestaltige) Opposition gegen „Kiew“ spielen. Der zeitliche Ablauf deutet jedoch darauf hin, dass die nationale Frage primär ist. Die schließlich im – legitimen – Separatismus mündenden Forderungen der russischsprachigen Bevölkerung der SO-Ukraine wurden erstmals offen formuliert nachdem das orange-braune Regime in Kiew an die Macht gekommen und als eine seiner ersten Amtshandlungen den Status der russischen Sprache als einer offiziellen in der Ukraine in Frage gestellt hatte. Natürlich gab und gibt es in der durch veraltete Industrie gekennzeichneten SO-Ukraine auch die überaus berechtigte Angst vor den ökonomischen Folgen des von „Kiew“ angestrebten Beitritts zur EU. Ohnehin wird der Nationalismus i.A. stets virulent, wenn er sich mit ökonomische Problemen (entweder besondere Armut oder die Perspektive, relativen Reichtum nicht länger mit anderen ärmeren Teilen des multiethnischen Staates teilen zu müssen – s.zB. Schottland, Katalonien,

Slowenien) verbindet. So deutet nichts darauf hin, dass sich die SO-Ukrainer bzw. „Neurussen“ besonders an – ohnehin in der hiesigen Propaganda übertriebenen – mangelnder Demokratie in Putins Russischer Föderation stören würden, in der es ihnen ersten ökonomisch sicher nicht schlechter ginge als unter der Herrschaft Kiews und in der sie 2. nicht befürchten müssten, von virulent antirussischen ukrainischen Banden in ihrer Eigenschaft als Russen (zusätzlich zur im bürgerlichen Staat üblichen ökonomischen Unterdrückung) national unterdrückt zu werden.

Allen Umfragen zufolge ist die Unterstützung für Putin in Russland zur Zeit so groß wie selten zuvor. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich die Neurussen aus der Ukraine dem in nennenswertem Maße versagen würden, wenn sie denn „heim ins Reich“ geholt würden – worauf aber m.E.

wenig hindeutet. Ich glaube eher, dass Russland daran interessiert ist, das neue Regime in Kiew allgemein zu destabilisieren, um die Ukraine insgesamt wieder zum relativ neutralen Pufferstaat gegenüber EU und NATO zu machen.