Seltsame „Querfronten“ tun sich da auf. Sogar vermeintliche „FeministInnen“ hetzen gegen Prostituierte. Auffallend, dass in Krisenzeiten mehrdimensionale Problemkreise mit aller Gewalt auf simple duale Fragestellungen („wir“ gegen „die Anderen“) reduziert werden.
Ausgeblendet wird freilich auch, dass der kapitalistische ArbeitsMARKT auch als eine Form der Prostitution gesehen werden kann und zum Teil sehr autoritäre Formen annimmt (siehe Existenz bedrohendes AMS-Sanktionenregime und innerbetriebliche Diktaturen, Mobbing inklusive).
Siehe auch:
http://www.lefoe.at/tl_files/lefoe/Stellungnahme_Petition_7%20Mai2013.pdf
Stellungnahme von Doña Carmen e.V. zur SPIEGEL-Titelgeschichte „Bordell Deutschland“
Niederer interessegeleiteter Lumpenjournalismus:
SPIEGEL verschärft Medienhetze gegen die Legalisierung von Prostitution
Unter dem Titel „Bordell Deutschland“ stellt der SPIEGEL in seiner Ausgabe 22 / 2013 die Legalisierung von Prostitution grundsätzlich in Frage. Der SPIEGEL polemisiert gegen die „Gleichgültigkeit der Bundesregierung, die sich gegen ein neues Prostitutionsgesetz wehrt – während andere Länder in Europa bereits ihre Gesetze verschärfen.“ (S.3) Damit stellt sich der SPIEGEL zusammen mit der Springer-Presse in die breite Front medialer Anti-Prostitutions-Hetze, wie wir sie gegenwärtig erleben.
Der SPIEGEL plädiert für eine Verschärfung der deutschen Gesetze und lässt fünf Lohnschreiberlinge eine unsägliche Anti-Prostitutions-Story abliefern – basierend
auf einer Mischung von Vorurteilen, selektiver Wahrnehmung, Kolportage von Halbwahrheiten und Uninformiertheit – das Ganze gewürzt mit einer starken Portion Abneigung gegen Prostitution und gegen Politiker, die für deren Legalisierung eintreten bzw. eingetreten sind.
Doña Carmen e.V. tritt für die vollständige Legalisierung von Prostitution ein und wendet sich mit diesem kritischen Beitrag gegen die Anti-Prostitutions-Hetze, die von skrupellosen Journalisten wieder salonfähig geschrieben wird.
Der SPIEGEL bedient rassistische Vorurteile
Für ihren Artikel reicht den SPIEGEL-Journalisten der Bezug zu ganzen 5 Sexarbeiterinnen: drei osteuropäische Prostituierte, eine drogenabhängige deutsche Straßenprostituierte und eine politisch aktive deutsche Escort-Sexarbeiterin reichen aus, um sich ein Gesamtbild der Lage zu machen. Der Rest ist aus zweiter und dritter Hand. Vom Einzelfall wird dann – schwuppdiwupp – auf das Ganze geschlossen („Alinas Geschichte ist in Deutschland nicht ungewöhnlich.“ (S. 57))
Unverkennbar bedienen die SPIEGEL-Autoren das rassistische Vorurteil, dass insbesondere die osteuropäischen Prostitutionsmigrantinnen dumm und dämlich sind.
Osteuropäische Frauen (in einem Berliner Flatrate-Bordell) machten widerspruchslos alle Sexualpraktiken mit und durften nichts ablehnen (S. 57). (In den Gerichtsprotokollen zu den Flatrate-Prozessen, die den Autoren offenbar nicht vorlagen, liest sich das anders, weshalb die damaligen Betreiber/innen ‚nur‘ wegen Sozialversicherungsbetrug verurteilt werden konnten.). Beschränkt wie sie sind, sind osteuropäische Prostituierte natürlich für alle Einflüsterungen zu haben: „Die Zuhälter sagen den Mädchen genau, welche Geschichte sie den Polizisten erzählen sollen.“ (S. 57) Und osteuropäische Frauen sind notorische Lügnerinnen: „Wohl jeder Beamte, der im Rotlichtmilieu arbeitet, bekommt dieses Lügengespinst wieder und wieder erzählt…“.
Wenn diese Frauen sich entschließen, nach Deutschland zu kommen, so nur, weil sie verträumt sind wie kleine Mädchen: „Irgendwann, so träumten sie alle, werde der Mann kommen, der sie aus ihrem grauen Alltag erlöst.“ (S. 59) Es ist kein Kraut dagegen gewachsen, dass die Frauen „sich nach Deutschland locken lassen“. (S. 61) Sie sind dumme Verführte, die ihre Situation weder überschauen, noch beurteilen können: „Sie ahnen aber oft nicht, wie schlimm es werden kann und dass ihnen von dem Geld kaum etwas bleibt.“ (S. 61). Ein drastisches Beispiel soll das unterstreichen: Eine Frau wurde erst vergewaltigt und: „Dann wusste sie, was sie zu tun hatte.“ (S. 61).
Die Rede von Konkurrentinnen über die angebliche Unbedarftheit osteuropäischer Frauen in der Prostitution werden vom SPIEGEL gerne kolportiert und natürlich für bare Münze genommen, um das Bild der dummen Osteuropäer abzurunden: „Bulgarinnen und Rumäninnen nähmen bisweilen auch weniger als zehn Euro. ‚Es gibt hier eine, die macht es sogar für einen Big Mac.“ Nichts ist den SPIEGEL-Autoren zu doof, um es nicht niederzuschreiben – wenn es denn ins Schema passt.
Osteuropäische Frauen in der Prostitution lernen auch nichts daraus, dass sie angeblich nichts verdienen: „Aber sie kehrte zurück, schaffte wieder an.“ (S. 59). Christlich motivierte Rettungsphantasien werden auf die Frauen projiziert und als deren ureigenster Wunsch ausgegeben: „Sie hoffte, ein Freier würde sich in sie verlieben und sie retten“ (S. 59)
Die blutverschmierte Prostituierte, der man mit einem Messer ins Gesicht gestochen hat, geht in ein Krankenhaus, wo natürlich kein Arzt nach der Ursache der Verletzung fragte. Der Verletzten gelang angeblich von dort mit Hilfe eines Freiers die „Flucht“ nach Rumänien.
Derartige Räuberpistolen dienen dem Zweck, Prostitutionsmigrantinnen als grundsätzlich hilf- und wehrlose Frauen, als dumme Opfer ihrer Selbsttäuschung bzw. der kriminellen Begleitumstände der Prostitutionsausübung hinzustellen.
Der Mythos von den gänzlich ungeschützten Sexarbeiterinnen
Sie sind – wie der Titel der SPIEGEL-Geschichte lautet – angeblich „ungeschützt“. Über diese Schiene werden ausländische Prostituierte wieder mal missbraucht, um das Prostitutionsgewerbe als kriminell, bestenfalls als völlig dereguliert erscheinen zu lassen. Um das zu ändern, muss das Prostitutionsgesetz, muss die Legalisierung von Prostitution endlich weg – so die repressive Logik der SPIEGEL-Autoren
Ihre Position beruht jedoch auf falschen Annahmen, was hier nur an wenigen ausgewählten Punkten dargelegt werden kann.
Es darf daran erinnert werden, dass Prostitution – Legalisierung hin, Legalisierung her – nirgends so viel Polizei- und Staats-Schutz genießt wie in Deutschland.
Insbesondere im Strafrecht haben wir ein ausgeprägtes Sonder-Schutzrecht, was noch aus Zeiten der Diskriminierung von Prostitution stammt. Prostitution ist Objekt eines ganzen Netzes von Schutzbestimmungen: Geschützt wird die Allgemeinheit, der „öffentlichen Anstand“ (Art. 297 EGStGB), Gemeinden unter 50.000 Einwohner, Kinder, Jugendliche und Kirchen, sowie nicht zuletzt die Prostituierten selbst (insbesondere erwachsene, zwischen 18 und unter 21-Jährige, § 232 StGB) vor Zuhältern (§ 181a StGB), Menschenhändlern (§ 232 StGB) sowie vor Beeinflussungen unterhalb der Nötigungsgrenze und natürlich vor sich selbst.
Der konservativer Schutz-Diskurs soll im wesentlichen zwei Vorurteile befestigen: 1) die Prostituierte ist ein von Berufs wegen hilfloses und somit schutzwürdiges Opfer und 2) Prostitution findet stets nur unter „kriminellen Begleiterscheinungen“ statt, weshalb sie geschützt werden muss, zumal die „hilflosen“ Prostituierten zum Selbstschutz außerstande sind.
Aufoktroierter Zwangsschutz soll gegen die Rechte der Betroffenen ausgespielt werden – das ist die Logik des SPIEGEL-Artikels.
Nur stimmen die Voraussetzungen der Argumentation hinten und vorne nicht.
Keine Kontrolle? Alles OK?
So wird vom SPIEGEL behauptet: „Deutsche Ermittler im Rotlichtmilieu klagen, sie hätten kaum noch Möglichkeiten, überhaupt in die Bordelle hineinzugehen.“ Deutschland sei deshalb „zu einem „Zentrum der sexuellen Ausbeutung junger Frauen aus dem Osten Europas und zu einem Aktionsfeld mafiöser Gruppierungen aus aller Welt geworden“, heißt es mit Bezug auf den pensionierten Kriminalhauptkommissar Manfred Paulus (S. 60). Daraus folgt für die SPIEGEL-Autoren: „Die Polizei kann Frauen wie Alina kaum helfen.“ (S. 57)
Das ist grober Unfug.
Die Razzien- und Kontrolldichte ist im bundesdeutschen Prostitutionsgewerbe so hoch wie in keinem anderen Wirtschaftszweig. Ausweislich der seit über zehn Jahren von Dona Carmen geführten Razzien-Statistik (vgl. www.donacarmen.de) wurden allein in den Jahren 2000 bis 2009 im Zuge von 223 Großrazzien im bundesdeutschen Prostitutionsgewerbe in etwa 410 Städten und Gemeinden rund 4.000 Prostitutionsstätten und damit etwa 20.000 Frauen kontrolliert. Dabei wurden allein mehr als 42.000 Beamte eingesetzt. Damit nicht genug. Nach Modellrechnungen, die auf Aussagen der Polizei beruhen, werden jedes Jahr bundesweit rund 11.500 Routine-Kontrollen von Prostitutionsstätten vorgenommen und dabei etwa 44.000 Frauen kontrolliert. Binnen fünf Jahren hätte man somit sämtliche rund 200.000 Frauen des Prostitutionsgewerbes polizeilich kontrolliert. Eine Leistung, die jedem Polizeistaat zur Ehre gereichen würde.
Die SPIEGEL-Autoren versuchen, mit Verweis auf Manfred Paulus einen Zusammenhang von „Organisierter Kriminalität“ und Prostitutionsgewerbe der legalisierten Prostitution bzw. dem Prostitutionsgesetz anlasten zu können.
Dumm ist nur: Wer die Pamphlete des Herrn Paulus kennt (vgl. Manfred Paulus, Frauenhandel und Zwangsprostitution, Verlag Deutsche Polizeiliteratur, 2003), der weiß, dass besagte These schon immer das Steckenpferd von Paulus war und er diesen Zusammenhang seinerzeit dem Prostitutionsgewerbe als solchen glaubte anlasten zu können. Heute muss das Prostitutionsgesetz als Sündenbock für diesen konstruierten Zusammenhang herhalten.
Sachlich besteht im Übrigen für die Annahme, im Prostitutionsgewerbe herrsche organisierte Kriminalität, kein wissenschaftlich tragfähiger Beleg. Dummerweise hat ausgerechnet eine Studie des BKA (Eric Minthe, Anette Herz, „Straftatbestand Menschenhandel – Verfahrenszahlen und Determinanten der Strafverfolgung“, 2006) das genaue Gegenteil belegt (was im SPIEGEL-Artikel natürlich unterschlagen wird):
Minthe analysierte 49 Menschenhandels-Verfahren. Dabei wurden im polizeilichen Ermittlungsbericht lediglich 5 Verfahren (12,2%) ausdrücklich als „OK“ bewertet. Auf der Ebene der Anklage wurde jedoch nur noch in einem Fall an dieser Bewertung festgehalten. „In keinem Urteil konnte hingegen eine Bewertung als OK festgestellt werden.“ (S. 110)
Noch deutlicher lagen die Dinge bei den 91 von Anette Herz analysierten Strafverfahren. Lediglich in einem Verfahren erfolgte eine Bewertung als OK (1%). „Auf staatsanwaltschaftlicher und richterlicher Ebene gab es indes keine einzige entsprechende Einstufung.“ (S. 213)
Mit diesem Resultat offenbar unzufrieden, wandten sich beide Autoren anderen Merkmalen wie der „Gruppenstruktur der Täter“ bzw. „hierarchischer Aufbau“ der Gruppe zu, die nun als Indikatoren für OK gelten sollen. Doch Herz/Minthe fanden nur in 4 der von ihnen analysierten 140 Verfahren, mithin in weniger als 3 % der Fälle Strukturen, die gemeinhin mit ‚Menschenhandel‘ in Verbindung gebracht werden: eine hierarchisch organisierte, nach außen abgeschottete und zentral gesteuert handelnde Gruppe. In 97 % der analysierten Fälle ist dies nicht der Fall.
Man kann daher die OK-Phantasien eines Herrn Paulus, die der SPIEGEL bemüht, ruhig ad acta legen.
Hilf- und wehrlose Prostitutionsmigrantinnen?
Der SPIEGEL behauptet weiter, dass bei den Frauen in der Prostitution, ‚insbesondere bei mutmaßlichen Opfern aus Rumänien und Bulgarien, wenig Bereitschaft (bestehe), mit der Polizei und den Beratungsstellen zu kooperieren“. Und wenn die Frauen doch einmal wagten, etwas zu sagen, würden die Aussagen oftmals zurückgezogen.“ (S. 61)
Der vom SPIEGEL erweckte Eindruck, die Frauen würden durch Druck seitens Zuhälter und Bordellbetreibern an Aussagen gegenüber möglichen Peinigern gehindert, ist ebenfalls ein Mythos und darf als bereits widerlegt gelten.
Sowohl die 2005 vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht herausgegebene Studie „Menschenhandel“ von Annette Herz, als auch die von ihr und Minthe 2006 herausgegebene Studie „Straftatbestand Menschenhandel“ ergaben, dass in der einen Studie 38 %, in der anderen Studie 43 % der jeweils untersuchten Menschenhandels-Verfahren von den Opfern selbst angezeigt wurden. 68% der Menschenhandels-Anzeigen stammten von den Frauen und ihrem Umfeld.
Nur 2 % gingen auf Razzien der Polizei zurück. Das seinerzeit als „überraschend“ empfundene Ergebnis stellte die allgemein unterstellte Annahme einer mangelnden Anzeigebereitschaft von Menschenhandels-Opfern komplett in Frage. Die SPIEGEL-Autoren übergehen solche Ergebnisse – ob aus Uninformiertheit oder politischer Absicht sei dahingestellt. Gleichwohl verdeutlichen ihre weitreichenden, in der Regel nur auf Behauptungen basierenden Schlussfolgerungen, dass sie von einem niederen, interessegeleiteten Lumpenjournalismus verpflichtet sind.
Mehr Menschenhandel durch Legalisierung von Prostitution?
Einen weiteren Beleg für den miesen Gesinnungs-Journalismus ist die Bezugnahme auf eine Pfusch-Studie von Prof. Axel Dreher, der laut SPIEGEL-Autoren „einen Trend feststellen (konnte): Wo Prostitution legal ist, gibt es mehr Menschenhandel als anderswo.“ (S. 61) Die SPIEGEL-Autoren räumen zwar ein: „Seine Daten waren ungenau“, verschweigen aber, dass sie nicht nur „ungenau“ waren, sondern vor allem aus dubiosen Quellen stammten und zudem veraltet waren und das von Dreher behauptete Ergebnis nie und nimmer hergaben:
„Festzustellen bleibt: Weder auf dem Wege einer statistischen Aufbereitung der globalen UNODC-Daten, noch im Rahmen ihrer Fallstudien zu Schweden, Dänemark und Deutschland gelingt den Verfasser/innen der „EU-Studie“ der von ihnen reklamierte Nachweis, dass eine Legalisierung von Prostitution mehr Menschenhandel zur Folge habe“, lautete das Fazit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Studie, die die SPIEGEL-Autoren natürlich ebenso unterschlugen. (vgl. Gerhard Walentowitz / Juanita Henning, 10 Jahre Prostitutionsgesetz: Mehr Menschenhandel durch Legalisierung von Prostitution? – Ein aktuelles Lehrstück über den Umgang von Wissenschaft und Medien mit dem Thema ‚Menschenhandel‘“ in: „Kritische Justiz“, 4/2012)
Entmündigung von Sexarbeiterinnen?
Um ihre Anti-Prostitutions-Thesen halbwegs den Anstrich von Seriosität zu verleihen, beziehen sich die SPIEGEL-Autoren auf die Jura-Professorin Rahel Gugel. „Es ist politisch korrekt in Deutschland, die Entscheidungen der einzelnen
Frauen zu respektieren“, sagt Juristin Gugel. „Aber wenn man Frauen schützen will, ist das nicht die richtige Grundlage.“ (s. 63) Hier wird in geradezu klassisch-repressiver Weise „Schutz“ gegen „Rechte“ ausgespielt.
Frauen in der Prostitution sollen – wie in alten Zeiten – wieder entmündigt und ihrer Entscheidungsfähigkeit enteignet werden. Das hatten wir jahrhundertelang – dahin wollen erklärte Prostitutionsgegnerinnen wie Rahel Gugel wieder zurück.
Die von Gugel vertretenen Ansichten (vgl. Rahel Gugel, Das Spannungsverhältnis zwischen Prostitutionsgesetz und Art. 3 II Grundgesetz“, 2011) sind folgenden Leitlinien verpflichtet:
1. Abkehr von der Gewährung von Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung für Prostituierte – stattdessen prinzipielles In-Abrede-Stellen von Freiwilligkeit bei Frauen in der Prostitution;
2. Abkehr von einer Politik der Gewährung von Rechten für Frauen in der Prostitution – stattdessen „schützende“ staatliche Kontrollrechte gegenüber diesen Frauen;
3. Abkehr von einer Politik der Gleichstellung von Prostitution mit anderen Erwerbstätigkeiten – stattdessen die als Anti-Diskriminierungspolitik verkaufte Abschaffung von Prostitution im Namen einer Gleichstellung der Geschlechter.
Denkt man Gugels Analyse des ProstG konsequent zu Ende, so steht sie für eine ‚totalitäre Wende‘ im Umgang mit Prostitution. Die Entscheidung der einzelnen Frau soll nichts mehr gelten, die Entscheidung staatlicher Instanzen hingegen alles. Das gefällt den SPIEGEL-Autoren.
Dass der Einzelne selbst bestimmt, was seine Würde ausmacht, und dass eine Entscheidung ohne äußerlichen Zwang als Ausdruck freier Selbstverantwortung zu werten ist – das geht Gugel – und offenbar auch den SPIEGEL-Autoren denn doch entschieden zu weit. Eine solche Akzeptanz freiwilliger Entscheidungen missfällt Gugel, da nach ihrer Meinung in der sozialen Lebenswirklichkeit der Prostitution Freiwilligkeit ohnehin „nicht ohne weiteres angenommen werden kann“ (S. 126). Dort gäbe es lediglich eine „hoch defizitäre Freiwilligkeit“ (S. 112), mithin könne man auf die Unterscheidung „freiwillig /Zwang“ im Bereich der Prostitution auch gleich verzichten. Schweden mache es vor: „Eine Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Prostitution ist deshalb irrelevant.“ (S. 224)
Die Anrufung von „Vater Staat“, dem wieder das Recht eingeräumt werden soll, die von Frauen getroffene Entscheidung für eine Arbeit in der Prostitution rechtlich zu sanktionieren und zu unterbinden, hat mit Feminismus und Emanzipation im ursprünglichen Sinne nicht das Geringste gemein. Was Gugel predigt, ist ein zeitgemäßer Untertanen-Feminismus, bei dem Frauen gegen Frauen (in der Prostitution) vorgehen. Diese werden von den eigenen Geschlechtsgenossinnen mehrheitlich für unzurechnungsfähig erklärt (S. 69), um ihre Entrechtung und stigmatisierende Sonderbehandlung durch den Staat zu legitimieren.
Was die SPIEGEL-Autoren allerdings dabei verschweigen, ist die Tatsache, dass Gugel einräumen musste, dass die in der Prostitution vorfindlichen Abhängigkeitsverhältnisse unterhalb der strafrechtlich relevanten Nachweisgrenze liegen: „Die Lebenswirklichkeit von Prostituierten zeigt, dass die Mehrzahl der Frauen in der Prostitution nicht im strafrechtlich fassbaren Sinn in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten werden, sie also strafrechtlich nicht „unfreiwillig“ in der Prostitution tätig sind.“ (S. 110) Es ist eben keine juristische Problematik, um deren Lösung es geht. Sondern es geht um die Durchsetzung weltanschaulicher Positionen von Prostitutions-Gegnern. Schließlich hat Frau Gugel ihre wenigen praktisch erworbenen Einsichten Erfahrungen bei der katholischen Nonnen-Truppe Solwodi gesammelt.
Wird Deutschland von Prostitutionsmigrantinnen überschwemmt?
Der SPIEGEL braucht solche Prostitutionsgegner/innen, um Stimmung zu machen gegen Sexarbeiter/innen, um deren Rechte im Namen des Schutzes auszuhebeln.
Dahinter verbirgt sich die Angst bzw. das Schüren der Angst, Deutschland werde von Prostituierten geradezu „überschwemmt“. An dieser kalkulierten Dramatisierung beteiligt sich der SPIEGEL – mangels überzeugender Argumente.
Vom „größten Prostitutionsmarkt der EU“ (S. 58) ist die Rede. Aber was heißt das eigentlich? Jeder, der vom SPIEGEL gefragt wird, darf diesbezüglich mal seine Meinung zum Besten geben. So etwa die Nürnberger Gesundheitsamtsmitarbeiterin Andrea Weppert, die seit mehr als 20 Jahren Beratungsarbeit mit Sexarbeiterinnen behauptet: „Die Gesamtzahl der Prostituierten habe sich während dieser Zeit verdreifacht“. (S. 58)
Die SPIEGEL-Autoren tun so, als sei das eine erfahrungsgesättigte, mithin glaubwürdige Annahme zur Entwicklung in ganz Deutschland. Fakt ist aber, dass Weppert nur von einer Registrierungspraxis im Nürnberger Gesundheitsamt (unzulässiger weise) auf die Situation in ganz Deutschland schloss:
Andrea Weppert schrieb 2009: „Die Anzahl der Prostituierten und der Bordellbetriebe hat sich in den letzten 20 Jahren mindestens verdoppelt, möglicherweise sogar mehr als verdreifacht. In Nürnberg waren im Jahr 1987 433 Prostituierte beim Gesundheitsamt registriert, im Jahr 1997 waren es 680, im Jahr 2000 bereits 861. Aktuell wird die Anzahl der Arbeitsplätze in Nürnberg auf etwa 1000 geschätzt (von der Polizei wie auch von der Prostituiertenberatungsstelle Kassandra e.V. und dem Gesundheitsamt). Aufgrund der hohen Fluktuation und der inzwischen branchenüblichen enormen Mobilität können im Laufe eines Jahres durchaus auch mehrere Tausend verschiedene Prostituierte vorübergehend in der Stadt arbeiten. Weniger als die Hälfte der Prostituierten sind noch ortsansässig… Nürnberg hat nach wie vor 500.000 Einwohner, der ‚zu verteilende Kuchen‘ ist also nicht proportional mitgewachsen. Die Zunahme von Prostituierten in Nürnberg ist mit der bundesweiten Situation vergleichbar…. Die Konkurrenz – und damit der Druck auf das Preis-Leistungsverhältnis – ist massiv gestiegen.“ (zit. nach Weppert, in: Kavemann/Rabe, Das Prostitutionsgesetz, 2009, S. 261/62 )
Mit solchen luftigen Freistil-Schätzungen wird das Klima der Hatz gegen zu viele Prostituierte hierzulande, das Klima der Hetze gegen ausländische Prostituierte befeuert. Holger Rettig vom UEGD darf den „rasant verstärkten“ Zuzug von Frauen aus Rumänien und Bulgarien für den „Preisverfall“ im Prostitutionsgewerbe verantwortlich machen. Dass dieser „Preisverfall“ unter Umständen auch durch mangelnde Nachfrage aufgrund der wirtschaftlicher Krise hierzulande bedingt sein könnte, kommt ihm gar nicht erst in den Sinn. Aber in Zeiten, wo selbst der Deutsche Städtetag mit höchst problematischen Thesen gegen den Zuzug von Roma-Frauen und Migrantinnen aus Rumänien und Bulgarien hetzt, mögen manche nicht mehr abseits stehen und mischen gerne mit.
Der SPIEGEL zeichnet dann ein dramatisches Bild: „In Berlin sollen es 500 Bordelle sein, im überschaubaren Osnabrück sind es schätzungsweise 70, im kleinen Saarland 270.“ (S. 58). 500 „Bordelle“ zählte zuletzt das LKA Berlin 1992 (Quelle: Leopold, Steffan, Paul, S. 91), heute dürften es weniger sein, laut Gesundheitsamt Berlin sind es nun 400 „Bordelle“ (Quelle: Untersuchung „Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes“, 2007, zit. nach: http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/prostiututionsgesetz-/0304.html
Dass man es im 165.000 Einwohner zählenden Osnabrück mit „70 Bordellen“ zu tun haben soll, während es in Frankfurt/Main mit knapp 700.000 Einwohnern unter 30 sind, ist ebenfalls ein Highlight der SPIEGEL-Recherche.
Erst kürzlich nannte Wolfgang Cordes. Leiter der Projektgruppe Milieu, für Osnabrück ganz andere Zahlen: 35 Wohnungen mit 120 Frauen, dazu noch 50 weiter Frauen in einem Laufhaus, einem Flatrate-Bordell und 6 Barbetrieben (Neue OZ online, 28.09.2012). Die Polizei schätzt max. 220 Sexarbeiterinnen in Osnabrück, was 1,3 Sexarbeiterinnen pro 1.000 Einwohner sind.
Im Saarland liegt diese Quote nach Polizeiangaben bei 1,7 (ca. 1.700 Frauen auf 1.010.000 Einwohner). In Großstädten liegt dieser Faktor nach Berechnungen von Doña Carmen in der Regel bei 2,0. Dieser Faktor lag Mitte der 90er Jahre bei etwa 1,7. Dahinter verbirgt sich eine Steigerung der absoluten Zahl der Prostituierten in Deutschland von rund 140.000 auf 165.000 binnen 10 – 15 Jahren. Selbst wenn man dazu noch einmal 20.000 osteuropäische Prostituierte in den letzten fünf Jahren hinzurechnen möchte, bleibt man weit unter 200.000 Frauen.
Die Rede von einer Verdopplung und Verdreifachung der Zahl der bundesdeutschen Prostituierten erweist sich vor diesem Hintergrund als unverantwortliches Gerede, bestenfalls dazu geeignet, Bedrohungsszenarien an die Wand zu malen und den Staat zu reglementierendem Eingreifen zu veranlassen.
Fazit
Der SPIEGEL zielt mit seiner neuen Titelgeschichte auf eine Verschärfung der auf Prostitution bezogenen Gesetze. Das heißt Verschärfung der Strafgesetze und tendenzielle Rückabwicklung der Legalisierung von Prostitution. Insbesondere Bündnis 90 / Die Grünen, aber auch Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sollen damit weichgeklopft werden.
Der SPIEGEL-Artikel repräsentiert einen erneuten Versuch von Stimmungsmache gegen das Prostitutionsgewerbe und gegen Prostitutionsmigrantinnen. Der Artikel beruht bei Licht betrachtet auf untauglichen Annahmen und Behauptungen, um den Weg zu bereiten für eine Politik der Konzessionierung als ersten Schritt hin zu einer Abschaffung der Legalisierung.
Es ist schäbigster Gesinnungs-Journalismus der niedersten Art, der auf dem Rücken einer nach wie vor rechtlich diskriminierten Berufsgruppe, die Stichworte liefert für eine repressive Politik der Entrechtung, wenn nicht für ein Verbot von Prostitution. Solchen Journalismus braucht – außer erklärten Prostitutionsgegnern – kein Mensch.
Doña Carmen wird solchen Versuchen der Stimmungsmache auch weiterhin entgegentreten und die Gründung einer Sexworker-Organisation für ganz Deutschland unterstützen. Die SPIEGEL-Journalisten haben mit ihrem Artikel nur eindrücklich aufs Neue belegt, wie wichtig eine eigenständige Organisation von Sexarbeiter/innen ist.
Frankfurt, 26.05.2013
—
DONA CARMEN E.V.
Elbestr. 41
60329 Frankfurt/Main
Tel: 069-76752880
Fax: 069-76750882
SPENDENKONTO
Dona Carmen e.V.
Frankfurter Sparkasse
Konto: 466 166
BLZ: 500 502 01