von Leo Gabriel
Es ist noch gar nicht so lange her, da hatten sich nach der so
genannten „Wende“ in Mittel- und Osteuropa zwei Traumwelten derart
intensiv aneinander geschmiegt, dass man annehmen konnte, sie wären
schon seit jeher ein unzertrennliches Paar gewesen: einerseits war es
der vom Westen projizierte und induzierte Glaube, dass der Osten nach
der Jahrzehnte währenden Umklammerung durch den so genannten
Realsozialismus mit der scheinbaren Öffnung seiner Grenzen mit einem
Mal auch in den Genuss der Segnungen postkapitalistischer
Konsumgesellschaften kommen würde; andererseits gab es die von den
Investoren vorgegaukelte, mehr oder minder bewusste Illusion, dass der
Osten Europas die durch den so genannten Wiederaufbau angehäuften
Schulden niemals wirklich bezahlen müsste. Indem beide Spekulation und
Realwirtschaft miteinander verwechselten, glaubten Gläubiger wie
Schuldner fest daran, dass die Blase des unbegrenzten Wachstums
niemals platzen würde.
Die Wende rollt zurück
Erst hinterher entpuppte sich die „Wende“ für die Mehrzahl der
Bewohner Mittel- und Osteuropas als eine ökonomisch-politische
Rückwärtsrolle und viele sahen ein, dass sie den Teufel mit dem
Beelzebub ausgetrieben hatten. Die, von der Donau bis zum Ural
reichende, andere Hälfte Europas musste erkennen, dass sich in
Wirklichkeit die Machthaber von gestern zu Propheten eines
vermeintlichen „Wirtschaftswunders“ aufgespielt hatten, aber
keineswegs gewillt waren, substantielle Veränderungen in der
demokratiefeindlichen Grundstruktur dieser Gesellschaften zuzulassen
oder gar voranzutreiben.
Heute sind die meisten Regierungen zu willfährigen Instrumenten des
transnationalen Finanzkapitals geworden, das sich nicht geniert, von
der notleidenden Bevölkerung völlig unzumutbare Opfer zu verlangen,
nur um seine Gewinne zu retten. Trotzdem (oder gerade deshalb)
erinnern sich angesichts der Krise Banker und Konzernchefs wieder an
den einst so geächteten Staat und verlangen von ihm, dass er das
System retten solle – um sich selbst zu retten.
Auf diese Weise ist die ehemalige, so genannte „Zweite Welt“ wieder zu
einer Dritten geworden, die heute von der Implosion ihres gesamten
gesellschaftlichen Gefüges permanent bedroht ist. Denn im Unterschied
zum Westen sind in Mittel- und Osteuropa die meisten Sozialleistungen
bereits unmittelbar nach der Wende zu symbolischen Alibileistungen
populistischer Regime verkommen, weshalb man heute dort auch nur
schwer von einem „Sozialabbau“ sprechen kann. Allein die
Arbeitslosenzahlen und die Zahl der Mütter, die sich mit einem
Einkommen von weniger als 100.- Euro begnügen müssen, sprechen Bände!
Widerstand statt Depression
Jedoch im Unterschied zum Süden Europas, der auf ein Jahrhundert
sozialer und gewerkschaftlicher Kämpfe zurückblicken kann, wurden die
Aufstände in der DDR, Ungarn, der Tschechoslowakei etc. derart brutal
erstickt, dass der Glaube an die Eigenständigkeit – geschweige denn
an das Selbstbestimmungsrecht der Völker – einer tiefsitzenden
Depression Platz gemacht hat. Die Angst davor, es könne ja alles nur
noch viel schlimmer werden, hat den Willen zum Widerstand in der
leigeprüften Bevölkerung durch lange Zeit hindurch im Keim erstickt.
Nur in allerletzter Zeit hat die Verzweiflung der Menschen in
Bulgarien, in Polen, in Russland und anderen Ländern Mittel- und
Osteuropas um sich gegriffen und ein politisches Widerstandspotential
zum Vorschein gebracht, das allerdings von der Weltöffentlichkeit kaum
wahrgenommen wird, weshalb der Osten heute nach wie vor ein
Schattendasein führt.
Ziele und Aufgaben des Sozialforums
Es ist das erklärte Ziel dieses „Mittel- und Osteuropäischen
Sozialforums, das vom 2. Bis 5. Mai 2013 auf dem Campus der
Universität Wien veranstaltet wird, etwas Licht in dieses Dunkel zu
bringen. Andererseits ist das Format eines Sozialforums ein
geeignetes Mittel, die grass-roots Organisationen des Ostens sowohl
untereinander als auch mit denen des Westens zu vernetzen; letztere
haben insbesondere in Spanien, Portugal, Italien und vor allem in
Griechenland zu Rebellionen geführt, die das neoliberale System in
seinen Grundfesten hinterfragte.
Nicht von ungefähr ist provokante Titel dieses Sozialforums: REVOLTEN
IN DER PERIPHERIE? , stellt er doch die Frage in den Mittelpunkt,
inwiefern die Bevölkerung jenseits des ehemals eisernen und heute mit
Samt verkleideten Vorhangs, an dem viele Menschen zu ersticken drohen,
in Zukunft der Lage sein wird, ihre historische Schuldknechtschaft
abzuschütteln und – ähnlich wie in den ehemaligen Kolonien Europas –
eine Art „neuen Unabhängigkeit“ zu erlangen.
Diese Frage beinhaltet das in den Mittel- und Osteuropäischen Ländern
besonders umstrittene Verhältnis zur Europäischen Union ebenso wie das
Wiedererstarken eines faschistoiden Nationalismus rechtsextremer
Prägung. Sie spiegelt sich in der buchstäblich grenzenlosen Zerstörung
der natürlichen Ressourcen ebenso wieder wie in den so genannten
Wirtschaftsflüchtlingen, die in den Westen ziehen. Vor allem aber soll
sie auf die Suche nach einer neuen kulturellen Identität führen, in
der den auf mehrfache Weise unterdrückten Frauen eine besondere Rolle
zukommen soll.
Es ist zu hoffen, dass dieses regionale Sozialforum den
TeilnehmerInnen aus Ost und West die Gelegenheit geben wird, durch den
gemeinsamen Austausch das Gefühl der Ohnmacht und Isolation zumindest
teilweise zu überwinden, das die lange Leidensgeschichte Mittel- und
Osteuropas bis heute geprägt hat.
2.-5.5.2013 WIEN (Campus der Universität, Alserstr.). „Revolten an der
Peripherie“ – Zentral- und osteuropäisches Sozial- und Umweltforum –
als Teil des Europäischen Sozialforumsprozesses. (Infos:
www.sozialforum-asf.at )