Kerstin S. Jobst „GESCHICHTE DER UKRAINE“ (Rezension, Hermann Dworczak)

Weder war die Mehrheit derjenigen, die am Maidan-Platz demonstrierte, „Faschisten“, noch gibt es den geringsten Anlaß die jeweiligen imperialistischen Interessen der EU, der USA oder Rußlands außer Acht zu lassen. Und ebensowenig kann die Gefahr von (extrem) rechts in der heutigen Ukraine heruntergespielt werden. Zu verstehen sind die aktuellen Vorgänge in der Ukraine nur, wenn man/ frau ihren geschichtlichen Vorlauf kennt. Das vorliegende Buch gibt einen ersten, guten Einblick.

 Das Reclam Sachbuch zeigt die historische Entwicklung in den“ukrainischen Ländern“  vom 9.Jahrhundert bis 2010. Von Anfang an waren diese Gebiete  multiethnisch zusammengesetzt. Die erste ostslawische Staatsgründung (eher „Herrschaftsverdichtung“), die „Rus“, die durch  die Achse Nowgorod- Kiew entstand, war ein Produkt der nordischen Varäger, die bald in den Slawen aufgingen (S. 51 ff).

 Die folgenden Jahrhunderte waren mehr als wechselhaft: u.a. Mongolenherrschaft; Zugehörigkeit zu Polen/ Litauen(S. 77ff); relative Autonomie von Kosakenhetmanaten; Einverleibung durch das zaristische  Rußland durch den Vertrag („Schwur“) von  Perejaslaw 1654 (S. 96); Habsburger-Herrschaft in den westlichen Gebieten nach der Teilung Polens Ende des 18. Jahrhundert.

 Die  ukrainische Nationalbewegung erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen beträchtlichen Aufschwung – etwa durch den der bedeutenden Schriftsteller Taras Schewtschenko.

 Das Ende des Ersten Weltkriegs, der Sturz des Zarismus führte zu ständigem Machtwechsel (dieses Hin und Her findet in Bulgakows “ Die Weiße Garde“ einen berühmten literarischen Niederschlag): so mußten  die  Bolschewiki Kiew viermal erobern (S. 178)!

 Schon damals dienten sich rechte ukrainische Nationalisten den Mittelmächten bzw dem -späteren-  polnischen Dikator Pilsudski an. Wie viele nationalistische  Bewegungen in Mittel- und  Osteuropa hatten sie autoritäre, (halb)faschistische  Vorstellungen.

 Die junge ukrainische Sowjetrepublik konnte erste Erfolge erzielen, war politisch  attraktiv(S. 178ff).  Der Sieg des Stalinismus (Zwangskollektivierung, völlig  unrealistisches Akkumulationsmodell, Terror-Herrschaft)  machte  jedoch alles zunichte. Er führte nicht nur zu den obligaten „Säüberungen“ und nationaler Unterdrückung, sondern  auch zu gigantischen Hungerkatastrophen- dem „Holodomor“- , dem Millionen(!) zum Opfer fielen- und der bis zum heutigen Tag das Massenbewußtsein prägt (S. 219ff).

 Auch im Zweiten Weltkrieg schlugen sich viele rechte Nationalisten auf die Seite der Nazis (Bandera etc. ). Nicht wenige UkrainerInnen waren willige (Mit)täter: etwa in der  SS-Freiwilligen-Division „Galizien“ (S.195) oder bei der Ermordung jüdischer MitbürgerInnen (Babij Jar!).

 Der Wiederaufbau des zerstörten Landes stand erneut unter stalinistischem Vorzeichen.  Dabei gab es durchaus widersprüchliche  Entwicklungen: zwischen 1963 und 1972 war Petro  Schelest KP-Vorsitzender. Er setzte eine Reihe „proukrainischer“  Aktivitäten (S. 214ff) kombiniert mit „Härte“ in der Außenpolitik (etwa gegen den „Prager Frühling“).

 Nach dem Tschernobyl-Desaster und dem Enfstehen einer breiten Protestbewegung in der zweiten Hälfte der 1990er- Jahre fegte 2004 die  „orangene Revolution“ das geschwächte Regime hinweg.   Die negativen Erfahrungen  mit dem (Post-) Stalinismus, der von vielen mit dem Sozialismus insgesamt gleichgesetzt wurde, und  eine schwache (undogmatische ) Linke  brachte das Gespann Juschtschenko / Timoschenko (plus Oligarchen) an die Macht. Schon bald brach es aus Unfähigkeit/ Streitereien auseinander.

 2010 folgte Janukowitsch aus der mehrheitlich russisch sprechendenn Ostukraine- mit seiner „Partei der Regionen“(und seinen Oligarchen).  Auch er verschaffte dem Land keinen Aufschwung. Im Gegennteil: Kenner der Lage sprechen von einem „Krieg gegen die Armen“, den seine Regierung führte. Nicht einmal um die Tschernobyl -Opfer kümmerte man sich…

 Alles in allem hatte sich ein gewaltiges  Konfliktpotential angesammelt, das jetzt (2013/14) explodierte,

 Das Buch hat seine Meriten, was die Historie oder die Entwicklung der ukrainischen Sprache betrifft (S. 63ff). Die verschlungenen Wege der ukrainischen Nationsbildung  (S.114 ff.) werden sichtbar, man/ frau begreift den komplexen Charakter der behandelten Probleme- daß jegliches Schwarz-Weiß-Denken inadaequat ist.

 Schwach ist die Autorin auf theoretischem Gebiet: „Dem“ Marxismus wird -in Unkenntnis der realen Sachlage-  vorgeworfen zur nationalen Frage wenig hervorgebracht zu haben (S.179). Lenins Wirken auf diesem Gebiet  wird kaum erwähnt, ebenso die revolutionäre  Nationalitätenpolitik der „ersten Stunde“, die zur Unabhängigkeit  Finnlands und der baltischen Länder führte. Kerstin S. Jobst bezieht sich hingegen  fast nur auf Stalin(ebd).

  Die Etablierung der stalinistischen Bürokratie fungiert bei ihr als bloßer „Elitenaustausch“(S.183)- in Wirklichkeit handelte es sich um eine gänzlich andere Politik- hinsichtlich Wirtschaft,  Demokratie oder Internationalismus. Trotzki schlug etwa in den 30er-Jahren eine unabhaängige Ukrainische Sowjetrepublik vor!

  Auch die (aktuelle) Linke oder die  Gewerkschaften werden kaum behandelt.

  Um sich in den „Komplex“ Ukraine einzuarbeiten, als „starting point“ kann das leichtlesbare und billige Buch aber durchaus empfohlen werden.

                        Hermann Dworczak (0676/ 972 31 10)

 Kerstin S. Jobst Geschichte der Ukraine

Reclam Sachbuch  2010 Stuttgart, 256 Seiten. 7,20 Euro