Rainer Thomann: Rede Netzwerk Arbeitskämpfe am Officina-Fest, 9. März 2013

Liebe Arbeiter der Officina! Liebe Genossinnen und Genossen!

 

 Wir sind gekommen, um Euch zu danken. Vorerst einmal für die Einladung zu Eurem Fest, aber auch und vor allem dafür , dass ihr vor fünf Jahren den Mut gehabt habt, Nein zu sagen. Ohne dieses entschlossene und kollek­tive Nein gäbe es heute die Officina von Bellinzona nicht mehr. Eure Entschlossenheit, das Schicksal in die eige­nen Hände zu nehmen, ohne irgendetwas an andere zu delegieren, hat Euch erlaubt, weiterhin in Würde von Eurer eigenen Arbeit zu leben, ohne in die Fallen von Verhandlungen und Kompromissen zu tappen, von Produk­tions­verlagerungen, von Sozialplänen und staatlichen Almosen, von Erniedrigungen für jene, die Arbeit suchen und keine mehr finden.

 Eurer Ruf “Hände weg von der Officina!” ist zum Schlachtruf für viele andere Arbeitende geworden. Angefangen mit jenen der INNSE Mailand, die 15 Monate lang Widerstand geleistet haben gegen den Versuch des Eigen­tümers die Fabrik zu schliessen, um Geld zu machen mit dem Maschinenpark und dem Grundstück, auf dem die INNSE steht. Euer entschlossenes Nein zu den Plänen von Unternehmern und Managern war auch der Anlass zur Grün­dung unseres solidarischen Netzwerks, mit dem wir versuchen, die Kämpfe der ArbeiterInnen verschiedener Fabriken miteinander zu verbinden.

 Vor drei Jahren sind wir mit Arbeiterinnen und Arbeitern aus Serbien an Euer Fest gekommen. Erinnert Ihr Euch an Zoran Bulatovic, den Arbeiter mit dem abgetrennten Kleinfinger? Heute lebt er in Norwegen, wo er politisches Asyl beantragt hat. Nach mehreren Drohungen und auch körperlichen Angriffen auf seine Person fürchtete er um das Leben und die Gesundheit seiner Familie. Gegenüber ArbeiterInnen, die entschlossen ihre Rechte verteidigen, hatten die Fabrikbesitzer noch nie irgendwelche Skrupel, wenn es um ihre Privilegien ging! Und der Staat, der vorgibt, die Menschenrechte und das gleiche Recht für alle zu schützen, beschützt in Wirklichkeit nur das Eigentum jener, die von der Arbeit anderer leben, während alle übrigen, die nur solange leben, als sie Arbeit finden, ihrem Schicksal überlassen werden.

 Wenn ein Unternehmer seine Arbeiter lieber entlässt als sie weiter auszubeuten, gibt er stets eine mangelnde Ren­dite als Begründung an. Oft jedoch ist der wahre Grund ein ganz anderer, vor allem bei einer tra­di­tions­reichen Fabrik mit einem grossen Grundstück, das den Appetit der Immobilienspekulanten geweckt hat. So war es bei der INNSE, so war es bei der Kartonfabrik Deisswil und – wie man jetzt sieht – ist es dasselbe auch bei der Officina Bellinzona! Vor fünf Jahren, mit dem Streik und der öffentlichen Meinung auf der Seite der Officina, blieb den Profitgeiern nichts anderes übrig, als ihre wahren Pläne zu verschweigen. Insgeheim haben sie jedoch ihr Projekt AREA weiter vorangetrieben, mit dem sie – in ihrer Sprache – „interessante städtebauliche Entwicklungen“ ver­folgen möchten, was im Klartext bedeutet: Luxuswohnungen, Läden und ähnliche Einrichtungen zu bauen. Obwohl diesmal statt von Schliessung der Officina nur von „Verlagerung“ die Rede ist, so ist die Botschaft völlig klar. Denn „verlagern“ bedeutet in Wirklichkeit „demontieren“!

 Das Projekt AREA ist ein Frontalangriff. Nicht nur auf die Arbeiter der Officina und ihre Familien, sondern auf die gesamte Arbeiterklasse! Die Officina Bellinzona ist inzwischen ein Symbol des Arbeiterwiderstands gegen Fabrik­schliessungen. Der Kampf muss wieder aufgenommen werden! Und zwar mit der gleichen Entschlossenheit wie vor fünf Jahren! Mit unseren bescheidenen Mitteln werden wir die Solidarität nördlich der Alpen organisieren, in der Deutschschweiz und auch in Deutschland. Aber der Kampf muss hier beginnen, in der „Pittureria“! Die Arbeiter sind nicht deshalb stark, weil die öffentliche Meinung auf ihrer Seite steht. Vielmehr steht die öffentliche Meinung auf der Seite der Arbeiter, wenn diese zuvor ihre eigene Stärke gezeigt und selbstermächtigt gehandelt haben. Das haben wir vor fünf Jahren in Bellinzona gesehen, das hat sich ebenso bei der INNSE Mailand gezeigt – und auch in vielen andern Fällen, wo die Kämpfe leider verlorengegangen sind, weil die ArbeiterInnen sich auf die Politik und die öffentliche Meinung verlassen haben statt selbst den Kampf zu organisieren.

 Vor fünf Jahren erklärte SBB-Meyer den Streik für illegal. Als dann in Bellinzona über zehntausend Menschen auf die Strasse gingen, redete niemand mehr von einem „illegalen Streik“! Das Beispiel zeigt, dass die Legalität nichts anderes ist als das Kräfteverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Wenn die ArbeiterInnen vor der bür­ger­lichen Legalität zurückweichen, erlauben sie dem Klassenfeind, die Spielregeln zu diktieren. Die Volks­ini­tiative „Für einen Industriepool“ wurde von über 15’000 Personen unterzeichnet. Fünf Jahre später hat noch im­mer keine Volksabstimmung stattgefunden – und wird es auch in Zukunft nicht, wenn nicht vorher Ihr Arbeiter der Officina erneut Eure Stärke zeigt und mit der gleichen Entschlossenheit wie vor fünf Jahren den Kampf wieder aufnehmt! Hände weg von den Fabriken! HÄNDE WEG VON DER OFFICINA!