Karl Schlögel PETERSBURG: Das Laboratorium der Moderne 1909-1921 (Rezension, Hermann Dworczak)

Schon lange liegt Karl Schlögels Buch über Petersburg auf meinem Schreibtisch. Die sommerliche „Saure Gurken“-Zeit macht es möglich, es endlich zu lesen und zu besprechen.

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Petersburg/ Petrograd war bekanntlich das Zentrum der Oktoberrevolution.  Räte, Doppelherrschaft, Sturm auf das Winterpalalais- all das ist Kern linken Wissens.

Schlögel unternimmt nun den Versuch, zu analysieren, wie all das ideologisch und personell vorbereitet wurde, welche Wegbereiter es gegeben hat- insbesonders im Bereich der Kunst und Wissenschaft. „Meine Absicht und mein Interesse gingen jedenfalls dahin, dem Ensemble der lebendigen Kräfte, das Rußland auf den Weg der Moderne gebracht hat, auf die Spur zu kommen“.

In 11 Kapiteln (plus einer Einleitung) arbeitet er das Thema ab: von der „tragischen Imperiale St.Petersburg“ – u. a. weil ab 1918 Moskau Hauptstadt wurde- über „Petrograd als Schaubühne“ bis hin zur „Petersburger Intelligencija 1921“.

Über die Auswahl läßt sich streiten.  Der Autor selbst spricht es an : vielleicht wäre es besser gewesen „einen Petersburger Industriellen wie Putilov oder Nobel aufzunehmen anstelle der Moskauer Kaumanns-und Industriellendynastie der Rjabusinskijs“.  Die Putilov-Werke mit ihren 40 000 Beschäftigten waren ein Sturmzentrum der Revolution.

Interessant ist der Abschnitt „Argonauten des 20.Jahrhunderts“, in dem der politische  Richtungswechsel eines Teils der „Intelligenz“ gezeigt wird:  1909, 1918  und dann 1921 nach dem Zusammenbruch der weißen Konterrevolution (an der sie sich aktiv beteiligt hatte) das Angebot an die junge Sowjetmacht  sich als „spec“ (Spezialist) zur Verfügung zu stellen.

Eine echte Rarität: die Analyse eines präfaschistischen  Autors, Vasilij V. Rozanov,- mit dem sich auch Trotzki kritisch auseinandergesetzt hatte.

Spannend die Behandlung der Pläne für die Elektrifizierung des Landes.

Besonders  interessant das Kapitel „Petrograd als Schaubühne“: Theater auf der Basis von Masseninszenierungen im Kriegskommunismus- völlig quer zum Naturalismus. Auch diese Kunstform ist nicht  vom Himmell gefallen, sondern hatte diverse Vorgänger. Kritisch läßt sich anmerken, daß ein stärkeres Eingehen auf die Probleme sinnvoll gewesen wäre-  Brecht etwa hat sich sehr eingehend mit dem Theater Stanislawskis auseinandergesetzt.

Es fällt auf, daß Schlögel vieles eher nur als mattes „Zwischenspiel“ sieht. Die Wirklichkeit ist eine andere: es gab  SEHR VIEL Neues in der jungen Sowjetunion – von der Architektur über die unterschiedlichsten Stilrichtungen in der Malerei  bis hin zu psychoanalytischen Kindergärten.

Der Sieg des Stalinismus hat all dem den Garaus gemacht- aber dieser „Sieg“ war alles andere als eine zwingende historische Notwendigkeit . Es gab sehr wohl politische  Alternativen.

Bei Schlögel verschwinden solche Möglichkeiten ziemlich oder werden zumindest  kleingeredet – mit dem heimlichen Plädoyer, dass  für Rußland eine bürgerliche  Entwicklung  besser gewesen wäre…

Wie gesagt:  das Buch gibt sehr viele Informationen und bemerkenswerte Einblicke.  Man / frau sollt es querlesen, sozusagen gegen den Strich bürsten- also die ideologischen „Ausflüge“ des Autors links/ oder  besser gesagt rechts liegen lassen.

Hermann Dworczak